19. Kapitel

»Wir schätzen uns glücklich, dieses leerstehende Gebäude gefunden zu haben. Es ist weit entfernt von den verderblichen Einflüssen der Stadt, was in unseren Augen ein großer Vorteil ist.«

Das war Pater Gregorys Antwort auf Mrs. Duvalls Feststellung, sie habe nicht geahnt, daß Jenny’s House so weit außerhalb der Stadt liege.

Burke fuhr den Kleinbus. Gregory, der auf dem Beifahrersitz saß, erzählte langatmig von den Vorzügen ihres nicht existierenden Kinderheims. Die beiden Mitfahrer saßen hinten. Errol, der sich sichtlich langweilte, starrte teilnahmslos aus dem Fenster. Remy Duvall hörte interessiert zu und stellte gelegentlich eine Frage.

Burke überließ Gregory die Unterhaltung nur allzugern, denn im Gegensatz zu ihm war der junge Mann ein ausgesprochenes Konversationstalent. Als sie Mrs. Duvall und ihren Leibwächter abgeholt hatten, war Burke nicht einmal ausgestiegen. »Ich vermute, daß Duvall in seiner Kanzlei ist«, hatte er gesagt, als er mit dem Kleinbus vor der Villa parkte. »Aber für den unwahrscheinlichsten Fall, daß er zu Hause ist, muß Pater Kevin außer Sicht bleiben.«

Gregory, der mit Gott und der Menschheit in Frieden zu leben schien, schlenderte den Weg zur Haustür entlang. Errol machte ihm auf und winkte ihn herein. Burke zählte sich im stillen die Gründe auf, die Sache zu beenden, bevor er ein schweres Verbrechen verübte.

Er ignorierte sie jedoch und konzentrierte sich statt dessen auf die beiden Gründe, aus denen er seinen Plan durchführen mußte: Peter und David Stuart. Sie waren Rechtfertigung genug. Daß die beiden Jungen vaterlos aufwachsen würden, war letztlich Pinkie Duvalls Schuld.

Dann öffnete sich die Haustür, und die drei kamen heraus. Burke sah an Errol vorbei und beobachtete die Frau, die über etwas lächelte, was Gregory gesagt hatte. Der Ausdruck »wie ein Lamm zur Schlachtbank« ging ihm durch den Kopf. Aber bis sie den Kleinbus erreichte, hatte Burke seine Schuldgefühle wieder verdrängt. Als sie Mrs. Pinkie Duvall geworden war, hatte sie die Risiken einer Ehe mit einem Kriminellen auf sich genommen.

Gregorys gewandtes Geschwätz ging Meile um Meile weiter. Er spielte seine Rolle gut und schien sich darin ganz zu Hause zu fühlen. Natürlich wäre er weit weniger unbefangen gewesen, wenn er gewußt hätte, wie dieser Nachmittag enden würde. Um Gregory nicht nervös zu machen, hatte Burke ihn nicht in die Einzelheiten seines Plans eingeweiht. Er hatte ihm nur versichert, ihm werde nichts geschehen und er werde nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Wenn alles nach Plan lief, würde er dieses Versprechen halten können.

»Entschuldigen Sie, Pater Gregory«, unterbrach Remy Duvall sein unaufhörliches Geplauder. »Pater Kevin, kommt da nicht Rauch aus der Motorhaube?«

Burke hatte sich gefragt, wann einem der anderen auffallen würde, was er schon vor zwei Meilen gesehen hatte. Pater Gregory, der sich zum Rücksitz gedreht hatte, sah wieder nach vorn. »Rauch?«

»Dampf«, antwortete Burke knapp. »Ich habe mir den Wagen vor dem Kauf gründlich angesehen, aber ich muß einen undichten Kühlwasserschlauch übersehen haben.«

»Was machen wir jetzt?« fragte Pater Gregory verwirrt. Ein geplatzter Kühlwasserschlauch stand nicht im Drehbuch.

Burke bedachte seinen Kollegen mit dem priesterlichsten Lächeln, das er sich unter diesen Umständen abringen konnte. »Keine Angst, wir kommen heil hin.«

»Wie weit ist es denn noch?« fragte Mrs. Duvall.

