3.3
Das Internet als großtechnisches System

Im Folgenden soll ein dezidiert analytischer Blick auf die technischen Aspekte des Internets geworfen werden. Innerhalb der Soziologie existiert inzwischen eine Vielzahl an Ansätzen, technische Artefakte5 zu thematisieren. Bekannte Vertreter sind neben der Technikgenese und der Technikfolgenabschätzung etwa der soziotechnische Ansatz (Sydow 1988), der viel diskutierte Technikdeterminismus (Blauner 1964), die McLuhan’sche Medientheorie (1968), die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) oder die techniksoziologische Variante des Sozialkonstruktivismus (Bijker/Pinch 1984). So heterogen diese Ansätze auch sind, fragen doch alle nach dem Wechselverhältnis von Technologie und Gesellschaft. In den folgenden Abschnitten geht es allerdings nicht vorrangig darum, die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung und Verbreitung des Internets, seine Nutzung oder die anschließenden Folgen für die Gesellschaft zu analysieren. Vielmehr soll eine spezifische Technologie, das Internet, auf ihre Eigenschaften hin untersucht werden. Wenngleich gesellschaftliche Faktoren, jenseits der ingenieurwissenschaftlichen Betrachtung, immer eine Rolle spielen, fokussiert der hier favorisierte Ansatz des großtechnischen Systems die materielle Komponente in einer besonderen Weise: Er betrachtet bestimmte Technologien als Infrastruktursystem mit spezifischer Größe. Damit geht es folglich nicht um einzelne Komponenten (wie Kühlschränke, Werkzeugmaschinen oder Laptops), sondern um einen übergeordneten Zusammenhang eigener Qualität.

3.3.1
Große technische Systeme als Interpretationsrahmen

Große technische Systeme sind zunächst durch eine extensive räumliche und auch zeitliche Ausbreitung charakterisiert. Trotz ihrer realweltlichen Bedeutung sind sie wissenschaftlich bisher eher unterbelichtet geblieben. Dies trifft insbesondere auf neuere, dem Telekommunikationssektor zuzuordnende Phänomene zu.6 Die vorliegende Literatur, eine zu Beginn der 1990er Jahre richtungsweisende Verknüpfung von historischer und techniksoziologischer Forschung, gilt heute als angestaubt, wenn auch nicht als hinfällig. Klassischerweise stellen solche großtechnischen Systeme Transport-, Energie- und Kommunikationsnetze (vgl. Bell 1990) dar. Der Netzbegriff deutet bereits eine wichtige Gemeinsamkeit bei gleichzeitig verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen an.7 Die Betrachtung von solchen Technologien als umfassendes System geht auf den Historiker Thomas P. Hughes (vgl. 1983) zurück und wurde vor allem von der deutschen Soziologie aufgegriffen. Beginnend in den späten 80er-Jahren wurde das Paradigma für ein gutes Jahrzehnt bearbeitet, um mit dem Ansatz des soziotechnischen Systems ebenso schnell an Bedeutung zu verlieren.

Eine dezidierte Betrachtung des Internets als großtechnisches System hat – wie bereits angedeutet – noch nicht stattgefunden.8 Die Aufgabe besteht demnach darin, das Konzept auf das Internet anzuwenden und dabei einerseits die Technik des Internets mithilfe eines belastbaren Analysemodells zu untersuchen und andererseits eine Aktualisierung der Forschung zu großtechnischen Systemen zu leisten. Joerges’ (1992: 45) Schluss, »hinter dem allgemeine Theoriefähigkeit verheißenden Etikett ›large technological systems‹ [verberge] sich eine außerordentliche Vielfalt an Interpretationen, Konstruktionen und Geschichten«, ist nach all den Jahren nicht viel hinzuzufügen. Schwerer wiegt noch, dass es sich vielmals um Einzelfallbetrachtungen, ad-hoc-Argumentationen und fast schon grobe Verallgemeinerungen handelt. Mit Kornwachs (1994: 443) ist zu ergänzen: »Da es keine über verbale Beschreibungen hinausgehende, analytisch befriedigende Theorie der großen technischen Systeme gibt, […] ist man auf die Phänomenologie angewiesen«. Diese ursprünglich auf die praktische Steuerung solcher Systeme bezogene Einschätzung trifft ebenso auf eine wissenschaftliche Anwendung zu.

Um den an sich fruchtbaren Ansatz dennoch nutzen zu können, wird im Folgenden eine Meta-Analyse erarbeitet, auf deren Grundlage adäquate Merkmale großtechnischer Systeme festgestellt werden können. Es kann folglich nicht auf den einen Ansatz zurückgegriffen werden, sondern aus der Vielzahl an Arbeiten zum Thema sind die bedeutendsten Aspekte zu extrahieren und zu ergänzen. Der »erhebliche Facettenreichtum« (Weingart 1989: 175) des Untersuchungsgegenstandes – zwischen Energieversorgung, Organtransplantationswesen, Müllentsorgung, Telefonnetz, Rundfunk, Satelitenversorgung, Wasserleitungen, Katastrophenwarnsystemen, Rechnervernetzung, Raumfahrt und Verkehrsnetz – ist ebenfalls eine Ursache für die wenig überzeugenden Forschungsresultate. Dem wird nachfolgend entgegengewirkt, indem die Einzelphänomene mittels einer mehrschichtigen Kategorisierung systematisiert werden. Eine Analyse des Internets als großtechnisches System hat zum Ziel, Architektur- und Funktionsprinzipien herauszuarbeiten, die sich »unterhalb« der Oberfläche befinden. Damit können Strukturen, die Einfluss auf die Internetkommunikation haben, jenseits der Anwendungsebene offengelegt werden.

3.3.2
Wegmarken einer Gegenstandsbestimmung

Bevor die grundlegenden Eigenschaften analysiert werden können, ist zunächst zu klären, was denn genau unter einem großtechnischen System zu verstehen ist (und vor allem: was nicht darunter zu verstehen ist). Joerges (1992: 58) unterscheidet zwischen Systemen erster und zweiter Ordnung. Großtechnische Systeme erster Ordnung stellen »klassische« Netzstrukturen wie Transport-, Telekommunikations- und Energiesysteme und andere technische Ver- und Entsorgungssysteme dar. Sie sind anhand ihrer homogenen Netzstrukturen relativ gut abgrenzbar. Als Systeme zweiter Ordnung werden hingegen partielle Rekombinationen technischer Netzstrukturen (also Systeme der ersten Ordnung) für je eigene Systemzwecke verstanden. Diese heterogen vernetzten Systeme führen demnach unterschiedliche Leistungen mit Hilfe entsprechend ausgelegter Schnittstellen zusammen (vgl. Braun 1994: 488). Beispiele hierfür sind die Strukturen des organisierten Massentourismus, der internationale Leistungssport oder die zwischenbetriebliche Vernetzung. Solche »Netze von Netzen« verknüpfen Systeme erster Ordnung, indem sie einzelne Funktionen verschiedener Netzstrukturen in Anspruch nehmen. Die technischen Strukturen des Organtransplantationswesen beanspruchen so beispielsweise die Infrastrukturen in Bezug auf Transport, Kommunikation und Datenverarbeitung. Eckert (1994) merkt an, dass diese Zwei-Ebenen-Betrachtung durch eine dritte ergänzt werden müsse: große technische Systeme nullter Ordnung. Damit sind die bautechnischen Infrastrukturen im Sinne eines Fundamentes der Systeme erster Ordnung gemeint. Dies umfasst beispielsweise Straßenbrücken und Versorgungsleitungen, Glasfaserkabel und Schienenstränge oder Abwasserrohre. Allerdings handele es sich dabei um unvollständige Systeme, da ihr Gebrauchswert erst über die Systeme erster Ordnung erschlossen würde.

