15. Kapitel

Pinkie schnitt ein Stück von seinem kurz gebratenen Lendenfilet ab. »Wie heißt das Heim?«

Remy wandte den Blick von dem blutigen Fleischsaft ab, der über seinen Teller lief. »Jenny’s House. Es ist nach einer Dreijährigen benannt, die von ihrer Mutter verlassen worden ist. Man hat die Kleine halb verhungert aufgefunden. Sie konnten sie nicht mehr retten.«

»Unglaublich!« rief Flarra aus. »In Amerika, einem Land voll übergewichtiger Menschen, die Unsummen für Diäten ausgeben, ist ein kleines Mädchen verhungert?«

»Ein schrecklicher Gedanke, nicht wahr?«

Remy hatte bewußt auf einen Abend gewartet, an dem Flarra bei ihnen zum Essen eingeladen war, um mit Pinkie über dieses Thema zu sprechen. Sie wußte, daß Flarra sich sofort auf ihre Seite schlagen würde. Ihre Schwester kämpfte gegen jede soziale Ungerechtigkeit.

Pinkie ließ seinen Merlot im Glas kreisen. »Dieser Geistliche, Pater …?«

»Gregory«, ergänzte Remy. »Er hat angerufen und gefragt, ob er sich mit mir treffen könne, um die speziellen Bedürfnisse seiner Einrichtung zu erläutern.«

»Bedürfnisse heißt Geld.«

Sie nickte zustimmend. »Er hat gesagt, daß sie finanziell zu kämpfen haben, um Jenny’s House eröffnen und betreiben zu können.«

»Solche Einrichtungen betteln immer um Geld. Wieso ißt du nichts?« fragte er und deutete auf ihren Teller.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Das ganze Gerede über verhungerte kleine Mädchen hat dir den Appetit verdorben. Meine Frau, das weichherzige Wesen.« Er griff über den Tisch und streichelte ihre Hand. »Damit du dich besser fühlst, lasse ich meine Sekretärin Pater Gregory morgen einen Scheck schicken.«

»Das genügt nicht«, sagte Remy und entzog ihm ihre Hand. »Ich möchte mich persönlich engagieren.«

»Du hast keine Zeit, dich für irgendwas zu engagieren.«

Er glaubte, damit sei der Fall erledigt, und widmete sich wieder seinem Lendenfilet. Aber Remy konnte und wollte nicht einfach aufgeben. Für sie steckte viel mehr dahinter als nur das Bedürfnis nach einem Hobby. Die Sache hatte einen spirituellen Hintergrund. Ihr Beichtvater hatte gesagt: »Wenn Sie vielleicht etwas tun könnten, was Kindern hilft …«

Jenny’s House war geradezu die Erfüllung ihrer Gebete. Sie hatte um Gelegenheit zur Wiedergutmachung gebetet – und prompt hatte heute morgen Pater Gregory angerufen. Wenn Gott wollte, daß sie sich hier engagierte, konnte nicht einmal Pinkie Duvall sie davon abhalten.

Sie bemühte sich um einen neutralen Tonfall, als sie sagte: »Ich habe jede Woche ein paar Stunden, die nicht verplant sind.«

»Ich glaube, es täte ihr gut, Pinkie«, stimmte Flarra zu. »Sie ist in letzter Zeit so trübselig gewesen.«

»Nein, bin ich nicht«, widersprach Remy.

»Es ist dir also auch aufgefallen?« Pinkie ignorierte Remys Protest und wandte sich direkt an Flarra.

Sie nickte, daß ihre schwarzen Locken flogen. »In letzter Zeit war sie echt lahmarschig.«

»Oh, vielen Dank!«

»Es stimmt aber, Remy. Muß es ja wohl, wenn mein Lieblingsschwager und ich es beide gemerkt haben.« Flarra bedachte ihn mit einem Augenaufschlag. »Kann ich bitte ein Glas Wein haben?«

»Nein«, antwortete Remy an seiner Stelle.

