Pinkie öffnete die Beifahrertür, noch bevor Wayne Bardos Wagen ganz zum Stehen gekommen war. Ein Streifenwagen des Sheriffs war bereits eingetroffen; das war unangenehm, aber damit würde er fertig. Er sah Errol an der Außenwand des Cafés Crossroads lehnen. Der große Mann stand mit hochgezogenen Schultern und tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen da und machte ein Gesicht, als wollte er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Remy war nirgends zu sehen, was hoffentlich bedeutete, daß sie vorerst in einem Büro oder sonstwo Zuflucht gefunden hatte. Daß seine Frau auch nur im entferntesten in eine Kneipenschlägerei verwickelt gewesen war, war unvorstellbar. Darauf würden die Medien sich mit Begeisterung stürzen.
Bevor er zu Errol hinüberging, wies er Bardo an, Remy zu suchen und ins Auto zu setzen. »Je schneller wir hier verschwinden, desto besser.«
Bardo ging zu dem Büro hinter dem Verkaufsraum der Tankstelle hinüber, in dem der Sheriff Augenzeugen befragte. Pinkie knöpfte sich Errol vor. »Was ist passiert?«
»Der … der … der Bus hatte eine Panne. Ich hab’ ihm gesagt, daß er hier reinfahren soll …«
»Wem?«
»Pater Kevin. Er ist gefahren.«
Pinkie nickte ungeduldig. »Los, weiter!« drängte er. Errol stammelte seinen Bericht, wobei er betonte, er habe Mrs. Duvall keine Sekunde aus den Augen gelassen – nicht einmal, als er von der Tankstelle aus telefoniert habe, damit Roman sie abholte.
»Du hättest mich anrufen sollen.«
»Das habe ich vorgeschlagen, aber Mrs. Duvall hat gesagt, wir sollten Sie nicht belästigen. Mir war das nicht recht, aber sie…«
»Wie hat die Schlägerei angefangen?«
Pinkie hörte immer ungläubiger zu. »Der Priester, den meine Frau in unserem Haus empfangen hat?«
»Ich hab’ Ihnen doch gesagt, daß er meiner Meinung nach schwul ist«, sagte Errol, um sich zu verteidigen.
»Du hast mir nicht gesagt, daß ihm zuzutrauen wäre, sich auf der Toilette an einen anderen Kerl ranzumachen. Mein Gott!«
»Ich hab’ es Ihnen erzählt, wie ich es gesehen hab’, Boß.«
»Okay, was ist dann passiert?«
»Die Kerle haben angefangen, Pater Gregory zu verprügeln. Sobald die Sache brenzlig geworden ist, hab’ ich Mrs. Duvall in Sicherheit gebracht. Ich hab’ sie in die Tankstelle dort drüben geführt. Von dort aus hab’ ich Ihre Kanzlei angerufen. Ich war gerade dabei, Ihrer Sekretärin alles zu erklären, als …«
»Okay. Den Rest kannst du mir später erzählen. Wir nehmen Remy mit und verschwinden.«
»Äh, Mr. Duvall …«
»Pinkie!«
Duvall fuhr herum, als er Bardo seinen Namen rufen hörte. Der andere kam sichtlich aufgeregt auf ihn zugerannt.
»Ihre Frau ist nicht da! Sie haben sie mitgenommen!«
»Was? Wer hat sie mitgenommen? Der Sheriff? Wohin?«
»Das wollte ich … Ich habe keine Gelegenheit gehabt, alles zu erzählen, Sir.«
Pinkie drehte sich wieder zu Errol um, der wie ein Mann aussah, der vor einem Erschießungskommando steht. »Als ich noch mal Ihre Kanzlei angerufen habe, waren Sie schon unterwegs. Und Bardo hat kein Mobiltelefon, deshalb konnte ich Sie unterwegs nicht erreichen. Ihre Sekretärin hat gesagt, daß Sie Ihren Piepser nicht eingeschaltet haben. Ich konnte Sie also nicht …«
Pinkie packte Errol an den Aufschlägen seines Sakkos und schüttelte ihn durch. »Du hast genau fünf Sekunden Zeit, meine Frau herbeizuschaffen.«
»Das kann ich nicht, Mr. Duvall«, sagte der große Mann. Er begann zu weinen. »P-P-Pater Kevin hat seine Pistole gezogen und …«
»Seine Pistole?«
»Ja, Sir. Er … er hat sie mir über den Kopf geschlagen und Mrs. Duvall mit dem Bus entführt.«
Pinkie sah plötzlich rot, als sei unmittelbar hinter seinen Augen eine Arterie geplatzt und habe sie mit Blut überschwemmt. Er zog die 38er Pistole, die er stets in einem Halfter hinten am Hosenbund trug, und rammte die Mündung des kurzen Laufs in das weiche Fleisch unter Errols zitterndem Kinn.
