10.00 Uhr, Britische Botschaft, Moskau
Als die Stunde der Abreise näher rückte, wetteiferte Roy Ascots wachsende Aufregung mit einer zunehmenden Furcht. Er hatte einen Großteil der Nacht gebetet. »Ich war mir ziemlich sicher, wie gut auch immer wir uns vorbereiten mochten, nur das Gebet würde uns durch diese Operation bringen.« Der MI6 hatte noch nie versucht, jemanden über die russische Grenze zu schmuggeln. Wenn PIMLICO allein am Treffpunkt eintraf, würde es schwer genug werden, aber wenn er, wie erwartet, seine Frau und zwei Kinder mitbrachte, waren die Erfolgsaussichten winzig. »Ich dachte: Dieser Mann wird erschossen werden. Der Plan konnte nicht funktionieren. Wir alle wussten, auf welch wackligen Beinen die ganze Sache stand. Wir lösten ein Versprechen ein, und wir mussten es tun, auch wenn wir uns auf etwas einließen, das nicht funktionieren würde. Ich schätzte die Erfolgsaussichten auf zwanzig Prozent oder niedriger.«
Ein Telegramm aus dem Century House traf ein. Die Chefs in London hatten »Anzeichen von Unsicherheit« bei der Botschaftsleitung festgestellt und eine Nachricht verfasst, »um die Kräfte zu stärken«. Sie lautete: »Die Premierministerin persönlich hat diese Operation abgesegnet und ihr volles Vertrauen in Ihre Fähigkeit zum Ausdruck gebracht, sie erfolgreich durchzuführen. Wir alle hier stehen zu einhundert Prozent hinter Ihnen und sind zuversichtlich, dass Sie Erfolg haben werden.« Ascot zeigte sie Cartledge, um »die anhaltende Genehmigung auf höchster Ebene in London« zu demonstrieren.
Dann tauchte ein weiteres, potenziell tödliches Problem auf. Um die Sowjetunion mit dem Auto zu verlassen, benötigten ausländische Diplomaten eine offizielle Genehmigung und spezielle Nummernschilder. Die offizielle Werkstatt, die solche Nummernschilder anfertigte, schloss freitags um die Mittagszeit. Gees Ford erhielt ohne Probleme neue Schilder, aber Ascots Saab wurde mit der Nachricht zurückgeschickt: »Tut uns leid. Wir können ihn nicht zulassen, weil Ihre Frau keinen Führerschein hat.« Carolines Handtasche mit ihrem sowjetischen Führerschein war im Monat zuvor gestohlen worden, und um einen neuen zu erhalten, hatte sie ihren britischen Führerschein an das Konsulat geschickt. Dieser war noch nicht zurückgegeben und auch kein neuer sowjetischer Führerschein ausgestellt worden. Diplomaten durften nicht allein fahren; ohne einen Beifahrer mit gültigem sowjetischen Führerschein konnte Ascot die offiziell erforderlichen Nummernschilder nicht bekommen. Und ohne diese Schilder konnten sie die Sowjetunion nicht verlassen. PIMLICO war im Begriff, an einem winzigen, aber unbeweglichen Felsen der russischen Bürokratie zu scheitern. Um elf Uhr vormittags, eine Stunde bevor die Verkehrsbehörden für das Wochenende schlossen, grübelte Ascot immer noch über eine Lösung nach, als ein Päckchen vom sowjetischen Außenministerium eintraf, das Carolines britischen Führerschein und einen neuen sowjetischen enthielt. »Wir hatten eine Stunde Zeit, um unser Auto noch rechtzeitig mit neuen Schildern ausstatten zu lassen. Ich konnte unser unglaubliches Glück nicht fassen.« Im Nachhinein fragte sich Ascot jedoch, ob die unerwartete und rechtzeitige Rückgabe des Führerscheins wirklich ein glücklicher Zufall war oder Teil des KGB-Komplotts: »Wir hatten das letzte Hindernis für unseren Trip überwunden, aber es sah alles sehr banal aus.«
11.00 Uhr, Lenin-Prospekt, Moskau
Gordijewski verbrachte den Vormittag damit, die Wohnung von oben bis unten zu putzen. Schon sehr bald würde der KGB sie auseinandernehmen, die Dielen herausreißen, seine Bibliothek Seite für Seite zerfetzen und jedes einzelne Möbelstück zerschlagen. Doch aus einem merkwürdigen Stolz heraus war er fest entschlossen: sein Haus sollte tipptopp aussehen, wenn sie kamen, um es zu zerstören. Er erledigte den Abwasch, räumte das Geschirr fort, wusch seine Wäsche im Spülbecken und hängte sie zum Trocknen auf. Auf dem Tresen hinterließ er zweihundertzwanzig Rubel für Leila, genug, um die Haushaltskosten für ein paar Tage zu decken. Es war eine kleine Geste – aber wofür? Dass er sich weiterhin kümmerte? Eine Entschuldigung? Bedauern? Das Geld würde wahrscheinlich nie bei ihr ankommen. Der KGB würde es sicher beschlagnahmen oder stehlen. Doch mit der peniblen Reinigung der Wohnung sandte er eine Botschaft, die vielleicht mehr über ihn aussagte, als ihm bewusst war: Gordijewski wollte für einen guten Menschen gehalten werden, er wollte, dass der KGB, den er so gründlich getäuscht hatte, ihn respektierte. Er hinterließ keine Nachricht, um sich zu rechtfertigen, keine Erklärung, warum er die Sowjetunion verraten hatte. Falls sie ihn erwischten, würde der KGB das alles aus ihm herausholen, und dieses Mal nicht mit einer Wahrheitsdroge. Er hinterließ eine makellose Wohnung und eine Menge sauberer Wäsche. Wie Mr. Harrington würde er nicht fliehen, ohne seine Wäsche gewaschen zu haben.
Dann bereitete sich Gordijewski darauf vor, das Observierungsteam des KGB ein viertes und letztes Mal abzuhängen. Alles kam auf das richtige Timing an. Wenn er die Wohnung verließ und seinen Beobachtern zu früh entwich, konnten sie am Ende herausfinden, was im Gange war, und Alarm schlagen. Brach er hingegen zu spät auf, hätte es sein können, dass er nicht genug Zeit hatte, seine Schatten loszuwerden, und würde den Bahnhof erreichen, während er den KGB noch an den Fersen hatte.
Er packte das wenige, das er mitnehmen wollte, in eine gewöhnliche Plastiktüte: eine leichte Jacke, seine dänische Ledermütze, ein Beruhigungsmittel und einen kleinen sowjetischen Straßenatlas, der die finnische Grenzregion abdeckte und zweifellos ungenau war, da das Gebiet militärisch sensibel war.
Er hatte vergessen, Schnupftabak einzupacken.
11.00 Uhr, Vaalimaa-Motel, Finnland
Auf der finnischen Seite der Operation PIMLICO verlief alles nach Plan. Das Team traf sich in einem kleinen Motel gut sechzehn Kilometer von der Grenze entfernt. Veronica Price und Simon Brown, die mit falschen Pässen reisten, waren am Abend zuvor in Helsinki eingetroffen und hatten die Nacht in einem Flughafenhotel verbracht. Martin Shawford, der junge MI6-Beamte, der für die Koordinierung in Finnland zuständig war, wartete bereits auf sie, als sie auf den Parkplatz des Motels fuhren, wenige Minuten später gefolgt von den beiden dänischen PET-Offizieren Eriksen und Larsen. Zufälligerweise waren die Fahrzeuge alle über dieselbe Autovermietung am Flughafen gebucht worden, und zu Shawfords Entsetzen standen nun drei identische Autos auf dem Parkplatz: drei knallrote nagelneue Volvos mit fortlaufenden Nummernschildern. »Das sah aus wie eine Konferenz. Es hätte kaum auffälliger sein können.« Mindestens ein Wagen würde bis zum nächsten Tag ausgetauscht werden müssen.