Aus dieser Kombination resultiert ein dreistufiges Infrastrukturmodell: Die bis dahin kompakten und überkomplexen Infrastruktursysteme differenzieren sich in eine bautechnische Basisinfrastruktur und in nutzungsorientierte Systeme erster Ordnung sowie in Verknüpfungssysteme zweiter Ordnung, die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen entsprechen.

Bevor dieses Konzept auf das Internet bezogen werden kann, sind noch einige Gedanken zur Verknüpfung von Netzen auf verschiedenen Ebenen relevant. Denn gerade für das Internet kann angenommen werden, dass es ein Netz der Netze bildet. Inwiefern das zutrifft, soll nachfolgend mit dem dreistufigen Modell untersucht werden. Braun (1994: 485f.) unterscheidet hierzu technische Verflechtungen danach, an welchem funktionellen Ort der netztechnischen Strukturen sie stattfinden. Danach sind zwei verschiedene Verflechtungsmöglichkeiten denkbar: die Verschränkung der Betriebsstrukturen und die Verknüpfung ihrer Nutzungsstrukturen. Unter der Verschränkung von Betriebsstrukturen muss man sich die technische Verkopplung von Knoten oder Knotenverbindungen vorstellen, wobei die verkoppelnde Einrichtung von einem der beiden Systeme betrieben wird. Als klassisches Beispiel wird die Kopplung zwischen dem elektrischen Eisenbahn- und dem Stromversorgungsnetz genannt. Für den Betrieb der Eisenbahn wird durch besondere Umspannwerke das Stromnetz nutzbar gemacht und der Güterverkehr liefert beispielsweise Brennstoffe zu Kraftwerken. Solche punktuellen Verschränkungen können zwischen allen existenten großtechnischen Systemen festgestellt werden. Die Verknüpfung von Nutzungsstrukturen hingegen meint die Verkopplung der jeweiligen Netzperipherien, also der »losen Enden« der Systeme. Im Unterschied zur Verschränkung der Betriebsstrukturen gehören die verkoppelnden Elemente allerdings zu keinem der beiden Systeme. Punktuelle Verknüpfungen dieser Art finden sich an vielen Stellen des täglichen Lebens oder auch in der Wirtschaft: Eine Waschmaschine verknüpft Wasser-, Strom- und Abwassersystem und ein Fernseher Strom- und Rundfunksystem. Am Beispiel der Sondermüllentsorgung zeigt Braun, dass es bei großtechnischen Systemen zweiter Ordnung sowohl zu Verschränkungs- als auch zu Verknüpfungsphänomenen kommt. Diese Unterscheidungen sind im Folgenden von Bedeutung, um die Einbettung des Internets in seine technische »Umwelt« nachzuvollziehen.

3.3.3
Einordnung der Internets

Den ersten konkreten Schritt der Betrachtung des Internets als großes technisches System stellt die Verortung in der erläuterten Klassifikation sowie in den Verknüpfungszusammenhängen dar. Daran anschließend werden die spezifischen Eigenschaften großtechnischer Systeme auf das Internet bezogen. Auf Grundlage der vorangegangen Ausführungen zur Technik des Internets ist zunächst die Frage zu beantworten, ob das Web ein großtechnisches System erster oder zweiter Ordnung ist.

Auf den ersten Blick mag man das Internet als System der zweiten Ordnung konzipieren, da es auf dem Telefonnetz aufbaut, vom Stromversorgungssystem abhängig ist und die Datenpakete ebenso per Fernseh-Koaxialkabel empfangen werden können. Einer genaueren Betrachtung hält dieser erste Eindruck jedoch nicht stand: Erstens hat das Internet eine weitestgehend eigenständige (bautechnische) Infrastruktur. Daran anknüpfend baut es zweitens nicht auf dem Strom- oder Telefonnetz auf, sondern nimmt lediglich Leistungen von den jeweiligen Netzen im Sinne einer Verschränkung in Anspruch. Und drittens schließlich zeigt die Existenz einer Vielzahl an Systemen zweiter Ordnung (beispielsweise das WWW als Dienst), die auf dem Internet aufbauen, dass das Internet eine infrastrukturelle Grundlage bildet.

Die klassische Unterteilung in Transport-, Energie- und Kommunikationssysteme stellt nur eine erste Kategorisierung dar. Im Anschluss daran muss eine sektorale Differenzierung erfolgen. So besteht das hier interessierende Kommunikationssystem mindestens aus den großtechnischen Systemen Fernsehen, Radio, Telefon, Presse und – wie zu zeigen ist – dem Internet. Diese Systeme arbeiten gleichberechtigt nebeneinander und sind untereinander vernetzt. Zunächst sind jedoch einige Details zur Infrastruktur des Internets instruktiv: Sie umfasst zu wesentlichen Teilen internetspezifische Elemente wie Modems und Switches, Glasfaserkabel und Unterseedatenleitungen, Satelliten und WLAN-Router, UMTS-Antennen und vieles mehr. Diese bilden ein System eigener Qualität. Zwar wäre es theoretisch möglich, zum Beispiel eine E-Mail ausschließlich über das Telefonnetz zu versenden (dies wurde zu Beginn notgedrungen praktiziert), aber auch dafür bedurfte es bereits internetspezifischer Software. Zudem waren auf beiden Seiten ein Computer und ein Modem erforderlich. Ein Großteil der internetrelevanten Hardware entsteht hingegen erst mit dem Internet. Der Computer existierte zwar bereits vorab und Telefonleitungen wurden für Online-Kommunikation genutzt, dabei handelt es sich aber eher um Verschränkungen und Verknüpfungen denn um Voraussetzungen.

Damit soll das zweite Argument ins Feld geführt werden: Der oft irrtümlich als Abhängigkeit auf vertikaler Ebene (zwischen Systemen erster und zweiter Ordnung) interpretierte Zusammenhang zwischen technischen Systemen beschreibt tatsächlich eine horizontal verortete Verschränkung der Betriebsstrukturen: Wie Braun (1994: 485f.) zeigt, sind Verschränkungen in den Betriebsstrukturen für alle großtechnischen Systeme festzustellen. Der Betrieb des Fernsehsystems erfordert Strom, das Eisenbahnsystem benötigt fernmündliche Koordination und die großmaßstäbliche Erzeugung von Energie setzt inzwischen eine intakte Rechnerinfrastruktur voraus. Für die Einordnung des Internets als System erster Ordnung ist zunächst zu fragen, an welchen Stellen es Leistungen anderer Systeme in Anspruch nimmt. Entschieden werden muss, ob das Internet in »normalem« Umfang Leistungen anderer Systeme bezieht oder gänzlich auf diese aufbaut. Dies ist insofern eine schwierige Konstruktion, als die Forschung zu großtechnischen Systemen keine Kriterien liefert und in Anbetracht des hohen Abstraktionsgrades keine empirischen Daten vorliegen.

Direkte Anknüpfungspunkte im Sinne der Verschränkung der Betriebsstrukturen zeigen sich für das Internet im Bezug auf das Energie- und das Telefonsystem. Während Strom schließlich zur Betreibung aller notwendig elektrischen Geräte genutzt wird9, wird das Telefonnetz aufgrund schlechter Alternativen zumeist noch für die sogenannte »letzte Meile« (also vom nah gelegensten Knotenpunkt zum User) benötigt. Insoweit stellt dies nichts Neues dar. Das multiple Abhängigkeitsverhältnis lässt sich mit dem verwendeten Begriffsapparat dekonstruieren, wobei deutlich wird, dass systemverändernde Verschränkungen nur »zugunsten« des Internets vorfindlich sind. Wenn also Großrechner als Knotenpunkt des Elektrizitäts- und Internetsystems genutzt werden, hat dies für die Nutzungsstrukturen der verkoppelten Systeme keine Relevanz. Vielmehr bestärkt es das Leistungsprofil beider Netze. Da das Internet in der Gegenperspektive eine Kommunikationsinfrastruktur beispielsweise für die Erzeugung und Einspeisung von Solarenergie in das Stromnetz darstellt, gilt selbiges. Wenn aber zukünftig immer mehr Gespräche des Telefonnetzes »voice over IP« über die Internetinfrastruktur realisiert werden und damit nahezu die gesamte Technik des Telefonnetzes obsolet wird, findet eine Veränderung (im Sinne einer tendenziellen Verschmelzung) statt, die so nah am »Kern« des Telefonsystems verortet ist, dass sie über eine »normale« Verknüpfung der Betriebsstrukturen hinausgeht. Die Verknüpfung der Nutzungsstrukturen kann hier zunächst außen vor gelassen werden, da die koppelnden Geräte, wie etwa die strom- und wassernutzende Waschmaschine, zu keinem der beiden Systeme gehört, sondern an offenen Enden anknüpfen.