Die Erschütterungen, mit denen sie aus dem Bus gehoben wurden, ließen sie wieder zu Bewußtsein kommen. Ihr Rücken und ihre Schultern brannten, als seien sie von tausend wütenden Bienen gestochen worden. Sie nahm undeutlich wahr, daß sie getragen wurde. Sie schlug die Augen auf.
Am Nachthimmel standen Sterne. Millionen von Sternen. Mehr, als sie je gesehen hatte. Ihre Leuchtkraft erstaunte sie. Das mußte bedeuten, daß sie sich weit außerhalb der Stadt befand. Hier wurde das Sternenbild nicht durch künstliche Lichtquellen beeinträchtigt. Die Luft war kühl, aber merklich feucht.
»Dredd! Dredd!«
Das war Pater Kevins Stimme. Gleichzeitig hörte sie rasche Schritte auf hohl klingenden Bohlen und erkannte, daß er sie anscheinend über eine Brücke oder einen Bootsanleger trug.
Am anderen Ende stand eine seltsame Konstruktion. Tatsächlich bestand sie aus mehreren Gebäuden, die anscheinend ohne vorher festgelegten Gesamtplan aneinandergebaut worden waren.
Hinter einer Fliegengittertür stand ein noch merkwürdiger aussehender Mann mit einer in Hüfthöhe in Anschlag gehaltenen Schrotflinte. Sie war auf sie gerichtet.
»Wer da?«
»Ich brauche deine Hilfe, Dredd.«
»Heilige Louisa!« Sie befanden sich jetzt in einem blaßgelben Lichtkegel, den ein auf einen Holzmast montierter Scheinwerfer auf die Galerie – eine mit einem Geländer gesicherte Plattform über dem Wasser – warf. Der Mann namens Dredd kannte Pater Kevin offenbar, denn er stellte seine Schrotflinte weg und stieß die Fliegengittertür auf. »Was zum Teufel hast du hier draußen zu suchen? Was ist mit ihr passiert?«
»Schußwunde.«
»Tot?«
»Nein.«
»Wie schlimm?«
»Ziemlich. Wo soll ich sie hinlegen?«
»Ich hab’ nur ein Bett, und du weißt, wo es steht.«
Als sie beim Hineingehen an Dredd vorbeikamen, stieg ihr plötzlich Rauchgeruch in die Nase. Sein Bart schien zu qualmen. Aber sie hatte natürlich Halluzinationen. Sie sah Raubtiere und Reptilien mit gefletschten Reißzähnen aus den Wänden ragen. Regale standen voller Gläser mit trüben Flüssigkeiten. Unidentifizierbare Tierskelette waren in bedrohlicher Haltung erstarrt. Häute und Felle streiften sie. Sie sah eine auf eine Sitzstange montierte Eule, und erst als der Vogel den Kopf zur Seite drehte, sie mit gelben Augen fixierte und dann gereizt die Schwingen ausbreitete, erkannte sie, daß er lebendig war.
Pater Kevin drehte sich zur Seite, um durch eine schmale Tür in einen kleinen Raum zu gelangen. Von einem Elektrokabel, das man einfach an die Bretterdecke geheftet hatte, hing eine nackte Glühbirne herab. Ihr schwacher Lichtschein warf unheimliche Schatten auf die mit vergilbten Zeitungen tapezierten Wände.
Er legte sie vorsichtig auf das schmale Bett. Die Bettwäsche roch muffig, als sei sei lange nicht mehr gewaschen worden – oder noch nie. Wäre sie nicht zu schwach gewesen, hätte sie dagegen protestiert.
»Ich hab’ dich kaum wiedererkannt«, sagte Dredd zu Pater Kevin.
»Ich erkenne mich heutzutage selbst kaum wieder.« »Was ist das für ein Typ?«
Aus dem Raum, den sie gerade durchquert hatten, war Pater Gregorys halblautes Jammern zu hören. »Später«, antwortete Pater Kevin.