Der Treffpunkt auf der finnischen Seite der Grenze war ausgewählt worden, als Veronica Price den Plan erstmals formuliert hatte. Acht Kilometer nordwestlich des Grenzübergangs zweigte ein Forstweg nach rechts ab und führte in den Wald. Etwa anderthalb Kilometer weiter befand sich auf der linken Seite eine kleine Lichtung, auf der Holztransporter wendeten. Die Stelle war von Bäumen umgeben und von der Hauptstraße aus nicht einzusehen, außerdem nahe genug an der Grenze, um sicherzustellen, dass Oleg und seine Familie keine Sekunde länger als unbedingt nötig eingepfercht im Kofferraum liegen mussten, aber auch weit genug entfernt, um außerhalb des Sicherheitsbereichs der Grenze zu liegen.
Das gemeinsame MI6-PET-Team kundschaftete das Gebiet um den Treffpunkt herum gründlich aus. Der finnische Kiefernwald erstreckte sich ohne Unterbrechung in alle Richtungen. Weit und breit kein Haus in Sicht. Hier würden sie sich mit dem Fluchtteam treffen, die Flüchtlinge zügig aus den MI6-Autos in die finnischen Leihwagen umladen und sich dann in zwei Gruppen aufteilen. Das finnische Team würde sich an einem zweiten Treffpunkt in den Wäldern etwa fünfzehn Kilometer weiter wieder versammeln, wo sie den Gesundheitszustand der Flüchtlinge prüfen, ihre Kleidung wechseln und frei sprechen konnten, ohne befürchten zu müssen, in den verwanzten Diplomatenfahrzeugen belauscht zu werden. In der Zwischenzeit würde das Moskauer Team die Straße nach Helsinki nehmen und an der ersten Tankstelle warten. Das Fluchtteam würde die lange Reise nach Norden zur finnisch-norwegischen Grenze beginnen: Leila würde mit einem Kind im Auto der Dänen mitfahren, Gordijewski und das andere Mädchen mit Brown und Price. Shawford würde an der Tankstelle wieder zum Moskauer MI6-Team stoßen, sich mit Ascot und Gee beraten und von der öffentlichen Telefonzelle auf dem Vorplatz einen wichtigen Anruf tätigen.
Der Anruf würde automatisch an den Controller der Sovbloc-Sektion durchgestellt werden, der beim P5-Team im Century House wartete. Das Telefon der Tankstelle konnte vom KGB oder dem finnischen Geheimdienst überwacht werden, so dass der aktuelle Stand der Operation PIMLICO in verschleierter Sprache mitgeteilt werden müsste. Wenn Gordijewski und seine Familie in Sicherheit waren, würde Shawford sagen, sein Angelurlaub sei erfolgreich gewesen. Sollte allerdings der Fluchtversuch fehlgeschlagen sein, würde er berichten, dass er nichts gefangen habe.
Nachdem das Team den Rendezvouspunkt gründlich überprüft hatte, kehrte es nach Helsinki zurück, tauschte einen ihrer knallroten Volvos gegen ein anderes Modell und teilte sich auf verschiedene Hotels auf.
12.00 Uhr, Kutusow-Prospekt, Moskau
In den Diplomatenwohnungen packten Caroline Ascot und Rachel Gee. Sie konnten keine Kleidung mitnehmen, da der gesamte Platz in den Kofferräumen für PIMLICO und seine Familie benötigt wurde. Stattdessen stellten sie eine Reihe leerer Reisetaschen zusammen, die, mit Kissen ausgestopft, realistisch sperrig aussahen, aber flach zusammengefaltet werden konnten, wenn sie leer waren. Die Fluchtausrüstung, die sieben Jahre zuvor zusammengestellt worden war, wurde aus dem Safe der britischen Botschaft geholt: Wasserflaschen und Kindertrinkbecher aus Plastik (aus denen die Mädchen im beengten Kofferraum leichter trinken konnten), zwei große leere Flaschen zum Urinieren und vier »Weltraumdecken«, dünne wärmereflektierende Plastikfolien, die den Wärmeverlust bei Unterkühlung oder Anstrengung verringern sollen. Man ging außerdem davon aus, dass Wärmesensoren und Infrarotkameras an der sowjetischen Grenze in der Lage wären, einen versteckten Körper aufzuspüren, aber niemand im MI6 war sicher, wie diese Technologie funktionierte oder ob sie wirklich existierte. Die Flüchtenden mussten sich bis auf die Unterwäsche ausziehen, bevor sie die Decken über sich zogen; es würde heiß werden im Kofferraum, und je weniger sie schwitzten, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, das Interesse der Spürhunde zu wecken.
Caroline stellte Utensilien für ein Picknick zusammen – Korb, Decken, Sandwiches und Kartoffelchips –, das sie zur Tarnung auf dem Rastplatz veanstalten konnten. Es konnte dauern, bis die Flüchtlinge aus ihrem Versteck auftauchten. Sie konnten den Treffpunkt mit Verspätung erreichen. Auf dem Rastplatz konnten sich andere Personen aufhalten, die vielleicht misstrauisch wurden, wenn vier Ausländer ohne ersichtlichen Grund auftauchten. Die beiden Paare brauchten eine harmlose Erklärung für das Verlassen der Straße, und ein englisches Picknick wäre die perfekte Tarnung. Caroline hatte auch eine Reisetasche für Florence vorbereitet, darin Kleidung, Babynahrung und Ersatzwindeln. Rachel Gee brachte ihre beiden kleinen Kinder und die Schwiegermutter in den Park. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen und griff sich ins Kreuz, als hätte sie Schmerzen. Ihre Vorstellung war so überzeugend, dass Gees Mutter ihn fragte: »Bist du sicher, dass sie nicht krank ist? Für mich sieht sie überhaupt nicht gesund aus, weißt du.«
15.00 Uhr, Britische Botschaft, Moskau
Der stellvertretende Marineattaché, einer von mehreren Militärexperten der Botschaft, nach einem Finnland-Trip wieder in Moskau, hatte ihnen versehentlich einen Bärendienst erwiesen. Er berichtete, dass er von den KGB-Grenzschützern in Wiborg sowohl bei der Ausreise als auch bei der Wiedereinreise in die Sowjetunion in die Mangel genommen worden war. Entgegen allen diplomatischen Gepflogenheiten hätten die Grenzschützer sein Auto durchsuchen wollen, und der Attaché hatte nicht widersprochen. »Dieser dumme Mensch hatte zugelassen, dass sie einen Hund durch den Wagen laufen ließen«, wetterte Ascot. Wenn die Grenzschützer auf Absprachen pfiffen und britische Diplomatenfahrzeuge mit Spürhunden durchsuchten, war der Fluchtplan geliefert. Der Attaché hatte unwissentlich einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen, und das zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt.
Ascot fälschte in aller Eile eine formelle diplomatische Protestnote des Botschafters an das Außenministerium, in der er sich über die Durchsuchung des Autos des Attachés beschwerte und sich darauf versteifte, dass damit die britische diplomatische Immunität verletzt worden sei. Die Note wurde nicht abgeschickt, aber Ascot nahm eine Kopie davon mit, aus der hervorging, dass sie abgeschickt worden war, zusammen mit einer Übersetzung der relevanten Klauseln der Wiener Diplomatenrechts-Konvention ins Russische. Sollte der KGB versuchen, die Autos an der Grenze zu durchsuchen, würde er den gefälschten Brief zücken. Allerdings gab es keine Garantie, dass es funktionieren würde: Wenn die Grenzschützer sehen wollten, was sich im Kofferraum der Autos befand, würde sie kein noch so großer offizieller Protest davon abhalten.
Eine Formalität blieb noch zu erledigen. Violet, die Sekretärin des MI6, tippte eine Kopie der Fluchtanweisungen auf löslichem Papier ab. Falls der KGB sie verhaften sollte, konnte man das Aide-Mémoire »in Wasser auflösen oder, was am unangenehmsten war, sich in den Mund stecken«. Im äußersten Notfall konnte das MI6-Team die Operation PIMLICO aufessen.