»Nur noch ein paar Meilen.«

»Ich glaub’ nicht, daß Sie das schaffen.« Das waren die ersten Worte, die Errol seit ihrer Abfahrt aus dem Garden District gesprochen hatte. Burke spürte seinen Atem im Nacken, als Errol sich nach vorn beugte und über seine Schulter sah, um die Situation zu begutachten. »Wenn Sie so weiterfahren, ruinieren Sie den Motor.«

Gregory geriet noch etwas mehr außer Fassung. »Äh, Pater Kevin, vielleicht sollten wir den Ausflug abbrechen und wiederholen, wenn der Bus repariert ist. Wir wollen Mrs. Duvall keine Unannehmlichkeiten machen.«

»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen«, warf sie ein. »Ich möchte nur nicht, daß Ihr neuer Bus mit einem Motorschaden liegenbleibt.«

»Gott segne Sie für Ihre Selbstlosigkeit und Ihr Verständnis«, sagte Gregory. Er wandte sich wieder an Burke. »Am besten wenden wir hier und fahren in die Stadt zurück.«

»Das schafft der Bus nicht mehr«, wandte Errol ein. »Fahren Sie lieber in die Tankstelle dort vorn. Dort können Sie die Kiste reparieren lassen, und ich rufe Roman an, damit er Mrs. Duvall und mich abholt.«

»Pater Kevin, uns bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte Gregory.

Die Raststätte Crossroads lag auf unkrautüberwuchertem Brachland an der Kreuzung zweier Staatsstraßen. Die Tankstelle wies sechs Zapfsäulen und zwei Reparaturboxen auf. Das angebaute Café machte Reklame für kaltes Bier, Boudin-Wurst und diverse Flußkrebsgerichte, und über den Gebäuden wehten die amerikanische Flagge, die Flagge des Bundesstaats Louisiana und die Konföderiertenflagge.

Burke brachte den Kleinbus zum Stehen und stellte den Motor ab. Unter der Motorhaube quollen jetzt Dampfschwaden hervor, während eine kochendheiße Mischung aus Kühlwasser und Gefrierschutzmittel auf den Asphalt spritzte. »Ich sehe mal nach, ob ein Mechaniker da ist«, kündigte er beim Aussteigen an. »Pater Gregory, Sie begleiten Mrs. Duvall am besten ins Café und sorgen dafür, daß sie etwas zu trinken bekommt.«

»Das ist eine sehr gute Idee.« Gregory war sichtlich erleichtert, daß es einen brauchbaren Alternativplan gab.

»Ich rufe Roman vom Café aus an«, sagte Errol. »Ohne mich geht sie nirgends hin.«

Die drei gingen ins Café, während Burke sich auf die Suche nach dem Automechaniker machte. Er fand ihn in der Werkstatt. Langes, ungewaschenes Haar quoll unter seiner ölverschmierten Baseballkappe hervor und lag wie schmutziger Hanf auf seinen knochigen Schultern. Zu seinem schmuddeligen Overall trug er eine bunte Glasperlenkette und Sandalen.

Auf seinem hageren Gesicht stand ein erstaunter Ausdruck, als er Burke sah. »Als Sie gestern dagewesen sind, hab’ ich nicht gewußt, daß Sie Geistlicher sind.«

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder.« Burke drückte ihm einen Fünfziger in die Hand. »Wie schnell können Sie meinen Kühlwasserschlauch abdichten?«

Der Mechaniker zeigte auf eine Rolle Gewebeband. »Ich mache mich dran, sobald er abgekühlt ist. Soll ich nicht lieber gleich den Schlauch ersetzen? Das ist keine große Sache. Klebeband hält nicht lange.«

»Klebeband reicht. Wie lange? Zehn Minuten?«

Der junge Mann pfiff durch die gelblichen Zähne. »Schwer zu sagen. Der Motor ist verdammt heiß.«

Burke gab ihm noch einen Zwanziger. »Ziehen Sie Handschuhe an. Der Zündschlüssel steckt. Sobald Sie fertig sind, fahren Sie den Bus vors Café und lassen den Motor laufen.«

»Wird gemacht. Aber ich kapier’s noch immer nicht. Warum haben Sie selbst dafür gesorgt, daß Ihr Kühlwasserschlauch undicht wird?«

»Gottes Wege sind unerforschlich.«

Burke betrat das volle Café und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch, bis er die drei anderen erreichte, die mit etwas Glück einen freien Tisch gefunden hatten. »Wir haben Ihnen einen Kaffee bestellt.«

»Danke, Pater Gregory.«

»Haben Sie mit dem Mechaniker gesprochen?« fragte Mrs. Duvall.