»Himmel. Keine öffentliche Schule. Keine Jungs. Kein Wein. Ich könnte ebensogut auf dem Mars leben.«

»Schwester Beatrice bekäme einen Anfall, wenn du angeheitert ins Internat zurückkämst.«

»Wetten, daß Schwester Bea öfter mal heimlich einen Schluck nimmt? Können wir über Mardi Gras reden?«

»Nicht heute abend.« Remy fiel auf, daß Pinkie sich nicht in das Gespräch zwischen Flarra und ihr eingemischt hatte. Er konzentrierte sich ganz auf sie, und sein forschender Blick war ihr unangenehm. »Was denkst du, Pinkie?«

»Ich denke, wie widerwärtig mir die Vorstellung ist, meine Frau könnte Umgang mit Gesindel haben.«

»Ich weiß nicht einmal, was Pater Gregory mir vorschlagen will«, wandte Remy ein. »Vielleicht will er nur um Erlaubnis bitten, unsere Namen auf die Liste ihrer Förderer zu setzen, oder uns bitten, bei Freunden für Spenden zu werben. Das erfahre ich erst, wenn ich mit ihm rede, aber ich möchte mich wirklich für dieses Projekt engagieren. Das Allermindeste wäre, daß ich unseren Scheck persönlich überreiche.«

»Wo ist diese neue Einrichtung?«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Und wo soll das Gespräch stattfinden?«

»Er hat mir die Wahl des Treffpunkts freigestellt.«

Sein Zeigefinger tippte ungeduldig an sein Weinglas. »Warum ist dir das so wichtig, Remy?«

Sie wußte, daß alles von ihrer Antwort abhing. Damit Pinkie zustimmte, mußte er etwas hören, was ihm gefiel. »Es ist mir wichtig, weil die kleine Jenny keinen Pinkie Duvall gehabt hat, der rechtzeitig in ihr Leben getreten ist, um sie zu retten. Sie hat weniger Glück gehabt als Flarra und ich.«

»Davon krieg’ ich echt ’ne Gänsehaut«, sagte Flarra.

Pinkie entspannte sich und machte Roman ein Zeichen, ihm Wein nachzuschenken. »Also gut, Remy, du kannst dich mit Pater Gregory treffen. Hier im Haus. Tagsüber.«

»Danke, Pinkie.«

»Cool«, sagte Flarra.

 

Pater Gregory legte den Hörer auf und drehte sich zu Burke um. »In ihrem Haus, morgen nachmittag.«

Bei ihrem vorigen Gespräch hatte Pater Gregory Mrs. Duvall die Nummer des Telefons bei der Herrentoilette in einem der Striplokale ihres Ehemanns angegeben. Durch die papierdünnen Wände drangen dumpf die Bässe.

»In ihrem Haus?« wiederholte Burke. Er rieb sich den Nakken. »Ich hatte damit gerechnet, daß wir uns irgendwo in der Öffentlichkeit treffen würden.«

»Künstlerpech«, meinte Gregory. »Also wird nichts daraus, stimmt’s? Sie müssen Ihr Vorhaben aufgeben.«

Burke dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es so ja noch günstiger. Welche Uhrzeit haben Sie vereinbart?«

»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe, Basile?«

»Doch. Sie haben gesagt, daß sie uns morgen bei sich erwartet. Und ich habe nach der Uhrzeit gefragt.«

»Das klappt nie!«

»Doch, es klappt. Wenn Sie Ruhe bewahren und alles machen, was ich Ihnen sage, klappt die Sache.«

»Sie glauben vielleicht, mich zu kennen, Basile, aber Sie kennen mich nicht wirklich. Im Grunde meines Wesens bin ich ein Feigling. Ich denke bei jeder Entscheidung grundsätzlich zuerst an mich.«

»Gut. Das ist sehr gut. Denken Sie an sich selbst. Stellen Sie sich vor, wie Sie lange, verdammt lange hinter Gittern sitzen, wenn Sie mich im Stich lassen oder versagen und die Sache platzen lassen.«

Gregory ächzte verzweifelt. »Bestimmt geben Sie mir sogar dann die Schuld, wenn irgendwas ohne mein Dazutun schiefgeht.«

»Nein, das tue ich nicht. Ehrenwort«, versprach Burke aufrichtig. »Unabhängig davon, wie die Sache ausgeht, sind Sie anschließend frei und unbelastet.«