Bekräftigt wird die Argumentation drittens durch die internetbezogenen großtechnischen Systeme zweiter Ordnung. Die Differenzierung in Systeme erster und zweiter Ordnung (die Betrachtung der nullten Ordnung kann zunächst ausgespart bleiben) zeigt für das Internet, dass es nicht mit dem World Wide Web gleichzusetzen ist. Der viel genutzte Kurzschluss gründet wesentlich auf einer sprachvereinfachenden Synonymisierung. Die Internet-Dienste (weitere wären beispielsweise E-Mail, Video-Chat oder Dateiübertragung) basieren im Unterschied zu »klassischen« großtechnischen Systemen zweiter Ordnung, wie etwa der Post, zudem nahezu ausschließlich auf einem einzelnen System. Die bisher vertretene Annahme, Systeme zweiter Ordnung verknüpften verschiedene Netzstrukturen für einen spezifischen Zweck (vgl. Joerges 1992: 59), muss demnach partiell revidiert werden, da Kommunikationsinhalte grundsätzlich digitalisierbar sind und damit nur eine einzige Infrastruktur benötigen. Wo großtechnische Systeme, die auf dem Internet aufbauen, aber über Kommunikation hinaus reichen und sich materialisieren, entsprechen sie dem klassischen Schema: Ein bei Amazon bestellter USB-Stick kann nicht online versendet werden. Somit können die bestehenden großen technischen Systeme erster Ordnung um ein »neues« ergänzt werden (vgl. Metzner-Szigeth 2007: 9).

3.3.4
Strukturmerkmale großer technischer Systeme

Wodurch ist ein solches System nun charakterisiert, was kann aus den spezifischen Eigenschaften für die zu entfaltende Theorie der Entwicklung des Internets gewonnen werden und vor allem: Welche Ausprägungen weisen die abstrakten Eigenschaften in der Realität auf? Der Vielzahl an antizipierten Eigenschaften großtechnischer Systeme (vgl. dazu Grundmann 1994: 535f. sowie Eckert 1994: 164f.) wird sich in vier Schritten genähert. Zunächst stehen die drei namensgebenden und grundlegenden Merkmale groß, technisch und systemisch im Mittelpunkt, um anschließend auf Aspekte der Genese und Entwicklung eben dieser Systeme einzugehen. Die nicht unwesentliche Frage der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Systeme (etwa ihr Monopolcharakter oder ihr Gefährdungspotenzial) soll hier nicht explizit als Eigenschaftskomplex aufgegriffen werden. So geht es zu einem, wie eben erläutert, vorrangig um technische Aspekte und zum anderen werden diese Eigenschaften, dort wo sie erkenntnisbringend erscheinen, partiell einbezogen.

3.3.4.1
Größe

Wie Joerges (1992: 54f.) richtig anmerkt, ist die Frage der Größenordnung ein stetes und infinites Thema der Sozialwissenschaft, das für die Techniksoziologie dahingehend interessant ist, als diese über kein Linné’sches System technischer Gebilde verfügt. Die Kategorien »groß- und kleintechnisch« sind somit nicht analytisch begründet, sondern zumeist in spezifische Kontexte eingebettet. Für die Größe technischer Systeme werden so häufig vereinfachend ökonomische (Investitionsvolumen) oder ingenieurtechnische (verschiedene Kapazitätsmaße) Kenngrößen verwendet. Diesen unbefriedigenden Kriterien stellt Joerges ein zweistufiges Vorgehen entgegen. Dabei sind zuerst jene technischen Einrichtungen herauszustellen, die gesellschaftsweit und für lange Zeiträume ausgelegt sind und die die Grundlage für das Funktionieren aller kleineren technischen Systeme schaffen. Daraufhin können Kriterien formuliert werden, die innerhalb dieser Klasse kleine und große Systeme differenzieren. Als Kriterium für die relative technische Größe schlägt er den Grad der Vernetzung vor: also das raumzeitliche Ausmaß, in dem Sozialbeziehungen über solche Netze realisiert werden. Einschränkend ist hier anzumerken, dass die Konstruktion »gesellschaftsweit« keineswegs eine unumstrittene Skalierung ist: So definiert Gokalp (1992: 58) großtechnische Systeme als »global in scope« und meint damit, dass » […] most people in most places are affected by them at least some of the time«. Radkau (1994: 53) bringt diesen Sachverhalt aus historischer Perspektive auf den Punkt: »Groß ist in der Technik das, was irgendwann als groß empfunden wurde […], was einen Sprung über die bis dahin gewohnten Dimensionen bedeutete, was Grenzen überschritt, die bis dahin fast nie überschritten wurden.«

Trotz dieses Relativismus können belastbare Kriterien zur definitorischen Einschränkung der Größe angegeben werden. Kornwachs (1994: 420ff.) entwickelt hierfür das differenzierteste Modell. Er arbeitet die grundlegende Feststellung, nicht der Aufwand der Erstellung des Systemes, sondern dessen Reichweite für Interaktionen sei entscheidend, im Detail aus: Als große Systeme können demgemäß solche Systeme betrachtet werden, die eine hohe Anzahl von voneinander abhängigen Komponenten besitzen. Jenseits davon, ob man die Endgeräte als konstitutive Elemente des Internets einbezieht, ist die Anzahl der Komponenten des Internets erheblich: So werden nach Schätzungen (vgl. Koomey 2008) derzeit circa 30 Millionen Server betrieben (wobei einzelne Unternehmen mit populären Diensten schon jeweils bis zu 500.000 Server für ihre Dienste benötigen), die von hunderttausenden Kilometern Glasfaserkabel verbunden werden. Die zwei bedeutendsten Kabel(systeme), das SEA-ME-WE-3 und das TAT 14, haben bereits Längen von 39.000 beziehungsweise 14.000 Kilometern. Damit sollte das Internet über eine ausreichend große Anzahl an Komponenten und Bestandteilen verfügen, die in der Tat auch hochgradig miteinander vernetzt sind: Von jedem Server oder Knoten kann jeder andere beliebige Punkt im Netzwerk erreicht werden, und das (aufgrund der Paketzerlegung) auf ganz verschiedene Wegen. Das Netz weist damit eine überaus hohe Strukturdichte auf, die mit einer großen quantitativen Ausbreitung gepaart ist.

Hieran schließt das nächste Kriteriumspaar von Kornwachs (vgl. 1994: 420ff.) an: Große technische Systeme seien gekennzeichnet durch eine notwendig räumlich ausgedehnte Vernetzung sowie einer mindestens mittleren Lebensdauer. In erster Hinsicht zählt das Internet zu den herausragendsten Systemen, das allein vom Telefonsystem in seiner geographischen Ausbreitung übertroffen wird. Charakteristisch ist dabei, dass die Funktionalität des Gegenstandes sein Konstruktionsprinzip bestimmt: So war gerade das Zusammenwachsen der anfänglich separierten Netze ausschlaggebend für den Erfolg des Mediums. Während beispielsweise Energieversorgungsnetze aufgrund leitungsbedingter Effizienzverluste zu einer autonomen Struktur tendieren, steigt die Funktionalität für Kommunikationssysteme mit ihrer Ausdehnung. Deshalb gibt es heute auch nur ein Internet, das im Unterschied zu kontinental begrenzten Verkehrsnetzen oder der regional orientierten Wasserversorgung eben keine unabhängigen Subnetze relevanter Größe aufweist. Für die Lebensdauer wird der menschliche Generationenzyklus als Minimalbedingung genannt. Das Internet ist dabei geradezu ein Schnellstarter, zieht man in Betracht, welche Zuwachsraten in den verschiedenen Bereichen zu verzeichnen sind. Allein die räumlich-organisatorische Dimension großtechnischer Systeme erster Ordnung macht einen kurzfristigen Einsatz unplausibel. So ist auch für das Internet eine gesellschaftliche Nutzungsdauer erwartbar, die deutlich über der kleinerer technischer Systeme und aufgrund der multiplen Anschlussmöglichkeiten vermutlich auch über der anderer großtechnischer Kommunikationssysteme liegt.