Burke nickte lächelnd und versicherte ihr, die Reparatur werde nicht lange dauern. Eine Serviererin brachte ihre Bestellungen, und während er seinen Kaffee mit kleinen Schlucken trank, sah Burke sich scheinbar gelassen, aber in Wirklichkeit zunehmend besorgt im Lokal um.

Er hatte sich das Café gestern nachmittag angesehen, als er mit dem Mechaniker gesprochen hatte. Dieser hatte ihm versichert, wenn er vor dem Wegfahren ein Loch in den Kühlwasserschlauch bohre, käme er bestimmt nicht weit, bevor das Wasser zu kochen und zu verdampfen beginne.

Für sein Vorhaben war ihm das Café ideal erschienen, denn es lag in einer ländlichen Gegend mindestens vier Meilen vom nächsten Polizeirevier entfernt. Burke war kurz nach dem Mittagessen hiergewesen. Außer zwei müden Serviererinnen, einer kettenrauchenden Kassiererin, die sich in einem tragbaren Fernseher eine Seifenoper ansah, und einem älteren Ehepaar, das schweigend ein verspätetes Mittagessen einnahm, war das Lokal leer gewesen. Burke hatte angenommen, daß abends mehr Betrieb herrschen würde, da dann Stammgäste aus der näheren Umgebung ins Café kamen. Ansonsten hielt er es für ein ruhiges, etwas verschlafenes Lokal, in das sich nur einzelne Autofahrer verirrten, die eine Kleinigkeit essen wollten, während ihr Wagen vollgetankt wurde.

Leider hatte Burke sich getäuscht. Wie sich jetzt zeigte, war das Crossroads nachmittags die Stammkneipe vieler Arbeiter, die früh aufhörten und auf der Heimfahrt noch auf ein oder zwei Bier hier einkehrten.

Das Café war viel voller als erwartet. Eine Jukebox, die er gestern nicht einmal bemerkt hatte, plärrte Cajun-Musik. Alle Stühle an den Tischen, alle Bänke in den Sitznischen und sämtliche Barhocker waren besetzt. Ein weiteres Problem entstand aus der demographischen Zusammensetzung der Gäste. Mit Ausnahme der beiden Priester, Pinkies Gattin und des Leibwächters waren die Stammgäste testosteronstrotzende Hinterwäldler.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand natürlich Pinkie Duvalls Ehefrau.

Jeder der anwesenden Männer leckte sich die Lippen – manche tatsächlich, andere nur in Gedanken –, aber alle schienen darüber nachzugrübeln, was eine heiße Nummer wie sie in Gesellschaft zweier Gottesmänner und eines bulligen Kerls zu suchen hatte.

Errol war jedoch nicht so dumm, wie er aussah. »Das wird Mr. Duvall nicht gefallen«, sagte er, indem er einen der gaffenden Kerls anfunkelte. »Ich habe zu Hause angerufen. Roman ist unterwegs und macht Besorgungen, soll aber in ungefähr« – der Leibwächter sah auf seine Armbanduhr – »in ungefähr zwanzig Minuten zurückkommen.«

»Bis dahin können wir mit dem Bus weiterfahren.«

Burkes beruhigende Versicherung konnte weder Errols Besorgnis noch Gregorys Nervosität mildern. Unter dem Tisch steppte sein Bein hektisch wie die Nadel einer elektrischen Nähmaschine. Diese nervöse Bewegung irritierte Burke so sehr, daß er den jungen Mann schon auffordern wollte, damit aufzuhören, als Gregory seinen Stuhl zurückschob und mit einer gemurmelten Entschuldigung aufstand. Er verließ den Tisch und verschwand auf der Toilette.

»Soll ich vielleicht Mr. Duvall anrufen?« schlug der Leibwächter Mrs. Duvall vor. »Er könnte uns von Bardo oder sonst jemand abholen lassen.«

»Ich möchte ihn lieber nicht belästigen«, wehrte sie ab.