»Frei und unbelastet? Mit Pinkie Duvall im Nacken?« Gregory schnaubte verächtlich. »Ich krieg’ schon Magenkrämpfe, wenn ich bloß seine Telefonnummer wähle. Als ich noch zur Schule ging, haben sie daheim oft über ihn gesprochen. Der Kerl ist ’ne gottverdammte Legende, einer der mächtigsten Männer dieser Stadt, wenn nicht sogar der mächtigste!«

»Ich weiß über ihn Bescheid.«

»Dann wissen Sie auch, daß der Typ einem echt Angst einjagen kann. Es geht das Gerücht um, daß er Leute hat umlegen lassen, die ihn zu betrügen versucht haben.«

»Das ist kein Gerücht.«

Gregory starrte ihn ungläubig an. »Und trotzdem soll ich als angeblicher Priester sein Haus betreten, mit seiner Frau reden und Geld von ihr nehmen?«

»Es sei denn, Sie wollen lieber ins Gefängnis und dort der Geliebte eines Kerls werden, den alle nur den Stier nennen.«

»Dieses Guthaben ist aufgebraucht. Ich bin mit Ihnen zur Kathedrale gefahren und habe meine Rolle gespielt. Übrigens brillant, möchte ich anmerken. Damit sind wir quitt.«

»Das habe ich nie gesagt«, widersprach Burke ruhig. »Ich habe gesagt, daß ich Sie laufenlasse, wenn Sie Pater Gregory spielen.«

»Ich habe angenommen, ich müßte mich nur dieses eine Mal als Pater Gregory ausgeben.«

»Dann haben Sie sich eben getäuscht. Wann morgen nachmittag?«

»Sie sind verrückt, Basile!«

»Wahrscheinlich.«

Gregory hatte natürlich recht. Dieser Plan, den er ausgearbeitet hatte, war verrückt. Dramatisch. Wirkungsvoll und entschieden verrückt.

Seitdem er Mrs. Duvall die Beichte abgenommen hatte, hatte er sämtliche Aspekte seines Plans durchleuchtet. Die Chancen, daß irgend etwas schiefging, standen immer verdammt gut, aber er hatte alle nur möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Er war aus seinem Einzimmerapartment ausgezogen und hatte unter falschem Namen eine andere Bruchbude gemietet. Er fuhr nicht mehr den Toyota, sondern einen älteren Wagen.

War er mit dem Auto unterwegs, behielt er ständig den Rückspiegel im Auge. Als Fußgänger kontrollierte er häufig, ob er von Bardo oder seinesgleichen beschattet wurde. Das war ziemlich sicher nicht der Fall.

Hatte Duvall seine Meute zurückgepfiffen? Nachdem Burke sich geweigert hatte, für ihn zu arbeiten, hatte Duvall ihn möglicherweise als unbedeutend abgeschrieben. Vielleicht war er zu selbstsicher, um die Rache eines arbeitslosen, in Geldnöten steckenden, unglaubwürdig gewordenen Excops wie Burke Basile zu fürchten. Wenn er einen Racheakt erwartete, würde er wohl eher an eine Gewalttat denken.

Deshalb würde sein Plan vielleicht klappen.

»Warum kann nicht ein Cop den Priester spielen?« jammerte Gregory. »Warum kann kein verdeckter Ermittler als Pater Gregory auftreten?«

»Weil Sie ein besserer Schauspieler sind als jeder meiner Kollegen.« Der junge Mann glaubte noch immer, an einem verdeckten Polizeieinsatz beteiligt zu sein.

»Ich steige aus«, sagte Gregory trotzig. »Ich will nicht mehr Pater Gregory spielen. Ich gehe lieber ins Gefängnis, als zu riskieren, daß Pinkie Duvall hinter mir her ist.«

Burke trat dichter an ihn heran. »Wenn Sie mich jetzt im Stich lassen, sorge ich dafür, daß jeder Perverse im Orleans Parish Jail Sie rannimmt.« Er drängte den jungen Mann gegen die fleckige Wand der Toilette und knurrte mit zusammengebissenen Zähnen: »Zum letztenmal, Pater Gregory: Wann morgen nachmittag?«

 

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mrs. Duvall.« Gregory James lächelte entwaffnend, als er ihrer Gastgeberin die Hand schüttelte. »Vielen Dank, daß Sie uns empfangen.«

Sie sah an ihm vorbei zu dem zweiten Geistlichen hinüber.