Kornwachs nennt weitere Kriterien: Der Erhalt der Funktionsfähigkeit mache in präventiver wie reaktiver Hinsicht eine umfangreiche Organisation erforderlich und die Oberfläche bleibe gegenüber Störungen bis zu einem bestimmten Grad unverändert. Mit Erstgenanntem ist gemeint, dass die Aufsicht und Kontrolle beispielsweise der Energieversorgung einen erheblichen organisatorischen und technischen Aufwand erfordern. Dieses Kriterium scheint zur Charakterisierung großtechnischer Systeme, zumindest aber zur Beschreibung ihrer Größe, nicht besonders geeignet: Abgesehen von der für alle Merkmale unumgänglichen Bewertungsrelativität, zeigen sich hier zwischen großtechnischen Systemen erster Ordnung erhebliche Unterschiede. Während etwa das Straßenverkehrssystem hochgradig wartungsintensiv ist und einen hohen Personal- und Ressourceneinsatz erfordert, sind großtechnische Systeme der Kommunikation jenseits zyklischer Erneuerungen eher als betreuungs- und wartungsarm einzuschätzen. Zum zweiten ist das Kriterium problematisch, weil es keine Abgrenzung zu Einzeltechnologien ermöglicht. Für das Internet, das trotz der diskursiven Überzeichnung des Merkmals um einiges dezentraler ist als klassische Medien, übernehmen die Bereitstellung und Instandsetzung der Infrastruktur in der Regel privatwirtschaftlich orientierte Organisationen. Sie betreiben die großen Rechenzentren und sie warten die Verbindungskabel. Da der Übertragungsgegenstand, noch immer in Form von 0-1-codierten Lichtsignalen keine relevanten Abnutzungserscheinungen erzeugt, Innovationen zudem häufig über Software umgesetzt werden (neue Standards etwa), liegt die Hauptaufgabe für die Netzbetreiber in der Behebung von Störungen (wenn etwa ein Seebeben ein transozeanisches Kabel beschädigt) und im fortwährenden Ausbau der Netzstruktur. Die Kommunikationssysteme sind im Vergleich zu Transport- und Energiesystemen in dieser Hinsicht also nicht besonders »groß«. Das Internet nimmt, setzte man Kenngrößen der Nutzung und des Betriebsaufwandes ins Verhältnis, eine Sonderposition ein.

Weiterhin war noch genannt, dass bei Störungen die Oberfläche und die Grundfunktionalitäten des Systems invariant bleiben. Fällt also bei einem ausreichend großen System beispielsweise ein Kraftwerk, ein Vermittlungsamt oder eine andere beliebige Komponente aus, sollte das Gesamtsystem nicht sonderlich beeinträchtigt werden. Ähnlich wie im Straßenverkehr kann auch ein Datenpaket im Internet viele verschiedene Wege an sein Ziel nehmen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass diese Umwege nicht länger dauern und das Netz weltweit ist. Ein Defekt auf der »letzten Meile« ist hingegen meist nicht kompensierbar. Auch bei einer Störung eines Servers ist ein Teil der Daten vorübergehend nicht disponibel. Solche kurzfristigen Ereignisse haben jedoch, und das ist hier ausschlaggebend, keine nennenswerten Effekte auf das Gesamtsystem. Weder ändert sich die Struktur noch die Funktionalität.

Anschließend verweist Kornwachs (vgl. 1994: 425ff.) darauf, dass bei großtechnischen Systemen entscheidende Teilkomponenten vollautomatisiert ablaufen, das System als Ganzes jedoch nicht automatisch funktioniert. Beide Punkte sind tendenziell dem Kriterium der Technizität zuzuordnen (die von Kornwachs nicht gesondert betrachtet wird) und werden damit im nächsten Abschnitt betrachtet. In einer Zwischenbilanz lassen sich bisher drei Punkte festhalten: Das Internet kann in Bezug auf seine Größe als großtechnisches System interpretiert werden. Es entspricht einer Vielzahl von gängigen Kriterien und setzt gerade aufgrund seiner geographischen Ausbreitung neue Maßstäbe. Deutlich wurde zudem, dass besonders im Bereich der Kommunikationssysteme inzwischen smarte Systeme wie das Internet vorzufinden sind, deren Betreibung trotz hoher Komplexität sehr effizient möglich ist.

3.3.4.2
Technizität

Der Technikcharakter dieser Systeme bildet den nächsten Kriteriumskomplex. Er ist im Unterschied zur Größe eines System weniger relativistisch veranlagt und lässt sich damit besser einzugrenzen. Braun (1994: 484) analysiert prägnant: Die Systeme seien technisch, » […] weil die ihnen zugewiesenen Operationen und sozialen Normen vorwiegend über gegenständliche (im Unterschied zu körperlichen) Mechanismen realisiert werden, weil auch ihre jeweils lokalen Einrichtungen miteinander durchgängig technisch vernetzt sind und weil – in Konsequenz dieser beiden Eigenschaften – viele Organisationen und Akteure, die sie betreiben oder nutzen, über weite räumliche und zeitliche Strecken eben ›nur‹ technisch aufeinander bezogen werden.« Demnach sind solche Systeme als technisch einzuschätzen, deren Funktionalität und interne Vernetzung unweigerlich auf technischen Artefakten beruht.

Weingart (1989: 178ff.) nennt über diese Minimaldefinition hinausgehende Charakteristika und geht dazu von einer Doppelperspektive aus. Große technische Systeme werden einerseits als Artefaktsysteme betrachtet, die eine bestimmte Organisation erfordern und anderseits als Organisationen (im Sinne sozialer Systeme), die bestimmte Techniken schaffen und diese fortwährend ihren eigenen operativen Strategien anpassen. Damit weisen die Systeme bestimmte technikinduzierte Eigenschaften auf. Sie sind kompatibel zu anderen Technologien oder weitestgehend pfadabhängig, bleiben aber reale soziale Systeme, die eine spezifische Technik als Mittelpunkt haben – oder deutlicher: um diese herum organisiert sind. Da in der Praxis inzwischen in fast allen Systemen technische Komponenten eingebettet sind, muss ein Kriterium angebbar sein, das einen Teil der Systeme als großtechnisch identifizierbar macht. Weingart schlägt dazu ein qualitatives und abermals relationistisches Merkmal vor: Es sind diejenigen Systeme als großtechnisch anzusehen, bei denen ein (hypothetischer) Wegfall der Technik notwendig die Sinnlosigkeit der verbleibenden Organisation impliziert. So wäre das Bankensystem auch ohne Computertechnik prinzipiell arbeitsfähig, das Elektrizitätssystem ohne Leitungen und Umspannwerke hingegen wenig sinnvoll. Für das Internet gilt bis auf wenige Ausnahmen ebenfalls Letzteres.