16.00 Uhr, Lenin-Prospekt, Moskau
Gordijewski zog einen dünnen grünen Pullover, eine verblichene grüne Cordhose und alte braune Schuhe an, die er aus dem hintersten Teil des Schranks hervorgekramt hatte, in der Hoffnung, dass sie nicht mit radioaktivem Staub oder einer anderen Chemikalie kontaminiert waren, die zur Alarmierung von Spürhunden verwendet wurde. Das Outfit war seinem grünen Trainingsanzug wahrscheinlich so ähnlich, dass der Pförtner (und die KGB-Beobachter) annehmen würden, er wolle joggen gehen. Er schloss seine Wohnungstür ab. Der KGB würde sie in ein paar Stunden wieder öffnen. »Ich schloss nicht nur die Tür zu meiner Wohnung und meinem Besitz, sondern auch zu meiner Familie und meinem bisherigen Leben.« Er nahm keine Erinnerungsfotos oder andere emotionale Erinnerungsstücke mit. Er rief weder seine Mutter noch seine Schwester zum Abschied an, obwohl er wusste, dass er sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Er hinterließ keine Erklärung oder Rechtfertigung. Er tat nichts, was an dem außergewöhnlichsten Tag seines Lebens ungewöhnlich hätte erscheinen können. Der Concierge blickte nicht auf, als er durch die Eingangshalle ging. Er hatte noch genau anderthalb Stunden, um seinen Schatten zum letzten Mal abzuschütteln und quer durch Moskau zum Leningrader Bahnhof zu gelangen.
Bislang hatte er immer im nahe gelegenen Einkaufsviertel begonnen, sich seine Verfolger vom Hals zu schaffen. Diesmal überquerte er die Straße und ging auf der anderen Seite in ein Waldgebiet, das sich über die gesamte Länge der Allee erstreckte. Sobald er die Straße nicht mehr sehen konnte, begann er zu joggen und steigerte sein Tempo stetig, bis er fast sprintete. Der fette KGB-Überwacher würde niemals mithalten können. Am Ende des Parks überquerte er die Straße, kehrte um und betrat die Geschäfte von der anderen Seite. Plastiktüten waren selten genug, um aufzufallen, also kaufte er eine billige Kunstledertasche, stopfte seine wenigen Sachen hinein und verließ das Geschäft durch den Hinterausgang. Dann ging er methodisch und sorgfältig die gesamte Palette der Observierungs-Umgehung durch: Er sprang in einen U-Bahn-Zug, gerade als sich die Tür schloss, stieg zwei Haltestellen später aus, wartete auf den nächsten Zug und vergewisserte sich, dass alle Fahrgäste auf dem Bahnsteig eingestiegen waren, bevor er die Türen schließen ließ und einen Zug in die entgegengesetzte Richtung nahm; stahl sich eine Straße hinunter, kehrte um und ging eine andere hinauf, betrat ein Geschäft durch einen Eingang und verließ es dann durch einen anderen.
Auf dem Leningrader Bahnhof wimmelte es von Menschen und Polizei. Zufällig strömten gerade 26 000 junge Linke aus 157 Ländern nach Moskau, um an den 12. Weltfestspielen der Jugend und Studenten teilzunehmen, die in der folgenden Woche beginnen sollten und als Feier der »antiimperialistischen Solidarität, des Friedens und der Freundschaft« angekündigt waren. Auf einer Massenkundgebung würde Gorbatschow zu ihnen sprechen: »Hier, in der Heimat des großen Lenin, kann man unmittelbar spüren, wie sehr sich unsere jungen Menschen den edlen Idealen von Menschlichkeit, Frieden und Sozialismus verpflichtet fühlen.« Die meisten Besucher der Festspiele waren nicht wegen Lenin gekommen, sondern wegen der Musik: Zu den auftretenden Künstlern gehörte Dean Reed, der in Amerika geborene prosowjetische Sänger, der sich hinter dem Eisernen Vorhang niedergelassen hatte, das britische Pop-Duo Everything But the Girl und Bob Dylan, der von dem sowjetischen Dichter Andrei Wosnessenski eingeladen worden war. Viele der jugendlichen Delegierten reisten über Finnland aus Skandinavien an. Gordijewski wurde nervös, als er Bereitschaftspolizei auf dem Bahnhof patrouillieren sah, versuchte dann aber, sich zu beruhigen: Bei so vielen Menschen, die über die nördliche Grenze ins Land kamen, waren die Grenzschützer vielleicht zu beschäftigt, um den in die Gegenrichtung fahrenden Diplomatenfahrzeugen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Er kaufte an einem Stand Brot und Wurst. Soweit er das beurteilen konnte, folgte ihm niemand.
Der Nachtzug nach Leningrad bestand größtenteils aus Schlafwagen der vierten Klasse mit je sechs Kojen pro Abteil, die zum Gang hin offen waren. Gordijewski stellte fest, dass er die oberste Schlafkoje hatte. Er holte sich saubere Laken und bezog sein Bett. Die Schaffnerin, eine Studentin, die sich in den Ferien etwas dazuverdiente, schien ihm keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Um Punkt 17.30 Uhr fuhr der Zug ab. Die nächsten paar Stunden lag Gordijewski auf der Pritsche, kaute sein spärliches Abendessen und versuchte, ruhig zu bleiben, während seine Mitreisenden unter ihm mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt waren. Er nahm zwei Beruhigungstabletten und fiel Augenblicke später in einen tiefen Schlaf, der sich aus geistiger Erschöpfung, Angst und Chemie zusammensetzte.
17.00 Uhr, Britische Botschaft, Moskau
Der Antrittsempfang des Botschafters war ein großer Erfolg. Sir Bryan Cartledge, der am Vorabend eingetroffen war, hielt eine kurze Rede, von der sich die MI6-Gruppe an kein einziges Wort erinnern konnte. Rachel blieb zu Hause, stöhnte für die versteckten Mikrofone und stieß gelegentlich einen »Schluchzer« aus. Nach einer Stunde diplomatischen Geplauders unter den Kronleuchtern entschuldigten sich die beiden Geheimdienstoffiziere und erklärten, sie müssten über Nacht nach Leningrad fahren, um Rachel dann zu einem Arzt nach Finnland zu bringen. Von den Anwesenden kannten nur der Botschafter, der Gesandte David Ratford und die MI6-Sekretärin Violet Chapman den wahren Grund ihrer Reise. Am Ende der Party holte Violet das PIMLICO-»Medikamentenpaket« aus dem MI6-Safe in der Botschaft und übergab es Ascot: Beruhigungstabletten für die Erwachsenen und Spritzen, um zwei verängstigte kleine Mädchen ruhigzustellen.
Während die Männer am Kutusow-Prospekt die Autos beluden, ging Rachel ins Schlafzimmer, in dem ihre Kinder schliefen, und gab ihnen einen Gutenachtkuss. Sie fragte sich, wann sie sie wohl wiedersehen würde. »Wenn wir geschnappt werden«, überlegte sie, »werden wir für sehr lange Zeit festsitzen.« Gee begleitete seine sich mit steifem Rücken nur humpelnd fortbewegende Frau zu dem Ford Sierra und verstaute sie auf dem Beifahrersitz.
Gegen 23.15 Uhr bog der Zweierkonvoi auf die breite Allee ein und fuhr Richtung Norden, wobei Gee mit dem Ford die Führung übernahm, während Ascot in seinem Saab folgte. Beide Paare hatten für die lange Reise nach Helsinki einen umfangreichen Vorrat an Musikkassetten mitgenommen.
