Die vorangegangenen Abschnitte verweisen bereits auf die zwei zentralen Themen der Arbeit: den Zusammenhang zwischen Internet und Gesellschaft sowie die inhaltliche Entwicklung des Internets. Beide Aspekte werden im Folgenden detaillierter vorgestellt und es wird gezeigt, wie sie sich aufeinander beziehen lassen. Die inhaltliche Entwicklung des Internets umfasst in erster Linie die Frage, worüber im Rahmen der Internetnutzung kommuniziert wird: Welche Inhalte werden ausgetauscht, welche Gegenstände der sozialen, subjektiven oder objektiven Welt werden thematisiert? Für diese Fragen gilt es in den nachfolgenden Kapiteln einen theoretischen Ansatz zu formulieren, der der Vielfalt von Internetkommunikationen gerecht wird.
Die Entwicklung des Internets wird damit nicht entlang technischer Standards, der Zahl der User, den verschiedenen Diensten oder der Verbreitung über die Welt hinweg analysiert, sondern auf die Frage bezogen, worum es eigentlich geht, wenn Individuen das Internet nutzen. Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine untypische Fragestellung, da die Soziologie in der Regel vielmehr an gesellschaftlichen Strukturen der Mediennutzung, etwa dem Zugang zu bestimmten Technologien oder dem Verhältnis von Senderinnen und Sendern zu Empfängerinnen und Empfängern, interessiert ist. Solche Punkte sind ohne Frage sehr relevant und sollen in den nachfolgenden Kapiteln auch zur Sprache kommen, gleichwohl stellt die Untersuchung der übermittelten Inhalte das zentrale Element einer soziologischen Betrachtung von Kommunikationstechnologien dar. So bildet die Frage, was über das Internet mitgeteilt wird, einerseits für die User den Mittelpunkt der Internetnutzung, was sich unter anderem darin zeigt, dass im Zuge des Web 2.0 die Bedeutung der Technik klar zugunsten des »Content« zurücktritt. Andererseits geht die Soziologie (nicht nur in konstruktivistischen Ansätzen) davon aus, dass Gesellschaften sich durch Kommunikation konstituieren und auch reproduzieren. Damit liegt es nahe, danach zu fragen, welche Rolle und Funktion der relativ jungen Internetkommunikation hier zukommt, zumal sie sich permanent und grenzenlos auszuweiten scheint.
Die inhaltliche Entwicklung soll und kann nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Umwelt des Mediums betrachtet werden. Interessiert man sich nicht ausschließlich für eine reine Deskription, sondern auch für die Ursachen, Mechanismen und Folgen einer beispielsweise vorrangig wirtschaftlich geprägten Internetkommunikation, muss über den »Tellerrand« des Internets hinaus geschaut werden. Schließlich sind die User des Internets keine virtuellen Avatare, sondern ganz körperliche Wesen, die situativ entscheiden, ob sie bei einem bestimmten Anliegen einen Brief schreiben, einen Anruf tätigen, vielleicht eine E-Mail verfassen oder einen Tweet posten. Hieran setzt das zweite Kernthema der vorliegenden Arbeit an. Es geht darum, wie das Verhältnis von Internet und Gesellschaft gefasst werden kann. Dahinter verbirgt sich zunächst nicht die Frage, welche konkrete Bedeutung das Internet in modernen Gesellschaften hat oder wie die Gesellschaft das Internet im Detail prägt. Vielmehr muss zunächst geklärt werden, auf welche Art und Weise diese Frage beantwortet werden kann. Das Ziel ist ein theoretischer Ansatz, der im Sinne eines Analyserahmens eine fundierte Bearbeitung ermöglicht.
Das Verhältnis von Internet und Gesellschaft kann grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen gedacht werden. Die Offline-Sphäre kann die Online-Sphäre beeinflussen und es können (in umgekehrter Perspektive) die Auswirkungen des Internets auf seine gesellschaftliche Umwelt betrachtet werden. Die erste Variante umfasst beispielsweise Unternehmen, die ihre Produkte nicht mehr in Ladengeschäften anbieten, sondern via Web-Shop vertreiben. Wenn hingegen Hunderte von Freiwilligen die Dissertationen von Politikerinnen und Politikern im Rahmen von Online-Kollaborationen nach Plagiaten durchsuchen und Mandatsträgerinnen und -träger in der Folge zurücktreten (müssen), liegt die umgekehrte Wirkungsrichtung vor. Zu diesen beiden idealtypischen Möglichkeiten tritt ein dritter Modus hinzu: die wechselseitige Einflussnahme beider Sphären. Das Verhältnis von Internet und Gesellschaft entspricht an vielen Stellen einem komplexen Prozess gegenseitiger Einflussnahme, der einerseits theoretisch entsprechend zu berücksichtigen ist und sich andererseits an realen Beispielen zeigen lässt.
Als 2009 eine Passagiermaschine im Hudson River in New York notlanden musste, wurden die ersten Informationen über das Internetmedium Twitter verbreitet. Die getwitterten Informationen (unter anderem Bilder des Flugzeugs im Wasser) wurden anschließend von Radio- und Fernsehsendern als Quelle ihrer Berichterstattung genutzt. Die Sender haben die News aber auch auf ihre Homepages gestellt und selbst dazu getwittert. Und wieder andere Tweets haben auf die Breaking News im Fernsehen verwiesen. Dieser Einzelfall vermittelt bereits einen Eindruck von der Vielschichtigkeit des Verhältnisses von Internet und Gesellschaft. Das Ziel der Arbeit besteht nun in der Elaboration eines Ansatzes, der sich vor entsprechend komplexen Fragen nicht verschließt und gleichzeitig von der Kleinteiligkeit des Gegenstands abstrahiert. Das Gefüge an Wechselwirkungen soll dabei aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. So wird das Internet nachfolgend ausgehend vom Offline-Bereich konzipiert und die Rückwirkungen der Internetkommunikation werden zunächst zurückgestellt. Diese Einschränkung geht auf das Interesse an der inhaltlichen Entwicklung des Internets zurück. Für die Frage, welche Themen im Rahmen der Internetkommunikation besprochen werden, ist zunächst irrelevant, ob zunehmend mehr Einzelhandelsgeschäfte durch E-Commerce in ihrer Existenz bedroht werden. Hochgradig bedeutsam ist es hingegen, wenn immer mehr Kaufhandlungen über das Internet realisiert werden, da das Internet in diesem Zuge neue inhaltliche Facetten gewinnt.