»Er sieht aus, als wäre er in einen Baumhäcksler geraten.«
»Er wird’s überleben – wenn ich ihn nicht vorher selbst umbringe. Aber sie macht mir Sorgen.«
»Schön, sehen wir sie uns mal an.«
Pater Kevin wich zurück, und der Unbekannte trat ans Bett. Remy war zu verblüfft, um erschrocken aufzuschreien. Seine Haut war so braungebrannt, daß sie kaum mehr menschlich wirkte, sondern an die gegerbten Häute erinnerte, die sie nebenan gesehen hatte. Sein Gesicht bestand aus einem Gewirr kreuz und quer verlaufender tiefer Runzeln und Falten. Er war bis zu den Hüften nackt, aber fast die Hälfte seines Oberkörpers wurde von einem krausen grauen Vollbart verdeckt, der an spanisches Moos erinnerte.
Sein Bart stand nicht in Flammen. Er hatte sich nur eine Zigarette in den Mundwinkel geklemmt.
Als er seine schwieligen Hände nach ihr ausstreckte, wich sie vor ihnen zurück. Seine Berührung war jedoch überraschend sanft. Er hob ihre linke Schulter hoch, bis sie fast auf der Seite lag. Sie stöhnte vor Schmerz und schrie laut auf, als er auf eine Stelle unterhalb des Schulterblatts drückte.
»Tut mir leid, chérie«, sagte er brummig. »Ich weiß, daß das jetzt weh tut, aber Dredd kriegt alles wieder hin.«
Er wälzte sie sanft auf den Rücken zurück und wandte sich ab. »Du stehst mir im Licht«, sagte er gereizt und schob Pater Kevin weg, der sich herandrängte.
»Wie schlimm ist sie verletzt? Wird sie wieder? Kommst du damit zurecht?«
»Ach, jetzt fragst du plötzlich! Wo du mich schon überrumpelt hast mit einer Frau, die Schußwunden hat und nur halb bei Bewußtsein ist, und einem Priester, der übel zusammengeschlagen wurde. Jetzt, wo sie mir das ganze Bett vollgeblutet hat, fragst du mich, ob ich damit zurechtkomme?«
»Und, was sagst du?«
»Natürlich komme ich damit zurecht – wenn du mich in Ruhe arbeiten läßt. Zum Glück war’s nur Vogelschrot, aber sie hat mehrere Kugeln abbekommen.«
»Was kann ich tun?«
»Du kannst mir aus dem Weg gehen.«
Remy schloß die Augen. Ich bin angeschossen worden?
Als sie darüber nachgrübelte, fiel ihr alles wieder ein: die Panne mit dem Bus, das Café, die Schlägerei, der Geistliche mit einer Pistole …
Sie schlug rasch wieder die Augen auf. Er stand neben dem Bett, blickte auf sie herab und starrte sie so unverwandt an, wie die Eule sie betrachtet hatte. Seine Flüche, sein Kampfgeist und sein ganzes Verhalten sprachen dagegen, daß dieser Mann ein Priester war. Ein Teil ihres Verstandes fragte sich nüchtern, wie sie so naiv hatte sein können. Bei näherer Betrachtung hatte er gar nichts Frommes an sich. Er strahlte eine Intensität aus, die mit der Gnade und dem Frieden – Lohn derer, die auf dem Pfad des Herrn wandeln – nicht vereinbar war. Sein Mund war nicht für Gebete gemacht. Er war zu hart, zu zynisch, besser für grobe Worte geeignet. Er war leidenschaftlich – aber nicht in seiner Liebe zu Gott oder seinen Mitmenschen. Obwohl er völlig unbeweglich dastand, schien er vor innerer Hitze zu vibrieren. Es ängstigte sie. Nicht nur ihretwegen, sondern auch um seiner selbst willen.
Der Mann namens Dredd kam mit einem vollen Glas zurück.
Pater Kevin nahm es ihm aus der Hand und roch mißtrauisch daran. »Was ist das?«
»Mische ich mich in deinen Kram ein?« fragte Dredd beleidigt und nahm ihm das Glas wieder weg.