Darüber hinaus unterscheiden sich großtechnische Systeme im Grad der Kopplung zwischen den Systemelementen. Um die Kopplung der organisatorischen und technischen Komponenten einschätzen zu können, hilft wiederum ein Gedankenexperiment: Das Bahnsystem wäre bei einem Wegfall einzelner Komponenten (ob Fahrplan oder Lichtsignale) beispielsweise stärker beeinflusst als der Automobilverkehr bei Entfernen der Ampelanlagen oder Verkehrsregeln. Je lockerer dabei die Kopplung ist, also je mehr Komponenten zumindest temporär verzichtbar sind, desto höher sind die Freiheitsgrade innerhalb des Systems. Im Umkehrschluss sind diese Systeme, zu denen auch das Internet aus den oben genannten Gründen und mit den oben genannten Einschränkungen zu zählen ist, weniger determiniert. Für das Internet bedeutet dies, dass aufgrund der Komplementarität seiner Elemente und der (abgesehen von der Vergabe der Länder-Domains) weitreichenden Dezentralität gute Voraussetzungen für die Integration verschiedener Anwendungen bestehen und zudem eine geringe Störanfälligkeit vorzufinden ist.

Für Weingart (1989: 180f.) verweisen diese beiden Merkmale auf eine Expertenzentriertheit der Technologien und auf einen hochgradig professionalisierten Betrieb der Systeme. Sie würden von Expertinnen und Experten konzipiert, implementiert und betrieben. Das Internet hingegen weicht vom bekannten Modell der Technikgenese und -entwicklung ab. Weder gab es eine Laborphase, einen ausgefeilten Modus der Implementierung, noch hierarchisch geordnete Betreibergesellschaften. Die geistigen Erfinder waren zugleich Entwicklerinnen, Produzenten und die ersten Nutzerinnen und Nutzer. Das Netz ist in weiten Teilen seinem eigenen Anspruch gefolgt, als demokratisches Medium eine breite Partizipation zu ermöglichen. So sind, abgesehen vom telekommunikativen Zugang, alle notwendigen Programme als nutzungsoffene Freeware verfügbar und in der Regel so gestaltet, dass keine hohen Einstiegsschwellen bestehen und dass ein Großteil der Funktionen auch von Laien genutzt und gestaltet werden kann. Es handelt sich folglich um das Gegenteil eines geschlossenen und hochgradig professionalisierten Systems. In dieser Eigenschaft ist das Internet ein einzigartiges großtechnisches System. Aufgrund der inneren Geschlossenheit anderer großtechnischer Systeme können diese in der Tat nur von qualifiziertem Fachpersonal erweitert werden. Die Erschließung eines Areals mit Elektrizität, Telefon oder einer Untergrundbahn gestaltet sich um einiges komplexer als die Errichtung eines Datennetzwerkes per WLAN-Richtantenne. Dieser Unterschied in der Expertenzentriertheit zeigt sich unter anderem in den Normierungen und Richtlinien für den Bauprozess. Das Netz ist in dieser Hinsicht ein schlankes großtechnisches System und fügt der Konzeption von großtechnischen Systemen eine neue Variante hinzu.

Zwei von Kornwachs (vgl. 1994: 425ff.) angeführte Kriterien zur Größe wurden in diesen Teil überwiesen. Es handelt sich dabei einmal um die Eigenschaft, dass entscheidende Teilkomponenten vollautomatisch ablaufen und zum anderen um das Charakteristikum, als Ganzes nicht automatisch abzulaufen. Damit bedürfen bestimmte Komponenten, wie Satelliten, Kraftwerke oder Vermittlungszentralen keiner menschlichen Steuerung, sondern nur einer Überwachung. Sind die Systemkomponenten also einmal konfiguriert und justiert, verrichten sie ihre Funktion auf Basis mechanisch gesteuerter oder inzwischen häufiger digital vermittelter technischer Regeln. Da das Internet fast ausschließlich mittels digital gesteuerter Operationen auf Basis von Mikroprozessoren funktioniert, ist ein Arrangement jenseits der Vollautomatisierung gar nicht denkbar. Menschliche Individuen wären aufgrund kognitiver Beschränkungen nicht einmal in der Lage, einfachste Operationen in Kleinstnetzwerken per Hand zu steuern. Durch die Computertechnik werden perspektivisch alle großtechnischen Systeme noch stärker automatisiert, wobei dem Internet zunächst eine Avantgarde-Position zukommt.

Das zweite Kriterium schließt hieran an, wenngleich es zunächst widersprüchlich erscheinen mag: Große technische Systeme laufen als Ganzes nicht regelmäßig ab. Die Eigenschaft gründet im Kern auf zwei Argumenten: Für automatisierte Prozesse gibt es immer prinzipielle Grenzen. Wenn es also darum geht, neue Prozessqualitäten einzuführen oder schlicht Änderungen an Abläufen vorzunehmen, stoßen Softwarelösungen noch immer schnell an ihre (vorab definierten oder technisch unumgänglichen) Grenzen. Zum anderen impliziert das Wachstum großtechnischer Systeme eine Steuerung von »außen«. Diese Automatismen fokussieren folgerichtig das Gesamtsystem und nicht die Teilkomponenten. Für das Internet sind die Eigenschaften ebenso gültig. Die Fortentwicklung der Infrastruktur als auch deren softwarebasierte Steuerung sind keine selbstreferentiellen Systeme, sondern erfordern menschliche Arbeitsleistung, die sich dann in neuer Technologie manifestiert.

3.3.4.3
Systemhaftigkeit

Joerges (1992: 50f.) hält die Diskussion des Systembegriffs für »ziemlich unergiebig und fast überflüssig« und folgert, aus der Bestimmung der Termini »groß« und »technisch« werde eine Präzisierung des spezifisch Systemischen »fast von selbst mit abfallen«. Dass gerade Letzteres nur bedingt zutreffend ist, zeigen die vorangegangen Abschnitte dieser Arbeit. Gleichwohl ist die Beschreibung der Systemhaftigkeit nicht von der Eindeutigkeit der beiden vorherigen Namensbestandteile geprägt. So hat sich bisher kein favorisierter Zugang herausgestellt, vielmehr fehlt es generell an Konzeptionen.

Dennoch kann zunächst gefragt werden, ob Systeme als technisch-strukturelle oder vorrangig soziale Komplexe zu verstehen sind? Fast selbstredend erfordert eine soziologische Arbeit eine Orientierung an der allgemeinen Systemtheorie oder zumindest eine integrative Betrachtung. Eine an den Begriffen der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie orientierte Betrachtung bringt allerdings nicht unwesentliche Probleme mit sich. Mit Kornwachs (1994: 412ff.) ist dazu festzuhalten, dass die Eigenschaften des Systems immer von der Wahl der Begriffe abhängen. So ist ein System vor allem ein perspektivischer Begriff: Etwas ist nicht ein System an sich, sondern kann als solches beschrieben werden. Da es keine formelle Beschreibung gibt, welche Eigenschaften ein Gegenstandsbereich aufweisen muss, um als System beschrieben werden zu können, braucht es spezifisches Wissen über den Gegenstand. Die Systemgrenze, die angibt, was dazu gehört und was nicht, hängt damit vom Systembeschreiber und dessen spezifischen Erkenntnisinteresse ab.

Der für jede konstruktivistische Theorie unausweichliche Amaterialismus lässt sich zudem mit diversen Brückenhypothesen nur unzureichend überwinden: »Eine bisherige Reise durch Luhmanns Theorielabyrinth […] hat ergeben, dass die grundlegenden Theorieentscheidungen es unmöglich machen, Sachtechnik in angemessener Weise in den Blickwinkel zu bekommen.« (Grundmann 1994: 521) Die von Luhmann mit dem Konzept der strukturellen Kopplung gewissermaßen umgangene Einbindung eines Technikbegriffes ist für die Analyse großer technischer Systeme irreversibel. Denn die Soziologie technischer Systeme verträgt wenig Autopoiesis und die Theorie sozialer Systeme kann sich der Sachtechnik nicht öffnen (vgl. Grundmann 1994: 538). Diesen beiden Einwänden entsprechend soll sich nachfolgend stärker den rein technischen Aspekten zugewendet werden.10 Mit den Methoden der Systemanalyse kann danach gefragt werden, welche Eigenschaften Systeme haben. Eine solche Frage widmet sich dem Grad der Komplexität, der Dynamik, der Umweltangepasstheit oder der Determiniertheit. Von Interesse sind zudem die Funktionen und Wechselbeziehungen der Einzelkomponenten sowie Aspekte der Durchlässigkeit oder Veränderbarkeit der Systemgrenzen. Ropohl (vgl. 1999) schlägt hierzu einen systemtheoretischen Rahmen vor, der es ermöglicht, Sachtechnik präzise in den Blick zu nehmen. Unter dem Terminus technische Sachsysteme werden Attribute, Funktionen und Strukturen vorrangig maschinengroßer Systeme beschrieben. Jedoch kann der Größenmaßstab variiert werden.