»Sie machen sich zuviel Sorgen, Errol.« Burke strengte seine Gesichtsmuskeln an, um wie ein wohlwollender Geistlicher zu lächeln. »Der Mechaniker hat mir versprochen, daß die Reparatur des Kühlwasserschlauchs nicht länger als zehn Minuten dauert. Sobald Mrs. Duvall ihre zweite Tasse Kaffee ausgetrunken hat, können wir weiterfahren. Zufrieden?«

»Muß ich wohl sein«, knurrte Errol. »Ich weiß nur, daß Mr. Duvall …«

»Du verdammte Schwuchtel!«

Das Gebrüll wurde durch das Splittern von Glas unterstrichen. Remy Duvall und Errol sahen sich wie alle übrigen Gäste im Café um, weil sie feststellen wollten, was diesen Ausbruch hervorgerufen hatte.

Burke sprang auf. »Scheiße!«

Gregory lag in einer Bierlache wimmernd auf dem Fußboden und schrak vor einem Mann zurück, der sich über ihn beugte, ihn am Genick und an seinem schwarzen Jackett packte und gewaltsam hochriß.

Mit roher, unkultivierter und unbarmherziger Stimme erklärte der Kerl den übrigen Gästen: »Ich steh’ draußen beim Pissen und seh’ zufällig zu ihm rüber, und dieser Scheißkerl zeigt ihn mir.« Sein Stiefel traf Gregorys Hintern und ließ ihn gegen den nächsten Tisch torkeln. »Der kleine Scheißer wird sich noch wünschen, er wäre tot!«

Die drei Männer, gegen deren Tisch Gregory gestoßen war, waren ebenfalls aufgesprungen. Sie hielten ihn fest, schlugen auf ihn ein und beschimpften ihn laut. Kurze Zeit später gesellten sich zwei weitere Männer zu ihnen.

Über seine Schulter hinweg sagte Burke zu Errol: »Bringen Sie sie hinaus. Wir treffen uns am Bus.«

Dann bahnte er sich mit den Ellbogen einen Weg durch die schwulenfeindliche Menge. Alle Gäste waren jetzt auf den Beinen. Manche standen auf ihren Stühlen und feuerten die Männer an, die auf Gregory eindroschen. Burke drang bis ins Epizentrum des Handgemenges vor, stürzte sich auf die Angreifer und schaffte es, einige davon von ihrem Opfer wegzureißen, bis er dem Objekt von Gregorys Begierde gegenüberstand. Liebe macht wirklich blind, sagte Burke sich, denn der Mann war wirklich potthäßlich. Seine massive Gestalt bebte vor Wut und Empörung.

Seine Faust traf Burkes Kinn und ließ ihn rückwärts zu Boden gehen. »Bist du auch so einer?« Er trat drohend vor. »Ihr verdammten Perversen, die ihr euch hinter Priesterkrägen versteckt, ihr seid echt zum Kotzen!«

Er bückte sich, um Burke hochzureißen und weiter auf ihn einzuschlagen. Aber als sein zornrotes Gesicht nur noch eine Handbreit von Burkes entfernt war, hielt er so abrupt inne, daß er fast das Gleichgewicht verloren hätte und auf Burke gefallen wäre. Aufgehalten wurde er von Burkes Pistole, deren Mündung gegen seine Stirn gepreßt wurde, während Burke sich langsam aufrappelte und seinen Gegner zurückdrängte.

»Schluß jetzt, Arschloch!«

»Was …«

»Deine Freunde sollen ihn in Ruhe lassen, sonst ist dein nächstes Sakrament die Letzte Ölung.«

Inzwischen hatten einige der anderen mitbekommen, daß der Priester ihren Freund mit einer Waffe bedrohte. Sie waren vor Schock, weniger vor Angst, wie gelähmt. Binnen Sekunden erstarrte jegliche Bewegung, und da in diesem Augenblick auch die lebhafte Musik aus der Jukebox verstummte, war nur noch Gregorys Schluchzen zu hören.