Nur ein Überwachungswagen des KGB eskortierte sie nach Sokol am Stadtrand und bog dann ab. Als sie auf die breite Autobahn fuhren, konnten weder Ascot noch Gee irgendwelche offensichtlichen Überwachungsfahrzeuge entdecken. Das war nicht unbedingt beruhigend. Ein Verfolgungswagen war nicht die einzige Methode des KGB zur Überwachung von Fahrzeugen. Entlang jeder Hauptstraße befanden sich in regelmäßigen Abständen Reviere der Verkehrspolizei, die registrierten, wenn ein unter Überwachung stehendes Auto vorbeifuhr, dann über Funk den nächsten Posten alarmierten und bei Bedarf den Kontakt zu Observierungsfahrzeugen aufrechterhielten, die möglicherweise außer Sichtweite eingesetzt wurden.
Im Inneren der Fahrzeuge herrschte eine bizarre, angespannte Atmosphäre. Da man davon ausging, dass die Fahrzeuge verwanzt waren und den Ton aufnahmen oder an einen unsichtbaren Funkwagen weiterleiteten, mussten sie ihre Rollen weiterspielen. Die Inszenierung ging in den zweiten, mobilen Akt. Rachel beklagte sich über ihren schmerzenden Rücken. Ascot schimpfte, dass er mit einem kleinen Baby Hunderte von Kilometern fahren musste, kaum dass der neue Botschafter eingetroffen war. Niemand erwähnte die Flucht oder den Mann, der, wie sie alle hofften, gerade in einem Zug saß, der Richtung Leningrad rumpelte.
»Das kann nur eine Falle sein«, sinnierte Gee, als Rachel einschlief. »Wir können unmöglich damit durchkommen.«
Samstag, 20. Juli
3.30 Uhr, Zug Moskau – Leningrad
Gordijewski wachte in der unteren Koje auf, hatte rasende Kopfschmerzen und wusste für einen langen, unwirklichen Moment nicht, wo er war. Ein junger Mann schaute mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck von der oberen Pritsche zu ihm herunter: »Du bist rausgefallen«, sagte er. Die Beruhigungsmittel hatten Gordijewski in einen so tiefen Schlaf versetzt, dass er, als der Zug plötzlich bremsen musste, aus der Koje gerollt und auf dem Boden gelandet war, wobei er sich eine Platzwunde an der Schläfe zugezogen hatte. Sein Pullover war blutverschmiert. Er trat schwankend auf den Gang hinaus, um Luft zu schnappen. Im benachbarten Abteil war eine Gruppe junger Frauen aus Kasachstan in ein angeregtes Gespräch vertieft. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch als er das tat, schreckte eine der Frauen entsetzt zurück: »Wenn du auch nur ein Wort zu mir sagst, schreie ich.« Erst da wurde ihm bewusst, wie er aussehen musste: ungepflegt, blutbespritzt und unsicher auf den Beinen. Er wich zurück, schnappte sich seine Tasche und zog sich ans Ende des Gangs zurück. Es war noch mehr als eine Stunde Zeit, bis der Zug Leningrad erreichte. Würden die anderen Fahrgäste ihn als betrunken melden? Er machte sich auf die Suche nach der Schaffnerin, gab ihr einen Fünf-Rubel-Schein und sagte: »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, obwohl sie nichts weiter getan hatte, als ihm sein Bettlaken zu geben. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, der einen Hauch von Vorwurf zu enthalten schien. Aber das Geld steckte sie trotzdem ein. Der Zug ratterte weiter durch die schwindende Dunkelheit.
4.00 Uhr, Autobahn Moskau – Leningrad
Etwa auf halber Strecke nach Leningrad, in den Waldaihöhen, fuhr das Fluchtteam in einen spektakulären Tagesanbruch, der Ascot schwärmerisch werden ließ: »Ein dichter Nebel war von den Seen und Flüssen aufgestiegen und breitete sich in langen Bändern entlang der Hügel und zwischen den Bäumen und Dörfern aus. Aus diesen schäumenden violetten und rosafarbenen Schwaden formte sich das Land langsam zu festen Gebilden. Drei sehr helle Planeten leuchteten in geradezu perfekter Symmetrie, einer zur Linken, einer zur Rechten und einer direkt geradeaus. Wir kamen an einsamen Gestalten vorbei, die bereits Heu mähten, Kräuter pflückten oder Kühe zum Weiden auf die Hänge und in die Schluchten der Allmende führten. Es war ein überwältigender Anblick, ein wahrhaft idyllischer Moment. Es war schwer vorstellbar, dass aus einem Tag mit solch einem Anfang etwas Schlimmes entstehen könnte.«
Florence schlief glücklich auf der Rückbank. Ascot, ein gläubiger Katholik und spiritueller Mann, dachte: »Wir befinden uns auf einer Linie, und wir sind ihr verpflichtet – es gibt nur die eine Linie, und das ist die, auf der wir gehen müssen.«
Im zweiten Wagen erlebten Arthur und Rachel Gee ihren eigenen transzendenten Moment, als die Sonne über dem Horizont aufging und das nebelverhangene russische Hochland vom Licht durchflutet wurde.
Das Album Brothers in Arms der Dire Straits lief auf dem Kassettendeck, und Mark Knopflers virtuoses Gitarrenspiel schien die Morgendämmerung zu erfüllen. »Zum ersten Mal dachte ich: Das hier wird gut ausgehen«, erinnerte sich Rachel.
In diesem Moment schob sich ein brauner Lada, das Standard-Überwachungsfahrzeug des KGB, in einer Entfernung von knapp hundert Metern hinter den Konvoi. »Wir wurden verfolgt.«
5.00 Uhr, Hauptbahnhof Leningrad
Gordijewski gehörte zu den ersten Passagieren, die ausstiegen, als der Zug einfuhr. Er ging zügig zum Ausgang und wagte es nicht, nach hinten zu schauen, um zu sehen, ob die Schaffnerin bereits mit dem Bahnhofspersonal sprach und auf den seltsamen Mann deutete, der aus seiner Koje gefallen war und ihr dann ein besonders großzügiges Trinkgeld gegeben hatte. Vor dem Bahnhof gab es keine Taxis. Aber eine Reihe von Privatautos fuhren herum, deren Fahrer um Fahrgäste buhlten. Gordijewski stieg in eines ein: »Zum Finnländischen Bahnhof«, sagte er.
Er kam um 5.45 Uhr am Finnländischen Bahnhof an. Der nahezu menschenleere Platz davor wurde von einer riesigen Lenin-Statue dominiert, die an den Moment im Jahr 1917 erinnerte, als der große Revolutionstheoretiker aus der Schweiz eintraf, um das Kommando über die Bolschewiki zu übernehmen. In der kommunistischen Überlieferung ist der Finnländische Bahnhof ein Symbol für die revolutionäre Freiheit und die Geburt der Sowjetunion; für Gordijewski repräsentierte er ebenfalls den Weg in die Freiheit, allerdings, in jeder Hinsicht, in die entgegengesetzte Richtung als die Lenins.
Der erste Zug Richtung Grenze fuhr um 7.05 Uhr ab. Er würde ihn bis nach Selenogorsk bringen, fünfzig Kilometer nordwestlich von Leningrad und auf etwas mehr als einem Drittel der Strecke bis zur finnischen Grenze. Von dort aus konnte er einen Bus nehmen, der ihn über die Hauptstraße Richtung Wiborg brachte. Gordijewski stieg ein und tat so, als schliefe er sofort ein. Der Zug war unerträglich langsam.
7.00 Uhr, KGB-Hauptquartier, Innenstadt von Moskau
Es ist nicht klar, wann genau der KGB bemerkte, dass Gordijewski verschwunden war. Aber im Morgengrauen des 20. Juli muss das Überwachungsteam der Ersten Hauptverwaltung (chinesische Abteilung) ernsthaft besorgt gewesen sein. Er war zuletzt am Freitagnachmittag gesehen worden, als er mit einer Plastiktüte in den Wald am Lenin-Prospekt joggte. Bei den drei vorangegangenen Gelegenheiten, bei denen er verschwunden war, war Gordijewski innerhalb weniger Stunden wieder aufgetaucht. Dieses Mal war er nicht in seine Wohnung zurückgekehrt. Er war weder bei seiner Schwester noch bei seinem Schwiegervater noch bei seinem Freund Ljubimow noch bei einer anderen bekannten Adresse.