»Äh, das ist Pater Kevin«, stotterte Gregory. »Mein Amtsbruder, der Jenny’s House mitbegründet hat.«

Dieses Pseudonym hatte Burke gewählt, um Kevin Stuarts Andenken zu ehren, was ihm passend erschien.

»Ich danke Ihnen beiden für Ihr Kommen«, sagte sie. »Ich fühle mich geschmeichelt, daß Sie mich um meine Unterstützung bitten wollen.«

Vor dem Wintergarten, in den der Butler sie geführt hatte, lag eine weite Rasenfläche, auf der der Pavillon deutlich zu sehen war. Mit einem Blick nach draußen bemerkte Burke: »Ein herrlicher Besitz, Mrs. Duvall.«

Er machte sich keine Sorgen, daß sie seine Stimme wiedererkennen könnte. Im Beichtstuhl hatte er nur flüsternd gesprochen und dabei mehrmals gehüstelt. Sie würde auch keine Verbindung zwischen dem streng gekleideten Pater Kevin und dem schnurrbärtigen Mann in Regenjacke und Baseballkappe herstellen, der ihr die Orangentüte nachgetragen hatte, die sie im Straßencafé auf dem French Market vergessen hatte.

»Danke. Nehmen Sie bitte Platz.«

Gregory und er setzten sich nebeneinander auf das Rattansofa. Mrs. Duvall nahm ihnen gegenüber in einem Sessel Platz und fragte, ob sie ihnen einen Kaffee anbieten dürfe.

Pater Gregory sah lächelnd zu dem Butler auf. »Ich hätte gern eine Tasse. Bitte ohne Koffein.«

»Für mich auch«, sagte Burke.

Der Butler verschwand und ließ Mrs. Duvall mit den Geistlichen allein. Und mit ihrem Leibwächter.

Die breiten Schultern des Mannes ragten seitlich über die Sessellehne hinaus, und das Rattangeflecht schien unter seinem Gewicht zu ächzen. Sein dunkler Anzug paßte nicht recht in den sonnigen Wintergarten. Er wirkte hier so fehl am Platz wie ein Schraubenschlüssel in einem Blumenarrangement.

Burkes Puls hatte sich unwillkürlich beschleunigt, als er den Wintergarten betreten und den Leibwächter gesehen hatte. Mrs. Duvall hatte ihn nicht wiedererkannt, aber dieser Mann war schließlich dazu ausgebildet, besonders wachsam zu sein. Burke hatte ihn freundlich lächelnd mit einem leichten Nicken begrüßt. Der Mann hatte etwas gegrunzt, ohne ihn jedoch zu erkennen. Wieviel Duvall diesem Einfaltspinsel auch zahlte, es war zuviel.

Mrs. Duvall wandte sich an den Leibwächter. »Sie brauchen nicht zu bleiben, Errol. Was wir zu besprechen haben, würde Sie bestimmt nur langweilen.«

Er dachte darüber nach, warf den beiden Geistlichen einen Blick zu, der offenbar als strenge Warnung gedacht war, und stand auf. »Okay. Aber ich bin gleich vor der Tür, falls Sie mich brauchen.«

Als Errol hinausgegangen war, wandte Pater Gregory sich an ihre Gastgeberin. »Ist er immer so? Oder ist er manchmal mißmutig?«

Sie lachte spontan. Burke dankte Gregory im stillen dafür, daß er ihr die Befangenheit genommen hatte. Bisher spielte der junge Mann seine Rolle hervorragend. Sie machten ungezwungen Konversation, bis der Butler, den sie Roman nannte, mit einem großen Silbertablett zurückkam, das er auf den Teewagen stellte. Mrs. Duvall goß den Kaffee selbst ein und bot ihnen dazu Törtchen mit pastellfarbenem Zuckerguß an. Alle ihre Bewegungen waren gewandt, mühelos, natürlich. Mit der schweren Silberkanne ging sie ebenso elegant um wie mit ihrem Löffel, mit dem sie eine sehr kleine Portion Sahne in ihren Kaffee rührte.