»Stell dich dort drüben hin.« Der Kerl hatte die Hände erhoben und gehorchte Burke so hastig, daß er dabei über die eigenen großen Füße stolperte. »Keiner macht Dummheiten, verstanden?« ermahnte Burke die Männer, die ihn mit feindseligen Mienen umringten. Er trat auf Gregory zu und stieß ihn mit der Schuhspitze an. »Los, aufstehen!«

Gregory verbarg das Gesicht in den Armen und begann noch lauter zu schluchzen. Burke mußte zähneknirschend gegen die Versuchung ankämpfen, selbst auf den jungen Mann einzuschlagen. »Wenn Sie nicht sofort aufstehen und zur Tür gehen, überlasse ich Sie diesen Kerlen, das schwöre ich Ihnen. Bevor die mit Ihnen fertig sind, werden Sie sich wünschen, wieder im Gefängnis zu sitzen.«

Diese Warnung wirkte. Gregory rappelte sich wimmernd und schniefend auf. »Tut mir leid, ich …«

»Halten Sie den Mund!«

»Okay, aber lassen Sie mich nicht hier.« Er fuhr sich mit dem Jackenärmel über das blutige Gesicht und stolperte zum Ausgang.

Burke, dessen Hand mit der Pistole einen weiten Bogen beschrieb, bewegte sich jetzt rückwärts in Richtung Tür. »Wir verschwinden jetzt. Wir wollen keine Schwierigkeiten mehr. Passiert ist schließlich nichts. Macht einfach weiter wie bisher.«

Als sie die Tür erreichten, stieß er Gregory ins Freie und folgte ihm rasch. Zu seiner Erleichterung stand ihr Kleinbus mit laufendem Motor vor der Werkstatt. »Schnell in den Bus!« rief er, während er zum Kassenraum der Tankstelle weitertrabte, wo er Errol mit Mrs. Duvall stehen sah. Der Leibwächter telefonierte und machte dabei weit ausholende Handbewegungen.

Burke stürmte in den Kassenraum, riß Errol den Telefonhörer aus der Hand und schlug dem Leibwächter den Hörer an die Schläfe. Dieser Schlag konnte nicht viel Schaden anrichten, aber er setzte Errol so lange außer Gefecht, daß Burke Remy Duvall am Arm packen und mit sich zur Tür ziehen konnte.

Sie versuchte sich loszureißen. »Lassen Sie mich los!«

Eine Kundin, die eben an der Kasse stand, stieß einen gellenden Schrei aus. Burke sah den Tankwart unter die Kassentheke greifen, als wollte er darunter eine Waffe hervorholen. »Halt! Keine Bewegung!« rief er warnend. Der Tankwart erstarrte. Der alternde Hippie-Mechaniker, der an der offenen Tür zwischen Werkstatt und Kassenraum stand, wischte sich die Hände mit einem Knäuel Putzwolle ab und murmelte dabei immer wieder: »Wahnsinn.«

Burke ging rückwärts aus dem Kassenraum. Pinkie Duvalls Ehefrau kämpfte verzweifelt darum, sich zu befreien. Er schlang ihr einen Arm um die Taille und schleppte sie so mit sich zu dem Kleinbus. Obwohl sie strampelte und um sich schlug, war sie ihm körperlich unterlegen, aber ihre hohen Absätze trafen mehrmals kräftig seine Schienbeine, so daß er vor Schmerzen fluchte. Dann zerkratzten ihre langen Fingernägel ihm den Handrücken.

»Schluß jetzt!« Burke faßte sie noch fester um die Taille und sagte dicht neben ihrem Ohr: »Sie können sich wehren, soviel Sie wollen, aber das nützt nichts. Sie kommen mit mir.«

»Sind Sie verrückt? Lassen Sie mich sofort los!«

»Kommt nicht in Frage.«

»Mein Mann bringt Sie um.«

»Schon möglich. Aber nicht heute.«

Er riß die Fahrertür des Kleinbusses auf, schob Remy Duvall hinein und kletterte hinterher. Während er die Tür zuknallte, stellte er die Automatik bereits auf Drive und trat das Gaspedal durch. Die Reifen hinterließen schwarze Spuren auf dem Asphalt, als der Wagen davonschoß. Burke bog nach rechts auf eine der Staatsstraßen ab, geriet dabei weit auf die andere Fahrbahn und wäre fast mit einem entgegenkommenden Tanklaster zusammengestoßen. Der Sattelschlepper verfehlte ihren Bus nur um Haaresbreite.

