21. Kapitel

»Sehen Sie, Sheriff«, sagte Pinkie jovial, »Pater Kevin hat die Pistole meiner Frau nur benützt, um sie zu schützen. Eigentlich komisch, wenn man es sich recht überlegt – ein Priester mit einer Waffe.«

Aber der Sheriff schien das nicht ganz so amüsant zu finden. »Wozu braucht Ihre Frau eine Waffe?«

»Durch meine Karriere habe ich mir viele Feinde gemacht, was Sie nicht überraschen dürfte. Obwohl Mrs. Duvall einen Leibwächter hat, rate ich ihr, immer eine Waffe in ihrer Handtasche zu haben. Nur gut, daß sie heute ihre Pistole dabei hatte.«

Der Sheriff rieb sich das Kinn. »Ich weiß nicht recht, Mr. Duvall. Die Augenzeugen behaupten, sie habe sich gegen ihn gewehrt.«

Pinkie schmunzelte leutselig. »Das ist wieder mal typisch für sie. Meine Frau ist eigensinnig und läßt sich nicht gern Befehle erteilen. Pater Kevin hat versucht, sie aus der Gefahrenzone wegzubringen, aber sie wollte dableiben und Pater Gregory verteidigen. Sie bedauert ihn zutiefst wegen seiner… nun, seien wir barmherzig, nennen wir es Schwäche.

So ist sie eben. Immer auf der Seite der Schwächeren und stets bereit, dem Tyrannen entgegenzutreten. Ich bin Pater Kevin für sein promptes Eingreifen wirklich dankbar. Er hat geistesgegenwärtig reagiert, als er sie von hier weggebracht hat. Ich bin ihm zu großen Dank verpflichtet.«

»Wissen Sie bestimmt, daß die beiden sie nach Hause bringen?«

»Ganz sicher.« Pinkie streckte ihm die Hand hin. »Ich kann nicht behaupten, es hätte mich gefreut, aber ich finde es sehr befriedigend, daß ihr Leute hier im Jefferson Parish es versteht, in einer kritischen Situation schnell zu reagieren.«

»Danke, Mr. Duvall. Wir tun unser Bestes.«

»Gute Nacht.« Pinkie wollte zu Bardos Wagen gehen.

»Halt, noch etwas, Mr. Duvall: Warum hat der Priester Ihren Mann hier niedergeschlagen?«

»Pater Kevin war bestimmt sauer auf ihn, weil er nicht rechtzeitig eingegriffen hat.« Er sah zum Auto hinüber und fügte finster hinzu: »Eine Sache, mit der ich mich gleich befassen werde.« Er winkte dem Sheriff grüßend zu, bevor er vorn einstieg.

»Wohin?« fragte Bardo.

Pinkie war versucht, die Verfolgung des Kleinbusses aufzunehmen, aber da es mittlerweile dunkel geworden war und er nicht wußte, wohin die Entführer wollten, riskierte er, stundenlang auf diesen Landstraßen herumzukurven und nicht mehr zu erreichen, als sich hoffnungslos zu verfahren. »In meine Kanzlei.«

Bardo fuhr in Richtung Stadt davon. »Was haben Sie unserem Meisterdetektiv dort hinten erzählt?«

»Ich habe mir eine Geschichte einfallen lassen.«

»Und die hat er geglaubt?«

»Ich habe ihm keine andere Wahl gelassen. Wenn ich zugelassen hätte, daß er die Sache als Entführung behandelt, hätte er das FBI verständigt.«

»Schlecht fürs Geschäft.«

»Sehr schlecht. Außerdem sind die meist nicht imstande, mit zwei Händen den eigenen Arsch zu finden. Ich bin besser dran, wenn ich alles selbst übernehme.«

Bardo sah sich kurz zu der Gestalt auf dem Rücksitz um. »Wenigstens haben Sie keine Mordanklage am Hals. Ich habe Sie gerade noch rechtzeitig zurückgerissen.«

Errol kauerte in einer Ecke des Fond, sichtlich mitgenommen von seinem Scharmützel mit dem Tod und einem heftigen Anfall von Übelkeit. Pinkie war tatsächlich kurz vor dem Abdrücken gewesen, als Bardo ihm in den Arm gefallen war. Er hatte Pinkie die 38er Pistole entwunden und beschwichtigend auf ihn eingeredet, bis er seinen Zorn unter Kontrolle hatte.