»Ich kann es kaum erwarten, alles über Jenny’s House zu erfahren.«

Pater Gregory räusperte sich und rutschte etwas nach vorn. »Auf die Idee dazu bin ich gekommen, als …«

Burke hörte kaum zu, während Gregory mit blumigen Worten von einem nicht existierenden Heim für obdachlose Kinder erzählte. Obwohl er vorgab, sich auf Pater Gregorys Worte zu konzentrieren, beobachtete er in Wirklichkeit Remy Duvall. Sie hörte aufmerksam zu und reagierte wie erwartet auf die Schlüsselworte, die Gregory auf Burkes Anweisung einstreute. Ihre Fragen waren verständnisvoll und intelligent. Als Gregory die Leidensgeschichte der fiktiven kleinen Jenny wiederholte, hatte sie Tränen in den Augen.

»Das ist so tragisch.«

Da ihr Mitgefühl aufrichtig wirkte, wäre die Versuchung groß wegen der krassen Manipulation ihrer Emotionen Schuldgefühle zu entwickeln. Aber dann erinnerte Burke sich daran, wie intim sie draußen im Pavillon mit Bardo gewesen war. Eine Frau, die sich freiwillig mit einem Kerl wie Bardo abgab, hatte kein Mitleid verdient.

Er stellte seine Kaffeetasse auf das Tischchen neben dem Sofa und stand plötzlich auf. »Bitte verzeihen Sie die Unterbrechung, Pater Gregory, aber ich muß mich einen Augenblick entschuldigen.«

Gregory drehte den Kopf so schnell zur Seite, daß seine Halswirbel knackten. Aus seinem Blick sprach nackte Panik. Diese Szene stand nicht im Drehbuch. Burke hatte sie absichtlich ausgelassen, um den jungen Mann nicht noch mehr zu ängstigen. Da Gregory sich in seiner Rolle wohl zu fühlen schien, hatte Burke das Gefühl, er könne ihn unbesorgt ein paar Minuten lang mit Mrs. Duvall allein lassen. Mehr Zeit brauchte er gar nicht.

»Eine Toilette finden Sie in der Eingangshalle unter der Treppe«, erklärte sie ihm.

»Danke.«

»Soll Errol sie Ihnen zeigen?«

»Nein, danke. Ich finde sie schon.«

Burke schlenderte aus dem Wintergarten, blieb aber gleich hinter der Tür stehen und sah sich nach dem Leibwächter um. Errol wartete nicht dort draußen, wie er angekündigt hatte. Statt dessen sah Burke ihn im Raum nebenan vor einem Fernseher sitzen. Er kehrte der Tür den Rücken zu. Offenbar hielt er die Patres Gregory und Kevin für nicht weiter gefährlich.

Burke betrat die Toilette und schloß für einen Augenblick die Tür hinter sich. Dann kam er wieder heraus, hastete die Treppe hinauf, nahm dabei je zwei Stufen auf einmal und fuhr zusammen, wenn eine Stufe knarrte.

Die erste Tür oben am Treppenabsatz führte in eine weitere kleine Toilette. Nach höchstens drei Sekunden war er wieder draußen.

Wie viele Dienstboten waren im Haus? Schwer zu sagen, aber sicherheitshalber mußte er annehmen, daß es mehrere waren. Er konnte jeden Augenblick einer energischen Haushälterin über den Weg laufen, die barsch wissen wollte, was zum Teufel ein heiliger Mann in Mr. Duvalls Haus herumzuschnüffeln habe. Sie würde Krach schlagen, was wiederum Errol auf den Plan rufen würde, und der würde den Eindringling festhalten, bis Pinkie eintraf. Morgen um diese Zeit würde seine Leiche als Fischfutter auf dem Boden des Golfs von Mexiko liegen.

Er öffnete die zweite Tür im oberen Flur und fand, was er suchte: ein großes Schlafzimmer mit Bädern und Ankleideräumen auf beiden Seiten und einem breiten Balkon, der auf den Rasen vor dem Haus hinausging.