Zu diesem Zeitpunkt wäre es am sinnvollsten gewesen, Alarm zu schlagen. Der KGB hätte dann eine sofortige Fahndung einleiten, Gordijewskis Wohnung nach Hinweisen auf seinen Verbleib durchsuchen, alle Freunde und Verwandten zum Verhör heranziehen, die Überwachung des britischen diplomatischen Personals verdoppeln und schließlich jeden Fluchtweg auf dem Luft-, See- und Landweg sperren können. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass das Überwachungsteam dies am Morgen des 20. Juli getan hat. Stattdessen scheinen sie das getan zu haben, was Opportunisten in jeder Autokratie tun, in der Versagen bestraft wird: Sie taten gar nichts und hofften, das Problem würde sich von selbst erledigen.
7.30 Uhr, Leningrad
Das MI6-Exfiltrationsteam parkte vor dem Leningrader Hotel Astoria. Der braune KGB-Observierungswagen war ihnen bis in die Leningrader Innenstadt gefolgt, bevor er verschwand. »Ich nahm an, dass wir einen neuen Schatten hatten«, schrieb Ascot. Sie öffneten die Kofferräume ihrer Autos und »stöberten demonstrativ darin herum, um den Überwachern zu zeigen, dass wir nichts zu verbergen hatten und die Kofferräume tatsächlich voller Gepäck waren«. Während Gee und die beiden Frauen hineingingen, um das Baby zu füttern und zu frühstücken (»ekelhafte hartgekochte Eier und knochentrockenes Brot«), blieb Ascot in seinem Auto und tat, als ob er schliefe. »Der KGB schnüffelte herum, und ich wollte nicht, dass jemand hineinschaute.« Zwei Männer näherten sich nacheinander dem Auto und spähten durchs Fenster hinein; beide Male tat Ascot so, als würde er aus dem Schlaf schrecken, und starrte sie zornig an.
Er schätzte, dass sie für die 160 Kilometer nach Norden bis zum Rastplatz etwa zwei Stunden benötigen würden. Also würden sie Leningrad um 11.45 Uhr verlassen müssen, um rechtzeitig zum Treffen um 14.30 Uhr dort zu sein. Das Auto, das sie bis Leningrad beschattet hatte, und die neugierigen Typen, die sich um das Auto herumdrückten, deuteten auf ein beunruhigendes Maß an Interesse des KGB hin. »In diesem Moment wusste ich, dass sie uns bis zur Grenze folgen würden, und das nahm mir die Begeisterung.« Die leistungsstarken westlichen Autos könnten ein einzelnes sowjetisches KGB-Auto durchaus abhängen und einen Vorsprung herausholen, der groß genug war, um unbemerkt auf den Rastplatz abbiegen zu können. Aber was, wenn der KGB auch ein Überwachungsfahrzeug vorausschickte, wie er es manchmal tat? Wenn PIMLICO nicht in der Lage gewesen war, die Überwachung abzuschütteln, konnten sie in einen Hinterhalt fahren. »Ich befürchtete vor allem, dass zwei KGB-Überwachungsgruppen planten, sich in einer Zangenbewegung am Rendezvouspunkt zu treffen. Mein verbliebener Optimismus verflüchtigte sich schnell.«
Ascot schlug vor, die verbleibenden zwei Stunden mit einer ironischen Pilgerfahrt zum Smolny-Institut und dem Smolny-Kloster zu nutzen, einer der am meisten verehrten Stätten des Kommunismus. Ursprünglich war das Smolny-Institut für adelige Mädchen eine der ersten Schulen in Russland, in der Frauen (ausschließlich Aristokratinnen) unterrichtet würden. Das große klassizistische Gebäude wurde während der Oktoberrevolution von Lenin als Hauptquartier genutzt, anschließend war es der Sitz der bolschewistischen Regierung, bis diese 1918 in den Moskauer Kreml wechselte. Es wurde mit dem gefüllt, was Ascot »Leniniana« nannte.
In den Gärten des Smolny setzten sich die vier auf eine Bank und beugten sich ostentativ über einen Reiseführer. »Es war ein letzter Kriegsrat, bei dem noch einmal alles durchgegangen wurde«, sagte Ascot. Wenn sie den Treffpunkt erfolgreich erreichten, musste der Inhalt des Kofferraums umgeräumt werden, um die Passagiere unterzubringen. Rachel würde das Picknick vorbereiten, während die Männer das Gepäck aus dem Kofferraum räumten. Caroline ging unterdessen mit Florence auf dem Arm zur Zufahrt des Rastplatzes und überwachte die Straße. »Wenn ihr irgendetwas verdächtig vorkommen sollte, würde sie ihr Kopftuch abnehmen.« Aber wenn die Luft rein war, würde Gee die Motorhaube seines Wagens öffnen, um PIMLICO zu signalisieren, dass es sicher war auszusteigen. Da möglicherweise versteckte Mikrofone alles mithören würden, sollte die Übernahme wortlos erfolgen. Falls er allein kam, würde er im Kofferraum von Gees Auto versteckt. Die Federung des Ford war höher eingestellt als die des Saab, und das zusätzliche Gewicht des Körpers würde etwas weniger auffallen. »Arthur würde den Rastplatz als Erster verlassen«, schrieb Ascot. »Und ich würde Rückendeckung geben, um auf jeden Fall zu verhindern, dass der Kofferraum gerammt wurde.«
Lenins Revolutionshauptquartier schien ein geeigneter Ort zu sein, um Pläne zu schmieden. »Das zeigte dem KGB wirklich den Mittelfinger.«
Bevor sie für die letzte Etappe wieder in ihre Autos stiegen, schlenderten sie hinunter ans Ufer der Newa und betrachteten, wie der Fluss an einem verlassenen Hafenkai vorbeizog, »der mit rostigen Bussen ohne Räder übersät war und wo aufgerissene Zellophanballen im Fluss trieben«. Ascot meinte, dass sei doch eine gute Gelegenheit für einen kurzen Austausch mit dem Allmächtigen. »Jeder von uns vieren hatte einen Moment der Besinnung. Wir fühlten uns sehr mit etwas Jenseitigem verbunden – und das hatten wir auch nötig.«
Am Stadtrand von Leningrad kamen sie an einem großen Posten der Verkehrspolizei mit einem Wachturm vorbei. Augenblicke später folgte ihnen ein blauer Lada mit zwei männlichen Insassen und einer großen Funkantenne. »Das war ein wirklich deprimierender Anblick«, schrieb Ascot. »Aber es sollte noch schlimmer kommen.«
8.25 Uhr, Selenogorsk
Gordijewski stieg aus dem Zug und schaute sich um. Die Stadt Selenogorsk, die bis 1948 unter ihrem finnischen Namen Terijoki bekannt war, erwachte gerade, und der Bahnhof war belebt. Es schien unmöglich, dass man ihm hierher gefolgt war, aber in Moskau musste das Überwachungsteam inzwischen Alarm geschlagen haben. Der Grenzposten in Wiborg, achtzig Kilometer nordwestlich, konnte bereits in Alarmbereitschaft sein. Der Fluchtplan sah vor, den Rest der Strecke mit dem Bus zurückzulegen und am Kilometerstein 836 auszusteigen, 836 Kilometer von Moskau entfernt und fünfundzwanzig Kilometer vor der Grenzstadt. Am Busbahnhof kaufte er eine Fahrkarte nach Wiborg.