Wie gestaltet sich nun der Aufbau der Systeme im Detail, welche Struktur charakterisiert das Internet? Für diese Fragen sind die Kopplungen der einzelnen Elemente relevant. Während für Stoff- und Energieflusssysteme eine lineare Anordnung mit einzelnen Zwischenstationen (beispielsweise: Rohstoff – Zwischenprodukt – Produktionsmittel – Konsumgut) typisch ist, sind Informationssysteme in der Regel als komplexe Austauschnetze konzipiert. Die Topologien lassen sich mit der Graphentheorie (vgl. Diestel 2010) gut illustrieren: Eine Stern-Struktur hat ein Zentrum, das alle übrigen Elemente miteinander verbindet. Die Ring-Topologie hingegen reiht die Elemente an einem geschlossenen Band auf. Bei beiden ist das Funktionieren des Systems von einer einzelnen Komponente abhängig. Die Baum-Topologie hat eine Wurzel, von der aus immer wieder neue Verzweigungen abgehen. Sie kann aber auch in verschiedenen »Mutationen«, etwa als ringerweiterter Baum vorkommen. Und schließlich gibt es noch eine Gitterstruktur, bei der kein Zentrum identifizierbar ist und jede Komponente mit mehreren anderen verbunden ist. Aus den einzelnen Konstruktionsprinzipien lassen sich dann, wie angedeutet, verschiedene Eigenschaften und Nutzungsweisen ab leiten.

Es ist jedoch keineswegs so, dass es ein optimales Muster gibt. Dementsprechend sind im Bereich informationeller großtechnischer Systeme verschiedene interne Topologien und vor allem Kombinationen verschiedener Muster vorzufinden. Stellt man mit diesem einfachen begrifflichen Instrumentarium das Fernseh-, Telefon- und Internet einander gegenüber, zeigen sich bereits handfeste Unterschiede. Das Fernsehsystem ist eine unilaterale Angelegenheit mit hohem Zentralitätscharakter und entspricht der Baum-Topologie, indem es eine zentrale Wurzel gibt, die Signale an verschiedene Verteilungszentren (Satellit, Kabel oder Funk) sendet, die wiederum die Informationen (nach weiteren Zwischenstationen) zum Endverbraucher übersenden. Entscheidend ist dabei, dass bei einer technischen Störung der Wurzel in den folgenden Verästelungen nichts mehr ankommt, und bei einem Defekt eines Astes alle folgenden Zweige »offline« sind. Das Telefonnetz hingegen entspricht eher einer Vielzahl an Sternstrukturen, die zu einem Gesamtnetz verknüpft werden: Fällt die zuständige Zentrale aus, sind die jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer vom Dienst abgeschnitten, da es keine technischen Alternativen gibt. Diese Zentralen wiederum sind inzwischen nicht mehr hierarchisch, sondern in einem Gitternetz organisiert. Fällt also eine Vermittlungszentrale aus, kann ein Gespräch ebenso über eine andere Zentrale weitergeleitet werden. Beim Internet hingegen, das wurde ja bereits angesprochen, handelt es sich um eine Netz- oder Gitterstruktur. Dieses Netz ist dabei nicht »vollvermascht«, es besteht also keine direkte Verbindung zwischen allen Subsystemen. Gleichwohl sind alle auf verschiedenen Wegen erreichbar. Auf Basis der einzelnen Protokolle, wird eine Information in Pakete zerlegt, die dann mittels des jeweils besten Weges zum Adressaten gelangt und dort wieder gebündelt wird. Daraus folgt für das Internet eine weitreichende Dezentralität und Störungsunanfälligkeit. Egal welche Komponente ausfiele, es ist immer nur ein verschwindend kleiner Teil des Internets betroffen.

Weiterhin geht Ropohl (1999: 123ff.) davon aus, dass für Sachsysteme, vergleichbar mit sozialen Systemen, bestimmte Funktionen angegeben werden können. Aus einer raum-zeit-abhängigen Input-Output-Gegenüberstellung resultieren drei Ergebnisfunktionen: Ein Input kann qualitativ und quantitativ gewandelt werden, kann durch Raum und Zeit transportiert werden und kann über die Zeit hinweg gespeichert werden. Für das Internet läge also eine qualitative Umwandlung vor, wenn in einem Browser Zeichen im ASCII-Code eingegeben werden und als informationelle Reaktion ein Video abgespielt wird. Eine quantitative Umwandlung liegt beispielsweise vor, wenn eine E-Mail mit einem angehängten Bild abgesendet wird und dieses Bild dann mehrfach vorhanden ist, etwa weil es fünf Adressaten gibt. Durch Raum und Zeit wird im Internet etwas transportiert, wenn eine Datei auf einem Server bereitgestellt ist und durch den User zu einem beliebigen Zeitpunkt auf den heimischen Rechner heruntergeladen werden kann. Wenn eine Band einen Song auf ihre Homepage lädt und dieser dort (im Detail: auf dem Server des Webhosters) bestehen bleibt, wird beispielsweise etwas über die Zeit gespeichert.

Was können diese formal-analytischen Funktionsklassen von Sachsystemen nun über das Internet aussagen? Es zeigt sich, dass diese Differenzierung in der Praxis nur geringe Relevanz hat. Gerade die lebensweltlich bedeutsamen Strukturierungsmomente von Raum und Zeit verlieren mit neuen Technologien an Orientierungskraft. Das Internet ist ein Motor dieser Entwicklung. Der Transport von Informationen über den Raum hinweg – im Grunde die Hauptfunktion des Internets – ist nicht mehr an die Zeitkategorie gebunden. Jede immaterielle Ausprägung von Information ist, so sie denn einmal ins Netz eingespeist ist, auch am entferntesten Punkt des Systems in Echtzeit erreichbar. Damit verliert der Raumaspekt an Bedeutung. Aber auch in zeitlicher Hinsicht weist das Internet eine Besonderheit auf: Aufgrund der Immaterialität des Gegenstandes in Form von digitalen Zeichen wird die Zeit in Richtung Vergangenheit geöffnet. Ändert ein nicht digital operierendes Sachsystem seinen Gegenstand qualitativ, fertigt etwa ein Presswerk eine Motorhaube aus einer Blechtafel, ist dies irreversibel. Eine Änderung von Informationen durch das Internet hingegen ist immer softwarebasiert und somit prinzipiell rekonstruierbar. Damit kann eine veränderte Homepage, ein Dokument oder ein Bild zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt in den vorhergehenden Zustand (wenngleich gegenwärtig nur mit einigem Aufwand) zurückversetzt werden, indem die softwarebasierten Modifikationen schlicht »zurückgerechnet« werden. Aus diesem Grund können auch »gelöschte« Daten einer Festplatte wiederhergestellt werden. Die Zeit-Raum-Entbettung verweist darauf, dass zwischen der Transport- und Speicherfunktion kein bedeutsamer Unterschied mehr besteht.