»Hör zu, Dredd, sie ist …«
»Sie ist verletzt. Ich versuche, ihr zu helfen. Wenn du mir nicht traust, kannst du mit ihr und dieser erbärmlichen Karikatur von einem Geistlichen dort draußen verschwinden und mich in Ruhe lassen. Ich habe nie verlangt, in dieses Chaos hineingezogen zu werden. Du hast es mir aufgedrängt. Was soll’s also sein?«
Er faßte Pater Kevins Schweigen als Zustimmung auf. »Gut, dann sind wir uns also einig.«
Dredd konzentrierte sich wieder auf sie, beugte sich über sie und hielt ihr das Glas an die Lippen. »Trinken Sie das.« Die Flüssigkeit schmeckte bitter. Sie wollte den Kopf wegdrehen, aber er legte eine Hand auf ihre Wange und hinderte sie daran. »Kommen Sie, trinken Sie aus. Davon schlafen Sie ein. Dann spüren Sie nichts mehr.«
Er kippte das Glas leicht, so daß sie das bittere Zeug runterschlucken, es ausspucken oder daran ersticken mußte. Sie rechnete sich aus, daß er lediglich mit einer weiteren Portion zurückkommen würde, wenn sie die Flüssigkeit ausspuckte. Außerdem war das Versprechen, nichts mehr spüren zu müssen, verlockend. Sie trank das Glas aus.
»Braves Mädchen. Ist Ihnen kalt?« Er zog eine Decke über ihre Beine. »Ich lasse Sie jetzt allein, um mein Zeug zusammenzusuchen. Bis ich zurückkomme, schlafen Sie wahrscheinlich schon, aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich kümmere mich um Sie. Wenn Sie aufwachen, geht’s Ihnen garantiert besser.« Er tätschelte ihre Hand und richtete sich auf. Beim Hinausgehen sagte er: »Du hast gefragt, was du tun kannst. Du kannst sie ausziehen und auf den Bauch legen.«
Dredd verließ den Raum, und sie war wieder mit ihrem Entführer allein. Er setzte sich auf den Rand der dünnen Matratze und machte sich daran, ihre Kostümjacke aufzuknöpfen. Sie konnte ihn nicht daran hindern. Das bittere Gebräu, das Dredd ihr eingeflößt hatte, wirkte schnell und nachhaltig. In ihren Zehen und Fingerspitzen kribbelte es bereits. Es fiel ihr immer schwerer, die Augen offenzuhalten.
Als er sie hochhob, um ihr die Kostümjacke abzustreifen, sank ihr Kopf kraftlos nach vorn an seine Schulter. Die Arme, die er aus den Jackenärmeln zog, schienen nicht ihr zu gehören. Sie zuckte zusammen, als er den blutgetränkten Stoff von ihrer Haut löste, aber die Schmerzen waren längst nicht mehr so stark wie noch vor wenigen Minuten.
Sie fühlte, wie ihr Busen sich weich an seine Brust drückte und wußte, daß er ihren BH-Verschluß geöffnet hatte. Normalerweise wäre sie nun in Panik geraten. Aber ihr fehlte die Kraft, sich auch nur Sorgen darüber zu machen.
Dann ließ er sie behutsam aufs Bett zurücksinken, und als sie die Augen öffnete, sah sie gerade noch, wie er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Auf seinem Handrücken fielen ihr die vier blutigen Kratzer auf, die von ihren Fingernägeln stammten.
Die Spitze seines kleinen Fingers berührte ihren Mundwinkel. »Tut das weh?«
»Wer sind Sie?«
Ihre Blicke begegneten sich. Nach kurzem Zögern sagte er: »Ich heiße Burke Basile.« Er erwiderte ihren Blick einige Sekunden lang, bevor seine Hände nach ihren Schultern griffen, um ihr die BH-Träger abzustreifen.
»Nein. Bitte nicht.«
»Sie haben gehört, was Dredd gesagt hat«, antwortete er. »Ich soll Sie ausziehen und auf den Bauch legen, damit er Ihren Rücken versorgen kann.«
Das war es nicht, wogegen sie protestierte. Sie versuchte den Kopf zu schütteln, aber sie wußte nicht, ob der entsprechende Befehl ihre Muskeln erreichte – oder ob sie ihn noch ausführen konnte. »Tun Sie’s nicht, Mr. Basile«, flüsterte sie. Dann gab sie das Bemühen auf, ihre Augen offenzuhalten, holte tief Luft und sagte kaum hörbar: »Er bringt Sie um.«