Gregory kreischte, betete und schimpfte abwechselnd. Burke brüllte ihn an, er solle endlich die Klappe halten. »Verdammter Idiot! Was hast du dir überhaupt dabei gedacht? Das hätte uns allen das Leben kosten können!«

»Es ist deine Schuld, nicht meine«, schluchzte Gregory. »Wieso hast du eine Pistole? Von einer Waffe war nie die Rede.«

»Sei lieber froh, daß ich eine hatte, um deinen erbärmlichen Arsch retten zu können. Ich weiß bloß nicht, warum ich’s getan habe.«

Mrs. Duvall, die sich den Fahrersitz noch mit Burke teilte, klappte plötzlich die Armlehne hoch und ließ sich zwischen die beiden vorderen Sitze fallen. Sie kam wieder hoch und versuchte, den Verschlußhebel der rechten Schiebetür zu erreichen. »Halt sie zurück!« rief Burke laut.

Gregory war in schlechter Verfassung, aber er hatte zuviel Angst vor Burke, um seinen Befehl nicht auszuführen. Er verließ den Beifahrersitz, warf sich auf Remy und packte sie an den Haaren. »’tschuddigung, ’tschuddigung.« Seine Lippen waren dick geschwollen, und seine blutige Nase schien gebrochen zu sein. »Er ist brutal. Ich will Ihnen nicht weh tun. Aber ich fürchte, daß er mich umbringt, wenn ich nicht mache, was er sagt.«

»Ja, ich verstehe«, sagte sie erstaunlich gefaßt. »Bitte lassen Sie jetzt mein Haar los.«

Burke sprach sie über die Schulter hinweg an. »Niemand tut Ihnen etwas, wenn Sie nicht zu flüchten versuchen. Okay?« Sie nickte angespannt, aber er bezweifelte, daß sie es ehrlich meinte. »Bei dieser Geschwindigkeit würden Sie sich den Hals brechen«, fügte er hinzu, um sie vor der Gefahr zu warnen, die ihr drohte, wenn sie aus dem Fahrzeug sprang.

»Ja, ich verstehe.«

»Gut. Gregory, laß sie los und setz dich wieder auf deinen Platz. Sie«, sagte er zu ihr, »setzen sich hier zwischen uns auf den Boden.«

Gregory kehrte auf den Beifahrersitz zurück. Burke wartete nervös, bis Remy Duvall zwischen ihnen auf dem Boden saß. »Wer sind Sie?« wollte sie wissen.

Als sie zu ihm aufsah, standen Tränen in ihren angstvoll geweiteten Augen. Ihr Gesicht war leichenblaß. Noch mehr betont wurde ihre Blässe durch einen Blutfaden im linken Mundwinkel. Hatte sie sich auf die Lippe gebissen? Oder hatte er sie versehentlich geschlagen, als er sie zum Bus geschleppt hatte?

Burke, dem bei dieser Vorstellung unbehaglich wurde, sah wieder nach vorn. Im nächsten Augenblick entdeckte er im Rückspiegel einen Pick-up, der rasch aufholte.

»Verdammt!« Was konnte noch alles schiefgehen? Gregory und Mrs. Duvall bluteten beide, und hinter ihnen kam ein Pick-up mit aufgebrachten Hinterwäldlern herangerast, die es auf sie abgesehen hatten. »Gregory, nimm die Pistole.«

»Hä? Wozu?«

»Sieh dich um.«

Gregory warf einen Blick in den Außenspiegel und kreischte erschrocken, als er den rasch näher kommenden Pick-up sah. Der Mann aus der Toilette stand auf der Ladefläche, lehnte sich ans Fahrerhaus und benutzte das Dach als Auflage für seine Schrotflinte, mit der er auf den Kleinbus zielte. Er stieß einen gellend lauten Kriegsruf aus. Auf der Ladefläche hockten mehrere seiner Kumpane, und das Fahrerhaus war voller wutschnaubender Schwulenklatscher.

»Himmel! O Gott!« jammerte Gregory. »Die bringen mich um!«

»Ich bring’ dich selbst um, wenn du dich nicht zusammenreißt«, drohte Burke ihm. »Nimm die Pistole!« Er lehnte sich übr Mrs. Duvall hinweg und drückte Gregory die Waffe in seine zitternden Hände.

»Ich hab’ noch nie geschossen!«

»Du brauchst nur zu zielen und abzudrücken.«

Burke hoffte, daß diese lächerliche Verfolgungsjagd nicht in ein Feuergefecht ausarten würde. Er hoffte, daß er seinen Vorsprung vor dem Pick-up würde halten können, um das zu verhindern. Der Kleinbus war kein Rennwagen, und der provisorisch instand gesetzte Kühlwasserschlauch konnte sich jeden Augenblick als kritischer Faktor erweisen. Aber der Pick-up war schwer. Mit seiner zusätzlichen Last würde auch er nicht die volle Leistung erreichen.