Der alte Bus war halb voll, und als er aus Selenogorsk hinausschnaufte, versuchte Gordijewski, es sich auf dem harten Sitz bequem zu machen, und schloss die Augen. Ein junges Paar nahm den Platz vor ihm ein. Sie waren gesprächig und freundlich. Außerdem waren sie schon um neun Uhr morgens sturzbetrunken auf eine Art, für die Russland fast einzigartig ist. »Wohin fahren Sie?«, hicksten sie. »Woher kommen Sie?« Gordijewski nuschelte eine Antwort. Wie Betrunkene, die ein Gespräch suchen, es eben machen, stellten sie die gleiche Frage wieder, nur lauter diesmal. Er antwortete, er sei zu Besuch bei Freunden in einem Dorf in der Nähe von Wiborg, wobei er einen Namen aus seinem Studium des Mini-Atlas kramte. Selbst in seinen eigenen Ohren klang das wie eine glatte Lüge. Aber das Pärchen schien zufrieden, denn sie plapperten belangloses Zeug vor sich hin und standen nach etwa zwanzig Minuten auf, winkten ihm noch einmal fröhlich zu und stiegen aus.
Dichte Wälder säumten beide Straßenseiten, Nadelbäume gemischt mit Birken und Espen, unterbrochen von einer gelegentlichen Lichtung mit Picknicktischen. Hier konnte man sich leicht verirren, aber auch gut verstecken. Touristenbusse rollten in die entgegengesetzte Richtung und brachten skandinavische Jugendliche zu dem Musikfestival. Gordijewski bemerkte eine große Zahl von Militärfahrzeugen, darunter auch gepanzerte Mannschaftswagen. Das Grenzgebiet war stark militarisiert, und anscheinend lief gerade eine Art Übung.
Die Straße schwenkte in einer weiten Kurve nach rechts, und plötzlich schienen die Fotos, die Veronica Price ihm so oft gezeigt hatte, lebendig zu werden. Er hatte den Kilometerstein nicht gesehen, war sich aber sicher, dass dies der richtige Ort war. Er sprang auf und spähte aus dem Fenster. Der Bus war jetzt fast leer, und der Fahrer sah ihn im Rückspiegel fragend an. Er hielt den Bus an. Gordijewski zögerte. Der Bus setzte sich wieder in Bewegung. Gordijewski eilte den Gang hinauf, eine Hand vor dem Mund. »Tut mir leid, mir ist übel. Könnten Sie mich aussteigen lassen?« Gereizt hielt der Fahrer noch einmal an und öffnete die Tür. Als der Bus wieder losfuhr, beugte sich Gordijewski über den Straßengraben und tat, als ob er sich übergeben müsste. Er erregte viel zu viel Aufsehen. Mindestens ein halbes Dutzend Leute würde sich jetzt deutlich an ihn erinnern: die Zugschaffnerin, der Mann, der ihn ohnmächtig auf dem Boden des Abteils gefunden hatte, das betrunkene Paar und der Busfahrer, der sich sicherlich an einen Fahrgast erinnern würde, dem schlecht war und der nicht zu wissen schien, wohin er wollte.
Bis zur Einfahrt auf den Rastplatz, die durch den markanten Felsen gekennzeichnet war, waren es noch etwa dreihundert Meter. Sie mündete in eine breite D-förmige Schleife von hundert Metern Länge, die zur Straße hin von Bäumen und dichtem Gestrüpp gesäumt war. Ein Militärweg an der breitesten Stelle des D führte tiefer in den Wald hinein. Der Untergrund des Rastplatzes war knochentrocken, aber der Boden drum herum war sumpfig. Es wurde allmählich warm, und die Erde sonderte einen stechenden, fauligen Geruch ab. Er hörte das Summen einer Mücke und spürte den ersten Stich. Dann noch einen. Der Wald schien unheimlich still zu sein. Es war erst 10.30 Uhr. Die Fluchtfahrzeuge des MI6 würden, wenn überhaupt, erst in vier Stunden eintreffen.
Angst und Adrenalin können eine seltsame Wirkung auf Verstand und Appetit haben. Gordijewski hätte im Gestrüpp versteckt bleiben sollen. Er hätte sich die Jacke über den Kopf ziehen und die Mücken ihr Unwesen treiben lassen sollen. Er hätte abwarten sollen. Stattdessen tat er etwas, das rückblickend betrachtet fast wahnsinnig war.
Er beschloss, nach Wiborg zu gehen und etwas zu trinken.
12.00 Uhr, Fernstraße von Leningrad nach Wiborg
Die beiden MI6-Autos ließen mit dem blauen KGB-Lada im Schlepptau die Außenbezirke von Leningrad hinter sich, als ein sowjetischer Polizeiwagen sich vor Ascots Saab und damit an die Spitze des kleinen Konvois setzte. Wenige Augenblicke später kam ihnen ein zweites Polizeiauto aus der anderen Richtung entgegen, hupte, wendete und reihte sich hinter dem KGB-Wagen ein. Ein viertes Fahrzeug, ein senffarbener Lada, reihte sich am Ende der Kolonne ein. »Wir wurden in die Zange genommen«, sagte Ascot. Er wechselte einen besorgten Blick mit Caroline, sagte aber nichts.
Etwa fünfzehn Minuten später gab der vorausfahrende Polizeiwagen plötzlich Gas. Im selben Moment beschleunigte auch der KGB-Wagen, überholte die beiden britischen Autos und setzte sich an die Spitze. Zwei Kilometer weiter wartete das erste Polizeifahrzeug in einer Seitenstraße. Nachdem der Konvoi vorbeigefahren war, fuhr es los und übernahm die Nachhut. Wieder war der Konvoi eingekeilt, jetzt aber mit dem KGB an der Spitze und den beiden Polizeiautos dahinter. Ein klassisches sowjetisches Machtspiel fand hier statt, per Funk koordiniert und als bizarrer motorisierter Tanz aufgeführt: »Der KGB hatte zur Polizei gesagt: ›Ihr könnt bleiben, aber wir werden diese Operation leiten.‹«
Unabhängig davon, in welcher Reihenfolge sie fahren würden, war dies eine Überwachung, die nicht zu verschleiern versucht wurde. Ascot fuhr bedrückt weiter. »Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, wir befänden uns inmitten einer Zangenbewegung. Ich sah uns auf den Rastplatz einbiegen und dort auf ein Empfangskomitee stoßen, eine Menge Uniformierter, die aus dem Gebüsch kämen.«
Die Grenze rückte immer näher. »Ich hatte keinen Plan, wie ich mit einer solchen Situation umgehen sollte: Ich war nicht mal auf den Gedanken gekommen, dass wir uns auf den Rendezvouspunkt zubewegen könnten, während der KGB einige Meter vor und direkt hinter uns fuhr.« Mit einem Auto vor und drei hinter sich wäre es unmöglich, auf den Rastplatz abzubiegen. »Falls die am Treffpunkt noch bei uns sind«, dachte Ascot, »müssen wir abbrechen.« PIMLICO und seine Familie – falls er sie mitgebracht hatte – würden im Stich gelassen. Immer vorausgesetzt, er hatte Moskau überhaupt je verlassen.
12.15 Uhr, eine Gaststätte südlich von Wiborg
Das erste Auto auf der Straße Richtung Wiborg war ein Lada, der hilfsbereit anhielt, als Gordijewski seinen Daumen hob. Trampen war in Russland weit verbreitet und wurde von den sowjetischen Behörden gefördert. Selbst in einer Militärzone wirkte ein einsamer Anhalter nicht unbedingt verdächtig. Der junge Fahrer war adrett gekleidet. Möglicherweise war er vom Militär oder vom KGB, überlegte Gordijewski, aber falls dem so war, war er bemerkenswert uninteressiert, stellte keine einzige Frage und hörte den ganzen Weg bis zum Stadtrand laute westliche Popmusik. Als Gordijewski ihm drei Rubel für die kurze Fahrt anbot, nahm der Mann das Geld wortlos an und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wenige Minuten später nahm Gordijewski ein schönes Mittagessen zu sich: zwei Flaschen Bier und einen Teller mit gebratenem Hähnchen.
Die erste Flasche Bier war hinuntergespült, und Gordijewski verspürte eine köstliche Schläfrigkeit, als das Adrenalin abklang. Die Hähnchenkeule gehörte zu dem Schmackhaftesten, was er je gegessen hatte. Die leere Gaststätte am Rand von Wiborg wirkte völlig unscheinbar, eine Blase aus Glas und Plastik. Die Kellnerin hatte ihn kaum angesehen, als sie seine Bestellung aufgenommen hatte. Er fühlte sich nicht unbedingt sicher, aber auf eine seltsame Art ruhig und mit einem Mal auch sehr erschöpft.