Burke verstand nichts von Antiquitäten, aber jedes Möbelstück in diesem Haus schien echt zu sein. Mit Drogengeldern ließen sich auf hochklassigen Auktionen schöne Sachen ersteigern. Eins der Stücke, ein gut drei Meter hoher Standspiegel in einer Zimmerecke, zeigte ihm einen Mann, der zu Priesterkleidung eine unnötige Brille trug.

»Schön blöd, was du da machst, Basile«, murmelte er.

Er warf einen Blick in den Ankleideraum, der offenbar Pinkie gehörte, aber das Zimmermädchen hatte hier aufgeräumt, nachdem der Hausherr morgens in die Stadt gefahren war. Alles war ordentlich. Nichts lag herum.

Im Schlafzimmer war leicht zu erkennen, wem welcher Nachttisch gehörte. Pinkie schlief links. Auf seinem Nachttisch lagen eine Lesebrille, eine Ausgabe von Newsweek und ein schnurloses Telefon. Burke wollte die Rufnummer ablesen, aber das Sichtfenster für das von der Telefongesellschaft mitgelieferte Kärtchen war leer. Wahrscheinlich hatte Pinkie eine ultrageheime Geheimnummer.

Er zog die Schublade auf, weil er hoffte, darin ein Telefonverzeichnis, ein Tagebuch oder ein Scheckbuch zu finden. Aber Pinkie war viel zu clever, um in seinem Nachttisch mehr aufzubewahren als ein Fläschchen Maalox, einen klecksenden Kugelschreiber, eine weitere Lesebrille und einen leeren Notizblock.

Auf Mrs. Duvalls Nachttisch sah er einen Rosenkranz, eine Schale mit Potpourri und eine Wasserkaraffe aus Kristallglas, über die ein kleines Trinkglas gestülpt war. Die Schublade enthielt lediglich eine Schachtel Briefkarten, aber kein Adreßbuch. An wen schrieb sie?

Wie lange war er schon aus dem Wintergarten fort? Verdächtig lange für jemanden, der nur hatte austreten wollen? Was wäre, wenn Errol während eines Werbeblocks einen Blick in den Wintergarten warf und nach dem zweiten Priester fragte, da er dort nur einen sah?

Los, weiter!

Er ging zu Mrs. Duvalls Ankleideraum hinüber. Das Zimmermädchen hatte dort nicht mehr aufgeräumt seit die Hausherrin sich für den Besuch der beiden Priester umgezogen hatte. Auf dem mit Satin bezogenen Hocker vor dem Toilettentisch lag eine achtlos hingeworfene Bluse. Sie war offenbar in die engere Wahl gekommen, aber dann hatte Mrs. Duvall sich doch für die Bluse entschieden, die sie jetzt trug. Burke griff danach und prüfte das Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger. Seide. Er legte die Bluse wieder so hin, wie er sie vorgefunden hatte.

Im Bad fiel ihm eine in die Spiegelwand hinter dem Waschbecken eingelassene kleine Tür auf. Dahinter befand sich ein Schränkchen mit Toilettenartikeln: Zahnbürste und Zahnpasta, Augentropfen, Beruhigungstabletten, Q-Tips, Tampons, Aspirin, Anti-Baby-Pillen. Keine sonstigen Medikamente.

Er schloß das Schränkchen wieder und wollte eben hinausgehen, als ihm auffiel, daß die Marmorplatte ihres Toilettentischs mit einer dünnen Schicht Puder bedeckt war. Der Körperpuder befand sich in einer runden Kristallglasdose mit reichverziertem Silberdeckel. Daneben lag eine flauschige Puderquaste. Er griff danach, um an ihr zu riechen. Dieser Duft war unverkennbar. Er ließ die Fingerspitzen über die samtige Oberfläche der Puderquaste gleiten und stellte aufreizende Spekulationen darüber an, welche exotischen Stellen sie zuletzt berührt haben mochte.

Was zum Teufel machst du da, Basile? Sieh zu, daß du hier rauskommst!

Er legte die Quaste an ihren Platz neben die Puderdose zurück und hastete aus dem Ankleideraum, als sei ihm der Teufel auf den Fersen. An der Schlafzimmertür blieb er stehen, um zu horchen. Als er draußen nichts hörte, öffnete er leise die Tür und trat auf den Flur hinaus.

Er war erst auf halber Treppe, als Errol in der Eingangshalle auftauchte.