Irgendwann würde der aufgebrachte Mob die Verfolgungsjagd vielleicht satt haben und beschließen, lieber umzukehren und im Café eine weitere Runde Bier zu trinken. Oder Burke würde es nach Einbruch der Dunkelheit gelingen, ihre Verfolger abzuschütteln.

Oder die Verfolgung würde weitergehen, bis die Männer sie einholten und alle drei umbrachten.

Der Pick-up schob sich stetig näher an sie heran, bis die Stoßstangen der beiden Fahrzeuge sich fast berührten. Burke fuhr in Schlangenlinien, um zu verhindern, daß der andere Wagen sich neben sie setzte oder sie überholte. Daraus entwickelte sich sehr bald ein Wettbewerb, bei dem ein Fahrer den anderen auszumanövrieren versuchte. Burke konzentrierte sich darauf, vor dem Pick-up zu bleiben und den Bus auf der schmalen Straße zu halten. Beim geringsten Fahrfehler würden sie in die gefährlichen Sümpfe auf einer der beiden Straßenseiten rasen.

Er konzentrierte sich so sehr auf seine Fahrerei, daß er Mrs. Duvalls ausgestreckte Hand erst wahrnahm, als es schon fast zu spät war, um sie daran zu hindern, den Zündschlüssel aus dem Schloß zu ziehen. Seine Hand schoß nach unten, bedeckte ihre und hielt sie fest. Mrs. Duvall schrie erschrocken und vor Schmerz auf, als der Schlüsselring sich in ihre Handfläche grub.

»Loslassen!« befahl Burke ihr. Weil er jetzt nur noch mit einer Hand lenkte, geriet der Kleinbus aufs Bankett, wirbelte dort Staub und Steine auf und wäre fast von der Straße abgekommen. Gregory kreischte entsetzt.

»So bringen Sie uns alle um!« rief Mrs. Duvall aus. »Halten Sie an! Diese Leute lassen bestimmt mit sich reden.«

»Sind Sie übergeschnappt, Lady? Ihn und mich legen sie um und verfüttern uns an die Alligatoren. Sie werden erst umgebracht, nachdem jeder bei Ihnen drangekommen ist. Lassen Sie den verdammten Schlüssel los, nur dann haben wir vielleicht eine …«

Ein Schuß aus der Schrotflinte zersplitterte die Heckscheibe. Gregory kreischte wieder und verkroch sich im Fußraum vor dem Beifahrersitz, obwohl der Schrot weit gestreut hatte und die hohen Sitzlehnen ausreichend Schutz vor fliegenden Glassplittern geboten hatten. Mrs. Duvall schrie nicht, ließ aber sofort den Zündschlüssel los und duckte sich auf den Wagenboden.

Burke trat noch kräftiger aufs Gaspedal, obwohl es längst durchgetreten war. Da der Bus nicht schneller fahren konnte, war er sehr überrascht, als der Pick-up in seinem Rückspiegel kleiner wurde. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, daß das andere Fahrzeug langsamer wurde. Dieser Schuß aus der Schrotflinte war ein letztes Aufbäumen gewesen. Die Verfolger gaben auf.

In seinen Rückspiegeln schrumpfte der Pick-up auf Stecknadelgröße zusammen, aber Burke trat das Gaspadel weiter durch. Als er abbiegen mußte, nahm er die Kurve auf zwei Rädern. Er behielt die Spiegel noch minutenlang im Auge, aber als unverkennbar war, daß die Jagd vorbei war, sagte er: »Ihr könnt euch wieder hinsetzen. Sie haben aufgegeben, weil wir die Mühe nicht lohnen.«

Gregory kam hoch und ließ sich ächzend auf den Beifahrersitz fallen. Er hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem gutaussehenden jungen Mann, für den dieser Nachmittag damit begonnen hatte, daß er einen Priester gespielt hatte. Sein Gesicht war geschwollen, mit blauen und grünen Flecken übersät und mit angetrocknetem dunklem Blut bedeckt.

Im Gegensatz dazu war das Blut auf dem Rücken von Mrs. Duvalls Jacke hellrot.