Wiborg hatte im Laufe der Jahrhunderte immer wieder die Nationalität gewechselt, von Schweden zu Finnland zu Russland, dann zur Sowjetunion, zurück zu Finnland und schließlich wieder zur Sowjetunion. Im Jahr 1917 war Lenin an der Spitze seiner Bolschewiki durch die Stadt gezogen. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten in der 80 000 Einwohner zählenden Stadt neben der finnischen Mehrheit auch Schweden, Deutsche, Russen, Sinti und Roma, Tataren und Juden gelebt. Während des Winterkriegs zwischen Finnland und der Sowjetunion (1939-40) wurde fast die gesamte Bevölkerung evakuiert, und mehr als die Hälfte der Gebäude wurde zerstört. Nach erbitterten Kämpfen wurde die Stadt von der Roten Armee besetzt und 1944 von der Sowjetunion annektiert, die letzten Finnen wurden vertrieben und durch Sowjetbürger ersetzt. Es herrschte die nüchterne, träge Atmosphäre einer jeden Stadt, die zerstört, ethnisch gesäubert und schnell und billig wiederaufgebaut worden war. Sie fühlte sich völlig unwirklich an. Aber in der Gaststätte war es warm.
Gordijewski kam mit einem Ruck zu sich. War er eingeschlafen? Plötzlich war es 13 Uhr. Drei Männer waren hereingekommen und starrten ihn, so meinte er, misstrauisch an. Sie waren gut gekleidet. Er versuchte, ruhig zu wirken, nahm die zweite Flasche Bier, steckte sie in die Tasche, legte Geld auf den Tisch und ging hinaus. Er stählte sich und ging gelassen Richtung Süden. Nach 400 Metern wagte er einen Blick zurück. Die Männer waren noch immer in der Gaststätte. Aber wo war die Zeit geblieben? Die Straße war jetzt menschenleer. Über Mittag hatte sich der Verkehr verflüchtigt. Er begann zu laufen. Schon nach wenigen hundert Metern floss der Schweiß in Strömen, aber er wurde schneller. Gordijewski war immer noch ein sehr guter Läufer. Trotz der Strapazen der letzten zwei Monate war er fit geblieben. Er spürte, wie sein Herz vor Angst und Anstrengung pochte, als er seinen Rhythmus fand. Ein Anhalter mochte unauffällig sein, aber ein Mann, der eine leere Straße entlangsprintete, erregte mit Sicherheit Neugierde. Wenigstens lief er von der Grenze fort. Er legte an Tempo zu. Warum war er nicht am Treffpunkt geblieben? Konnte er die fünfundzwanzig Kilometer zurück zum Rastplatz in einer Stunde und zwanzig Minuten schaffen? Ziemlich sicher nicht. Aber er rannte trotzdem, so schnell er konnte. Gordijewski rannte um sein Leben.
13 Uhr, drei Kiometer nördlich von Vaalimaa, Finnland
Auf der finnischen Seite der Grenze ging das Empfangsteam des MI6 zeitig in Position. Sie wussten, dass Ascot und Gee am Abend zuvor pünktlich aus Moskau aufgebrochen waren, hatten aber seitdem nichts mehr gehört. Price und Brown parkten ihren roten Volvo abseits am Rand der Lichtung. Shawford und die Dänen postierten sich auf beiden Seiten der Straße. Sollten die beiden Autos dicht gefolgt vom KGB ankommen, würden Eriksen und Larsen versuchen, mit ihren Fahrzeugen die Verfolger zu blockieren oder zu rammen. Sie schienen sich fast auf diese Möglichkeit zu freuen. Es war heiß und ruhig, merkwürdig friedlich nach der fiebrigen Aktivität der vorangegangenen vier Tage.
»Ich empfand eine außergewöhnliche Phase der Stille im Zentrum der sich drehenden Welt«, erinnerte sich Simon Brown. Er hatte den mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman Hotel du Lac von Anita Brookner mitgenommen. »Ich dachte, wenn ich ein dickes Buch mitnehme, würde ich das Schicksal herausfordern, also nahm ich ein schmales Bändchen mit.« Die Dänen dösten. Veronica Price ging in Gedanken sämtliche Punkte des Fluchtplans durch. Brown las so langsam, wie er konnte, und »versuchte, nicht an die verrinnenden Minuten zu denken«. Düstere Vorahnungen drängten sich ihm immer wieder auf: »Ich fragte mich, ob wir die Kinder getötet hatten, indem wir ihnen Drogen spritzten.«
13.30 Uhr, Fernstraße von Leningrad nach Wiborg
Die für Straßenbau zuständigen russischen Behörden waren stolz auf die Fernstraße, die von Leningrad zur finnischen Grenze führte, die wichtigste Verbindung zwischen Skandinavien und der Sowjetunion. Es war eine Vorzeigestraße, breit und ordentlich asphaltiert, mit ordentlichen Schildern und Markierungen. Der kleine Konvoi kam gut voran und bewegte sich mit 120 km/h, das KGB-Fahrzeug vorneweg, die MI6-Autos in der Mitte und zwei Polizeifahrzeuge und ein zweites KGB-Auto etwas weiter hinten. Das war alles viel zu leicht für den KGB, also beschloss Ascot, es schwieriger zu machen.
»Ich wurde schon seit Jahren überwacht, und über die Zeit hatten wir die Denkweise der Siebten KGB-Hauptverwaltung kennengelernt. Sie wussten zwar oft, dass du wusstest, dass sie in der Nähe waren, aber was sie wirklich kränkte und in Verlegenheit brachte, war, wenn jemand ganz bewusst zeigte, dass er sie entdeckt hatte: Psychologisch gesehen findet es kein Observierungsteam gut, von seiner Zielperson als augenfällig und inkompetent hingestellt zu werden. Sie hassen es, wenn man ihnen den Finger zeigt und praktisch sagt: ›Wir wissen, dass ihr da seid, und wir wissen, was ihr vorhabt.‹« Grundsätzlich ignorierte Ascot die Überwachung, egal wie offenkundig. Jetzt brach er zum ersten Mal seine eigene Regel.
Der Viscount-Spion verringerte die Geschwindigkeit, bis er gerade mal mit 55 km/h unterwegs war. Der Rest des Konvois tat es ihm gleich. Bei Kilometerstein 800 bremste Ascot erneut ab, bis sie nur noch mit 45 km/h dahinschlichen. Der vorausfahrende KGB-Wagen bremste ebenfalls ab und wartete, dass die britischen Autos aufholten. Weitere Autos stauten sich am Ende des Konvois.
Das gefiel dem KGB-Fahrer gar nicht. Die Briten verhöhnten ihn und behinderten absichtlich den fließenden Verkehr. »Schließlich verlor der Fahrer an der Spitze die Nerven und raste mit Höchstgeschwindigkeit davon.« Ein paar Kilometer weiter wartete der blaue KGB-Lada in einer Seitenstraße, die zum Dorf Kaimowo führte. Er setzte sich hinter die anderen Überwachungsfahrzeuge. Der Saab von Ascot lag wieder in Führung.
Allmählich erhöhte er das Tempo. Das tat auch Gee, der einen Abstand von knapp zwanzig Metern zwischen sich und dem Saab hielt. Die drei nachfolgenden Fahrzeuge fielen langsam zurück. Die Straße vor ihnen war schnurgerade und frei. Ascot beschleunigte erneut. Sie fuhren nun mit einer Geschwindigkeit von etwa 140 km/h. Zwischen Gee und den russischen Autos hatte sich eine Lücke von mehr als 800 Metern aufgetan. Kilometerstein 826 schoss vorbei. Bis zum Treffpunkt waren es nur noch zehn Kilometer.
