1.2
Das Internet und die Soziologie

Wie bereits angesprochen, zeichnen sich für die wissenschaftliche Untersuchung des Internets viele verschiedene Disziplinen verantwortlich. Die Wirtschaftswissenschaften interessieren sich etwa für virales Marketing, die Politikwissenschaften für LiquidFeedback und die Pädagogik interessiert sich für E-Learning. Je mehr unterschiedliche Inhalte über das Web kommuniziert werden, desto länger wird die Liste der relevanten Wissenschaften. Das Internet stellt aber auch ein Thema für die Soziologie dar. Dabei können einerseits bestimmte Phänomene aus der Perspektive soziologischer Teildisziplinen betrachtet werden, andererseits kann das Internet in seiner Gesamtheit und damit in seinem Verhältnis zur Gesellschaft fokussiert werden. Für die erste Möglichkeit findet sich inzwischen eine nennenswerte Anzahl von Ansätzen. So fragt beispielsweise die Ungleichheitsforschung nach dem Digital Divide als neue Ungleichheitsdimension, die Raumsoziologie nach der Erweiterung der Lebenswelt in den Cyberspace, die Arbeitssoziologie nach neuen Möglichkeiten der Telearbeit oder die Migrationssoziologie nach den Integrationspotenzialen des Internets. Für die zweite Möglichkeit, die eine genuine Internetsoziologie zum Ziel haben muss, lassen sich bisher deutlich weniger Ansätze finden. So trifft die von Dringenberg (2002: 98) formulierte Kritik auch nach zehn Jahren noch zu: »Es gibt nach meiner Auffassung keinen einzelnen wissenschaftlichen Standort, der aufgrund seiner Systematik, Methodik und seines Geltungsbereichs den Anspruch erheben könnte, das komplexe Phänomen Internet umfassend zu analysieren. Ebenso ist es der Soziologie bislang nicht vergönnt, einen eigenen Gegenstandsbereich begründet zu haben, der sich ›Soziologie des Internets‹ nennen dürfte«. Aus diesem Grund fehlen bis heute eine Gegenstandsdefinition und eine dezidierte Forschungsagenda.

Zwei Teilbereiche der Soziologie sind hingegen besonders geeignet, das Internet als Gesamtphänomen zu analysieren. Es handelt sich um die Medien- und um die Techniksoziologie. Letztere beschäftigt sich unter anderem mit den sozialen Auswirkungen von Technologien und in jüngerer Vergangenheit speziell von Computertechnik. In diesem Zusammenhang sind dann vernetzte Rechner und damit das Internet von Interesse. Betrachtet werden sowohl die Genese, die Entwicklung und die Folgen der mikroprozessorbasierten Technologien als auch deren soziale Konstruktion. In Bezug auf das Internet kann aus techniksoziologischer Perspektive gefragt werden, wie es entstanden ist und welche Architekturprinzipien ihm zugrunde liegen, auf welche Weise die einzelnen Internetendgeräte (Laptops, Handys oder Tablets beispielsweise) genutzt werden und an welchen »Stellen« das Internet in den Alltag integriert ist. Während die ersten beiden Fragen stärker auf das Internet an sich abzielen, beziehen sich die letzten beiden auf die Nutzung der Technologie. Beide Aspekte sind freilich eng miteinander verbunden, wodurch die Techniksoziologie Internet und Gesellschaft aufeinander beziehen kann.

Das Sujet der Mediensoziologie hat eine deutlich längere soziologische Tradition als die Formierung der Fachdisziplin im heutigen Sinne. Das Verhältnis von Medien und Gesellschaft findet sich beispielsweise in Simmels Philosophie des Geldes, in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung oder Luhmanns Gesellschaft der Gesellschaft. Die neuere Mediensoziologie ist demgegenüber deutlich stärker an den Kommunikationswissenschaften orientiert. Neben analogen und elektronischen gehören inzwischen auch digitale Medien zum Forschungsgegenstand, wenngleich für Letztere eine deutlich geringere Ergebnisdichte vorliegt. Bezogen auf das Internet kann die Mediensoziologie zwei zentrale Perspektiven beisteuern, die allerdings bisher nur unzureichend und zudem unsystematisch mit Inhalten gefüllt wurden. So kann erstens aus dem Vergleich zu klassischen Medien das Neuartige am Internet analysiert werden. Und zweitens kann in Anlehnung an die Kommunikationssoziologie gefragt werden, worüber überhaupt kommuniziert wird. Dieser letztgenannte Aspekt wurde bisher nahezu gänzlich vernachlässigt. In der Regel stehen Kommunikationstrukturen oder -probleme, nicht aber Kommunikationsinhalte im Vordergrund. Gleichwohl ist dieser Aspekt für die Entwicklung des Internets, wie sie in der vorliegenden Arbeit konzipiert ist, wesentlich bedeutsamer als im Rahmen klassischer Medien, die sich einerseits deutlich langsamer entwickelt haben und andererseits weniger komplex sind. Im Folgenden wird versucht, die medien- und techniksoziologischen Aspekte miteinander zu verknüpfen, um das Internet als Gesamtphänomen in den Blick zu bekommen.

Die auf das Internet bezogenen Publikationen der letzten zwei Jahrzehnte zeigen einerseits durchaus ambitionierte Ansätze, andererseits aber eine deutliche Diskrepanz zum Stand der Forschung in anderen Teilgebieten der Soziologie. Die bis hierhin umrissene Divergenz zwischen der sozialen Bedeutung des Internets und der soziologischen Bearbeitung des Themas bildet einen Ausgangspunkt der nachfolgenden Kapitel. Dementsprechend ist die Fragestellung gerade nicht an spezifischen, und damit kleinteiligen Aspekten orientiert, sondern zielt auf einen Beitrag zu einer »allgemeinen« Soziologie des Internets ab. Im Folgenden geht es aber nicht darum, eine Internetsoziologie zu begründen oder ein Forschungsprogramm zu formulieren. Vielmehr besteht das Ziel in der Erarbeitung eines weiteren Schritts auf dem Weg zu einer Internetsoziologie. Ein Konzept, das das Internet und die Gesellschaft ins Verhältnis setzen kann, und ein von den Inhalten ausgehend konzipierter Entwicklungsansatz scheinen hierfür unumgänglich. Es handelt sich bei den beiden Aspekten, die im Folgenden aufeinander bezogen werden, zudem insofern um ein Forschungsdesiderat, als bisher kein gesichertes Wissen darüber existiert, welchen Aktivitäten Menschen »im Internet« nachgehen. In Hinblick auf diese Frage kann weder auf einen konzeptionellen Rahmen noch auf ergiebige empirische Studien zurückgegriffen werden.