Wie Bunz (2008a) in ihrer historisierenden Betrachtung des Internets feststellt, gibt es eine Verschiebung in der Funktion des Mediums von der Speicherung hin zur Verteilung. Ihre These widerspricht nicht per se der eben festgestellten Konvergenz beider Funktionen. Vielmehr gibt sie einen Hinweis darauf, dass das Primat einzelner Funktionen wechseln kann und die Konstruktionsprinzipien insgesamt Prozesscharakter aufweisen. Demgemäß sind die aus der Betrachtung des Internets als großtechnisches System und gesellschaftliches Kommunikationsmedium zu entwickelnden Kriterien daraufhin zu überprüfen, welcher Dynamik sie unterliegen. Zum anderen gibt Bunz implizit einen zweiten Hinweis: Trotz der hier angelegten makrosoziologischen Perspektive darf die Rolle der Subjekte nicht vernachlässigt werden. Denn die diagnostizierte Konvergenz der Funktionsbereiche ist eine rein technische Beschreibung; Bunz hingegen geht von den konkreten Nutzungsweisen der User aus.

3.3.4.4
Evolutionäre Entwicklung

Dem oben eingeforderten Prozesscharakter soll hier ein erstes Mal Rechnung getragen werden: Nach der weitestgehend statischen Beschreibung der drei Grundmerkmale sollen nun Aspekte der Entwicklung im Vordergrund stehen. Übereinstimmend wird von einem Modell der evolutionären Entwicklung mit identifizierbaren Phasen11 ausgegangen (vgl. Hughes 1989: 51ff.). Demgemäß sind für jedes großtechnische System die Initialphase (mit Erfindung und Innovation) und eine Phase des Wachstums, eine Phase der Konsolidierung und eine Periode der Stasis sowie des eventuellen Niedergangs identifizierbar (vgl. Mayntz 1988: 240ff. sowie Gökalp 1992: 58ff.). Die Etappen dieser Entwicklungsdynamik sind jeweils durch verschiedene Kenngrößen, wie die Anzahl der Server, die Anzahl der Homepages, die Menge des Traffics oder den Anteil der Bevölkerung, der das Internet nutzt, voneinander abgrenzbar.

Zunächst sind jedoch einige Bemerkungen zur Genese jedes großtechnischen Systems notwendig. Am Anfang steht in der Regel der erste Einsatz einer neuen Technologie. Die jeweiligen Erfindungen sind hierfür zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Für nahezu alle Systeme ist beobachtbar, dass sie trotz der bewusst geschaffenen Technologie in vielerlei Hinsicht das Ergebnis eines unvorhergesehenen Prozesses der Fortentwicklung sind. So geht es in der frühen Innovationsphase eher um die technische Machbarkeit als um ein konkret zu lösendes, umfangreiches, gesellschaftliches Problem. Neben der Funktionalität ist zu Beginn in der Regel auch die Nutzbarkeit stark eingeschränkt. Das Telefon war beispielsweise nur über kurze Distanzen funktionstüchtig und wurde als unilaterales Medium zur Musikübertragung genutzt (vgl. Mayntz 1988: 240ff.).

Die Initialphase endet mit dem Beginn der aktiven Systementwicklung. Dass es trotz anfänglicher Hürden und Widrigkeiten bei der Entwicklung einer neuen Technologie zu einem Wachstum kommt, liegt im Engagement gesellschaftlicher Kräfte jenseits von Ingenieurinnen und Ingenieuren, Entwicklerinnen und Entwicklern begründet. Damit sind vor allem wirtschaftliche und politische Interessensgruppen gemeint. In dieser Phase des Wachstums und Ausbaus spielen Standardisierungen und Normierungen eine wichtige Rolle. Ob ein eindeutiges Nummernvergabesystem für das Telefonnetz oder eine einheitliche Spurbreite für die Bahn – die Homogenisierung ist neben der kundenseitigen Nachfrage die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Verbreitung. In Abgrenzung zur vorhergehenden (Innovation) und nachfolgenden Phase (Stabilisierung) ist die Expansion durch deutlich höhere Zuwachsraten in quantitativer Hinsicht zu charakterisieren. So ist in Frankreich zum Beispiel zwischen 1870 und 1880 das Streckennetz der Bahn um gut 320 Prozent gewachsen, während es in den folgenden 40 Jahren nur um 80 Prozent zulegte (Gökalp 1992: 59). Wie bereits angedeutet, expandierte das Internet seit den 1970er Jahren moderat und ab den frühen Neunzigern aufgrund verschiedener »Killerapplikationen«12, wie der E-Mail oder eben den ersten komfortablen Web-Browsern, exponentiell. Für eine Verortung des Internets in den genannten Phasen muss untersucht werden, ob die relevanten Kennzahlen in ihrer Entwicklung noch progressiven oder bereits degressiven Zuwachsraten folgen.

Gegenwärtig befindet sich die junge Technologie im Übergang zur Konsolidierungsphase. Demgemäß zeigt die Anzahl der Hosts (Rechenzentren mit mehreren Servern und Clients) seit Mitte der 1990er Jahre konstante bis leicht sinkende Zuwachsraten. Die Zahl der weltweiten Nutzerinnen und Nutzer hingegen verlangsamt ihr Wachstum erst zwischen 2003 und 2005 (von einem »Spitzenwert« von 22 Prozent auf gegenwärtig 6 Prozent). Die Anzahl der angemeldeten Domains und der verursachte Traffic (das versendete und abgerufene Datenvolumen) steigen allerdings ungebremst weiter. Die Dynamik der Technik steht dabei in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Inhalte. Mit den Medien des Social Web rücken so »Inhalte« in den Vordergrund, die viel »näher« an den Personen sind und private Vorlieben oder Aktivitäten über das Netz kommunizieren. Gleichzeitig muss zumindest in quantitativer Hinsicht zwischen der medialen und kommunikativen Dimension unterschieden werden: Der Anteil an Internetusern ist nur bedingt aussagekräftig hinsichtlich des Anteil an gesellschaftlicher Kommunikation, der über das Internet realisiert wird. Oder anders gesagt: Wenn die Infrastruktur hochgradig ausgebaut ist, nahezu alle Bürgerinnen und Bürger einen Internetzugang haben, ist die Entwicklung keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil, dann beginnt vermutlich die spannendste Phase erst, indem sich entscheidet, welche Themen und Inhalte unter diesen optimalen technischen Bedingungen dann tatsächlich online vermittelt werden. Diese Annahme bestätigt sich mit der Betrachtung der nächsten Phase.

In der Konsolidierungs- oder Stabilisierungsphase passiert nun Folgendes: Für klassische großtechnische Systeme wie die Eisenbahn ist festzustellen, dass ihr Anteil an verschiedenen wirtschaftlichen Leistungen (etwa Transport von Gütern auf dem Land) stagniert. Während die absoluten Kennzahlen weiterhin moderat steigen, resultiert der gleichbleibende Anteil aus der Fortentwicklung der Konkurrenzsysteme (vgl. Gökalp 1992: 59f.). Für das Internet ist hingegen ein Auseinanderfallen der beiden Entwicklungen festzustellen. Während die quantitative, infrastrukturelle Ausbreitung sich gerade im Übergang zu deutlich gemäßigterem Wachstum befindet, steigt die gesellschaftliche (und damit auch wirtschaftliche) Nutzung rasant an. Der Umsatz im E-Commerce in Deutschland beispielsweise steigt kontinuierlich um über zehn Prozent (vgl. GfK 2009). Eine ähnliche Entwicklung für den Offline-Handel ist nicht zu konstatieren – im Gegenteil: Eher stellt es sich so dar, als verlagerten sich Marktanteile. Ähnliches ist auch für andere Dienste und Nutzungsweisen festzustellen. Die Zahl der versendeten E-Mails steigt rapide, Nachrichten und Informationen werden immer stärker über das Internet konsumiert und der Anteil an Freizeit, die dem Medium gewidmet wird, kratzt bereits vorsichtig an der Hegemonialstellung des Fernsehens (vgl. ARD/ZDF 2011b: online). Es sieht also danach aus, als wäre der technisch-quantitative Ausbau des Internets am Ende der Expansionsphase angelangt, während es in seiner gesellschaftlichen Nutzbarkeit noch vielseitige Potenziale aufweist. Dementsprechend ist für die an der Oberfläche sichtbaren Phänomene (etwa soziale Netzwerke) perspektivisch ein größeres Wachstum zu erwarten.