Die beiden Kernthemen dieser Arbeit stehen also in engem Zusammenhang und lassen sich, wie gezeigt werden soll, mit einem relativ jungen Konzept, dem Mediatisierungsansatz (vgl. Krotz 2001), direkt aufeinander beziehen. Dieser geht zunächst schlicht davon aus, dass immer mehr Face-to-Face-Kommunikationen technisch vermittelt werden. Beispielsweise erfahren die Bürgerinnen und Bürger immer seltener direkt von Politikerinnen und Politikern, warum eine Schule geschlossen oder eine Bank gerettet wird. Stattdessen werden solche Informationen vielfach über Medien (und damit selektiv und verändert) kommuniziert. Das Internet hält nun eine Vielzahl an Kommunikationsmedien bereit, die in diesen Prozess involviert sind. Die Ausgangsannahme hierzu besteht darin, dass mit einer internetspezifischen Variante des Mediatisierungsansatz zum einen die Entwicklung der Internetkommunikation in inhaltlicher Hinsicht erklärt werden kann. Zum anderen wird hier davon ausgegangen, dass der Mediatisierungsansatz eine Verbindung zwischen On- und Offline, also zwischen Internet und Gesellschaft, in der präferierten »Richtung« herstellen kann.
Bevor die zwei Fragen mit Hilfe des Mediatisierungsansatzes in ein theoretisches Konzept integriert werden können, bedarf es noch einer wichtigen Vorarbeit. Es ist zunächst zu klären, was aus soziologischer Perspektive unter dem Internet zu verstehen ist. Während der Gesellschaftsbegriff im Mittelpunkt der Soziologie steht und eine (wenn auch nicht unstrittige) umfassende Ausarbeitung erfahren hat, wurde das Internet bisher allenfalls in einzelnen Aspekten analysiert. Das Internet »als Ganzes« hingegen, im Sinne der Gesamtheit aller Online-Phänomene und -Strukturen, ist bisher nahezu gänzlich aus dem Fokus geraten. Weder ist klar, was genau zum Internet gehört (und wo die Grenze verläuft), noch wurde bisher systematisch analysiert, welche Möglichkeiten, Restriktionen und Spezifika die Internetkommunikation mit sich bringt. Solange dieses Forschungsdesiderat besteht, bleibt es im Grunde unmöglich, eine Internetsoziologie im engeren Sinne zu etablieren und das Verhältnis von Internet und Gesellschaft zu bestimmen.
Darüber hinaus sind die spezifischen Eigenschaften der Online-Kommunikation, die im Zuge einer soziologischen Gegenstandsbestimmung des Internets aufzudecken sind, von großer Bedeutung für die inhaltliche Entwicklung des Internets. Die dazugehörige Annahme besteht darin, dass bestimmte Inhalte sich mittels bestimmter Medien besser kommunizieren lassen als mit anderen. Behörden und Ämter schicken beispielsweise noch immer Briefe und Faxe, während Unternehmen oder Universitäten Web-Medien stärker nutzen. Will man also wissen, welche Inhalte (bevorzugt) via Internet kommuniziert werden, muss zunächst in Erfahrung gebracht werden, welche medialen Ressourcen und Beschränkungen mit der Internetkommunikation einhergehen. Aus diesen Gründen wird das Internet, sowohl in seinen technischen als auch in seinen medialen Eigenschaften, eingehend analysiert.
Die genannten Fragen erfordern ein Konzept, das den Prozesscharakter berücksichtigt und nicht bei Querschnittsabbildungen verbleibt. Damit wird die Dynamik der Internetkommunikation in den Fokus gerückt, anstatt sie als Erklärung für die geringe Halbwertszeit internetsoziologischer Befunde zu bemühen. Entsprechend muss versucht werden, bereits die Gegenstandsbestimmung des Internets unabhängig von kurzzeitigen Trends zu formulieren. Damit wird nach einem Kern an Eigenschaften gesucht, der über verschiedene Entwicklungsstadien hinweg bedeutsam ist. Interessant ist hierbei unter anderem, inwiefern den Gründungsidealen des freien, partizipativen und demokratischen Mediums bis heute technisch entsprochen werden kann. Für diesen Punkt gilt wie für die ganze Arbeit, dass das Konzept einerseits abstrakt genug formuliert sein muss, die »großen« Entwicklungslinien nachzeichnen zu können und dass es andererseits konkret genug sein muss, um spezifische Phänomene einbinden und erklären zu können.
Anknüpfend an den letztgenannten Punkt soll der zu erarbeitende Ansatz nicht nur das Verhältnis zwischen Internet und Gesellschaft thematisieren, sondern auch eine Verbindung zwischen Theorie und Empirie herstellen. Wenngleich die theoretische Betrachtung im Zentrum steht, werden empirische Schnittstellen aufgezeigt. Es kann also nicht um eine abstrakte, schwer zu operationalisierende Theorie gehen, sondern es soll über die empirische Bearbeitbarkeit die Gegenstandsnähe gewahrt bleiben.