Ascot folgte einer Kurve und musste auf die Bremse treten. Eine Armeekolonne überquerte die Straße von links nach rechts: Panzer, Haubitzen, Raketenwerfer, gepanzerte Mannschaftstransporter. Vor ihnen hielt bereits ein Brotlieferwagen, der auf die Durchfahrt der Kolonne wartete. Ascot stoppte hinter dem Lieferwagen. Gee direkt hinter ihm. Die Überwachungsfahrzeuge holten auf und reihten sich dahinter ein. Die russischen Soldaten auf den Panzern entdeckten die ausländischen Autos, hoben die geballten Fäuste und brüllten einen spöttischen Gruß aus dem Kalten Krieg.
»Das war's«, dachte Ascot. »Wir sind erledigt.«
14.00 Uhr, Fernstraße Leningrad, sechzehn Kilometer südöstlich von Wiborg
Gordijewski hörte den Lastwagen hinter sich nahen, bevor er ihn sah, und streckte den Daumen aus. Der Fahrer forderte den Anhalter auf einzusteigen. »Was willst du da? Da ist nichts«, meinte er, als Gordijewski schnaufend erklärte, er wolle bei Kilometerstein 836 abgesetzt werden.
Gordijewski warf ihm einen, wie er hoffte, verschwörerischen Blick zu. »In den Wäldern gibt es einige Datschas. In einer davon wartet eine nette Dame auf mich.« Der Lkw-Fahrer schnaubte anerkennend und grinste.
»Du großartiger Mann«, dachte Gordijewski, als der Fahrer ihn zehn Minuten später am Treffpunkt absetzte und mit einem lasziven Zwinkern und drei Rubeln in der Tasche davonfuhr. »Du großartiger russischer Mann.«
Auf dem Rastplatz schlug er sich ins Unterholz. Die Stechmücken begrüßten ihn hungrig. Ein Bus, der Frauen zum Militärstützpunkt brachte, bog auf den Rastplatz ein; Gordijewski drückte sich flach auf die feuchte Erde und fragte sich, ob er wohl entdeckt worden war. Es wurde still, bis auf das Sirren der Moskitos und das Pochen seines Herzens. Dehydriert trank er die zweite Flasche Bier. 14.30 Uhr verging. Dann 14.35 Uhr.
Um 14.40 Uhr wurde er erneut von einem Anflug des Wahnsinns gepackt. Er stand auf und trat auf die Straße, ging in die Richtung, aus der die Fluchtwagen des MI6 kommen sollten. Vielleicht könnte er ein paar Minuten sparen, indem er ihnen auf der Straße entgegenging. Aber nach ein paar Schritten setzte sich die Vernunft wieder durch. Wenn die Autos eine KGB-Eskorte hatten, würden sie alle auf offener Straße erwischt. Er rannte zurück auf den Rastplatz und verschwand noch einmal im tarnenden Gestrüpp.
»Warte«, ermahnte er sich. »Reiß dich zusammen.«
14.40 Uhr, Kilometerstein 826, Fernstraße von Leningrad nach Wiborg
Schließlich rollte das letzte Fahrzeug der Militärkolonne über die Straße. Ascot ließ den Motor des Saab aufheulen, schoss um den stehenden Brotlieferwagen herum und trat das Gas durch, während Gee ihm in wenigen Metern Abstand folgte. Sie waren hundert Meter voraus, bevor das KGB-Fahrzeug den Motor angelassen hatte. Die Straße vor ihnen war frei. Ascot drückte das Gaspedal durch. Der Kassettenrekorder spielte Händels Messias. Caroline drehte die Lautstärke voll auf. »Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.« Ascot dachte grimmig: »Wenn es doch nur so wäre …«
Die MI6-Offiziere waren die Strecke schon mehrmals gefahren, und beide wussten, dass die Abzweigung nur ein paar Kilometer vor ihnen lag. Augenblicke später fuhren sie wieder mit 140 km/h, und ihre Begleiter lagen bereits fünfhundert Meter zurück, wobei der Abstand immer größer wurde. Kurz vor Kilometerstein 836 verlief die Straße gerade und tauchte für etwa einen halben Kilometer in eine Senke ab, um dann vor einer scharfen Rechtskurve wieder anzusteigen. Die Abfahrt zum Rastplatz befand sich rechts, etwa zweihundert Meter weiter. Würde er voll von russischen Picknickern sein? Caroline Ascot wusste immer noch nicht, ob ihr Mann versuchen würde, die Flüchtenden aufzunehmen, oder an dem Rastplatz vorbeifahren wollte. Gee wusste es auch nicht. Und Ascot eigentlich auch nicht.
Als er an der Kuppe nach der Senke in die Kurve einfuhr, warf Gee einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass der blaue Lada in diesem Moment auf der Geraden in Sicht kam, etwa einen Kilometer hinter ihm, ein Abstand von einer halben Minute, vielleicht weniger.
Der Felsen kam in Sicht, und ehe er sich versah, trat Ascot auf die Bremse, schoss auf den Rastplatz und kam quietschend zum Stehen, Gee nur wenige Meter dahinter, wobei die blockierenden Reifen eine Staubwolke aufwirbelten. Bäume und Felsen schirmten sie von der Straße ab. Alles menschenleer. Es war 14.47 Uhr. »Bitte, Gott, lass sie nicht den Staub sehen«, dachte Rachel. Als sie aus den Autos stiegen, hörten sie das heulende Geräusch von drei Lada-Motoren, die kreischend auf der Hauptstraße vorbeirasten, keine fünfzig Meter entfernt hinter den Bäumen. »Wenn nur einer von denen jetzt einen Blick in den Rückspiegel wirft«, dachte Ascot, »wird er uns sehen.« Das Geräusch der Motoren verstummte. Der Staub legte sich. Caroline band sich ihr Kopftuch um, nahm Florence auf den Arm und ging zu dem Aussichtspunkt am Eingang des Rastplatzes. Rachel hielt sich an das Drehbuch, holte den Wäschekorb heraus und breitete die Picknickdecke aus. Ascot begann, das Gepäck auf die Rückbänke umzuladen, und Gee stellte sich vor den Saab und bereitete sich darauf vor, den Kofferraumdeckel zu öffnen, sobald Caroline Entwarnung signalisierte.
In dieser Sekunde brach ein Landstreicher aus dem Unterholz hervor, unrasiert und ungepflegt, mit Schlamm, Farn und Staub bedeckt, mit getrocknetem Blut in den Haaren, einer billigen braunen Tasche in der Hand und einem wilden Ausdruck im Gesicht. »Er sah überhaupt nicht aus wie auf dem Foto«, dachte Rachel. »Die Fantasievorstellungen, einen weltmännischen Spion zu treffen, verdunsteten auf der Stelle.« Ascot fand, die Gestalt sehe aus wie »ein Waldtroll oder ein Waldbewohner aus Grimms Märchen«.
Gordijewski erkannte Gee als den Mann mit dem Mars-Riegel. Gee hatte ihn vor dem Brotladen nur flüchtig gesehen und fragte sich kurz, ob es sich bei dieser schmuddeligen Erscheinung wirklich um dieselbe Person handeln konnte. Einen Moment lang starrten sich der Spion und die Leute, die ihn retten sollten, auf einem staubigen Feldweg in einem russischen Wald unschlüssig an. Das MI6-Team hatte sich auf vier Personen eingestellt, darunter zwei kleine Kinder, aber PIMLICO war offensichtlich allein. Gordijewski rechnete damit, von zwei Geheimdienstoffizieren abgeholt zu werden. Veronica hatte nichts von Frauen gesagt, geschweige denn von Frauen, die offenbar eine Art englisches Picknick, komplett mit Teetassen, veranstalteten. Und war das ein Kind? Konnte es wirklich sein, dass der MI6 ein Baby zu einer gefährlichen Fluchtoperation mitgenommen hatte?
Gordijewski sah von einem zum anderen und knurrte dann auf Englisch: »Welches Auto?«