Die darauf folgende Phase des Wandels und Niedergangs ist hier nicht von Relevanz. Der Niedergang des Internets ist in weiter Ferne, jedoch verändert sich der Telekommunikationssektor stark und das Internet ist sowohl ein Resultat als auch eine Ursache dieses Wandels. Die finale Phase ist gekennzeichnet durch die Verkleinerung (also durch Rückbau) und den Bedeutungsverlust der bisherigen Leistungen für die Gesellschaft. Damit wird das großtechnische System entweder in neuere Technologien integriert oder durch diese ersetzt. Am Beispiel der Eisenbahn ersetzte (zumindest für den Individualverkehr) das Straßenverkehrssystem zu weiten Teilen den Transport auf der Schiene (vgl. Gökalp 1992: 59f.). Wie Mayntz (vgl. 1988: 253ff.) zeigt, lassen sich für diese Phase des Wandels entsprechend den einzelnen Bereichen großtechnischer Systeme retroperspektivisch bestimmte Sequenzen der Entwicklung erkennen: vom Schiffsverkehr über den Eisenbahnverkehr zum Flugverkehr oder vom optischen zum elektrischen Telegrafen, zum Telefon und schließlich zum Internet. Dabei können zwei Modi unterschieden werden: Während die Verkehrssysteme in technischer Hinsicht Parallelentwicklungen darstellen, bauen die Entwicklungen des Fernkommunikationsnetzes aufeinander auf. So können etwa Gas, Mineralöl und Strom aufgrund von sachtechnischen Unterschieden nicht in ein System integriert werden.

Für den Telekommunikationssektor sieht das anders aus: Telefon, Radio, Fernsehen und der Datentransport sind sich ihrem Gegenstand nach homogener als andere Technologien innerhalb eines Sektors großtechnischer Systeme. Damit stehen sie sich nicht nur als Konkurrenten gegenüber (wie Gas und Strom in der Stadtbeleuchtung im 19. Jahrhundert), sondern sie bauen aufeinander auf und sind damit besser entwicklungsfähig.13 Hierin besteht eine mögliche Ursache für die rasante Verbreitung des Internets. Aufgrund der Funktion des Systems als Informationsüberträger hat es nicht nur wesentliche Gemeinsamkeiten mit großtechnischen Systemen des gleichen Sektors, sondern es kann auch weiterreichende gesellschaftliche Funktionen im Sinne von Kommunikation übernehmen. Schneider (2000: 44) konstatiert, dass » […] insbesondere die Netzwerke der Informations- und Kommunikationstechnologie die Gesellschaft dermaßen durchdrungen haben und dass alle übrigen Gesellschaftsbereiche ausnahmslos in vitaler Weise von ihnen abhängen.« Die gesteigerte Intensität der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung solcher Technologien begünstigt damit den Aufstieg des in dieser Hinsicht sehr potenten Internets.

3.3.5
Zwischenfazit: Technikbasierte Eigenschaften des Internets

Das Ziel dieses Teilkapitels bildet die Analyse der grundlegenden Eigenschaften des Internets. Entsprechend der Einführung zu diesem Kapitel wird dazu angenommen, dass sich die technischen und gesellschaftlichen Aspekte des Mediums zu einer Kombination von medialen Eigenschaften der Online-Kommunikation verdichten lassen, die in der Summe einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis des Wechselverhältnisses von Gesellschaft und Internet darstellen. Will man verstehen, worin der Unterschied zwischen Internetkommunikation und dem Austausch über klassische Medien besteht, spielen die Eigenschaften des genutzten Mediums eine ausschlaggebende Rolle. Das Zwischenfazit soll hierzu einen ersten Abstraktionsschritt bilden, der die Kleinteiligkeit der Betrachtung als großtechnisches System in allgemeingültige und anschlussfähige Aussagen überführt. Welche Grundcharakteristika lassen sich also anhand der technischen Eigenschaften für das Internet finden?

Beginnend mit der Differenzierung in großtechnische Systeme erster und zweiter Ordnung, resultiert aus der Infrastrukturfunktion des Internets eine kategorische Offenheit für verschiedenste Dienste. Das Internet ist folglich keine in sich funktional geschlossene Technologie, sondern ermöglicht aufgrund seiner Konstruktion sowie der Operation mit digitalen Codes vielfältige Nutzungsweisen. Dabei ist eine zweifache Offenheit festzustellen, da externe Systeme zweiter Ordnung (wie etwa das Telefon) einerseits ihr System erster Ordnung zugunsten des Internets wechseln und andererseits fortwährend neue Dienste (E-Mail, Chat, Videotelefonie et cetera) auf Basis einer strukturell unveränderten Infrastruktur entwickelt werden.

Betrachtet man die Technizität des Internets (vor allem im Kontrast zu anderen großtechnischen Systemen), zeigt sich eine weitere Dimension der Offenheit. Diese ist allerdings auf der Ebene der zweiten Ordnung angesiedelt. So ist das Internet kein hochgradig expertenzentriertes System, sondern ermöglicht seinen Usern, jenseits vom telekommunikativen Zugang, in allen Bereichen Partizipation, Gestaltung und Integration. Demnach steht es auch Laien frei, eigene Dienste anzubieten, Informationen einzustellen oder Verknüpfungen zu erstellen. Die Reichweite und Leistungsfähigkeit des Mediums gründet also gerade nicht auf Professionalisierung und Formalisierung, sondern auf Integration und Teilhabe. In dieser Hinsicht haben die Prädikate »dezentral« und »demokratisch« ihre Berechtigung, wenngleich eine Verallgemeinerung nicht unreflektiert vorgenommen werden sollte.

Im Zuge der Analyse des Systemcharakters zeigte sich, dass größere Systeme ganz verschiedene interne Strukturen aufweisen können, wobei die Unterscheidung in vertikal oder horizontal gegliederte Systeme deutlich unterkomplex ist. Für das Internet jedenfalls ist als topologische Grundordnung ein Netz- oder Gittermodell vorfindlich. Im Unterschied zu vielen anderen großtechnischen Systemen folgt daraus, dass multidirektional kommuniziert werden kann, dass zwischen einzelnen Punkten beliebig variierende Verbindungen gewählt werden können und ferner dass von jedem Endpunkt aus theoretisch alle anderen Punkte des Netzes und damit alle Inhalte und Kommunikationsangebote erreichbar sind. Dabei gibt es weder Beschränkungen hinsichtlich der geographischen Verteilung (Entbettung in räumlicher Hinsicht), der zeitlichen Orientierung (sowohl eine echtzeitliche als auch entkoppelte Kommunikation im Sinne von Speichermedien ist möglich) sowie der Quantität im Produktions- und Rezeptionsverhältnis. Letzteres meint, dass Inhalte zwischen nur zwei Teilnehmerinnen oder Teilnehmern, aber auch nach dem one-to-many- und many-to-many-Prinzip übermittelt werden können. Die Voraussetzung hierfür ist die in der Digitalität der Codes angelegte Vervielfältigbarkeit jeder Information und eben die Netzwerkstruktur.

Damit können auf Basis der technischen Betrachtung zunächst folgende Merkmale festgehalten werden: die aus der Offenheit für interne und externe Systeme zweiter Ordnung resultierende Plattformfunktionalität, eine auf Dezentralität und soziale Offenheit basierende demokratieähnliche Integrationsfähigkeit, die auf dem topologischen Konstruktionsprinzip gründenden Eigenschaften der Aufhebung von Raum-Zeit-Bindungen sowie der unbegrenzten Reproduzierbarkeit von Inhalten und Zugängen.