»Ich hätte gute Lust, dich abzuknallen!« hatte Pinkie Errol angebrüllt, der sich zu diesem Zeitpunkt ins dürre Unkraut hinter der Tankstelle übergab. »Daß ich dich am Leben lasse, verdankst du nur der Tatsache, daß ich dich brauche, um sie zu finden.«

Dann war der Sheriff auf Pinkie zugetreten und hatte sich ihm vorgestellt. Er teilte ihm mit, was seine Ermittler bisher herausbekommen hatten. »Der Tankwart war so fertig, daß er am Telefon kein klares Wort hervorbrachte. Deshalb hatten meine Jungs keine Ahnung, was sie hier erwartet. Als sie dann mit den Leuten geredet haben, haben sie bald gemerkt, daß hier mehr passiert ist als bloß ’ne Kneipenschlägerei. Ich sag’s nicht gern, Mr. Duvall, aber Ihre Frau ist anscheinend entführt worden.«

Nach einstündiger Diskussion war es Pinkie endlich gelungen, dem Sheriff einzureden, die Zeugen seien hysterisch und hätten nicht wirklich gesehen, was sie gesehen haben wollten. das gehörte zu Duvalls Spezialitäten. Diese Technik hatte er in Hunderten von Gerichtsverfahren bis zur Perfektion entwickelt. Zeugen, die anfangs jeden Eid geschworen hätten, alles habe sich so abgespielt, wie von ihnen geschildert, widerriefen ihre Aussage, nachdem Pinkie Duvall sie ins Kreuzverhör genommen hatte.

»Was ist mit dem Mechaniker?« hatte der Sheriff gefragt. »Er sagt, daß der Priester gestern in normaler Kleidung bei ihm gewesen war und sich erkundigt hat, wie man einen Kühlwasserschlauch zum Platzen bringen kann.«

Pinkie zog den Sheriff beiseite und tat so, als rauche er einen Joint. »Sie verstehen, was ich meine?«

Der Sheriff gestand ein, die Aussage des als Kiffer bekannten Mechanikers sei vielleicht nicht unbedingt zuverlässig. Die Kundin, die während des Vorfalls an der Kasse gestanden hatte, beharrte zunächst auf ihrer Aussage, aber auch sie traute zuletzt ihren eigenen Augen und Ohren nicht mehr. Der Tankwart, den Pinkie durch alle möglichen Alternativen verwirrte, räumte ein, dem Geistlichen sei es offenbar mehr darauf angekommen, Mrs. Duvall aus der Gefahrenzone zu bringen, als ihr zu schaden. Die Raufbolde, die den Kleinbus verfolgt hatten, liefen auseinander, als sie beim Zurückkommen einen Streifenwagen vor dem Café Crossroads stehen sahen. Und die im Café zurückgebliebenen Gäste wußten angeblich nix über nix und niemand.

Pinkie Duvall war eine lebende Legende. Der Sheriff hatte ihn mit den Worten begrüßt: »Ist mir ’ne große Ehre, Mr. Duvall. Ich kenne Sie aus dem Fernsehen.« Die Tatsache, daß jemand im Fernsehen erschien, wirkte auf gewöhnliche Sterbliche wie ein starker Voodoo-Zauber. Pinkie hatte den Respekt des Sheriffs schamlos ausgenützt. Seine Berühmtheit überstrahlte nicht nur das Pflichtbewußtsein des Gesetzeshüters, sondern auch seine Fähigkeit, logische Schlußfolgerungen zu ziehen.

Pinkie hatte sein Ziel erreicht, weitere Ermittlungen und eine Großfahndung zu verhindern, aber der Erfolg hatte viel Zeit gekostet. Deshalb hatten die Entführer seiner Frau einen großen Vorsprung. Er drehte sich um und sprach Errol an.

»Wer war es?«

Errol schluckte geräuschvoll und zog die massiven Schultern bis zu den Ohrläppchen hoch. »Priester.«

»Erzähl mir nicht, daß es Priester waren«, sagte Pinkie mit leiser, drohender Stimme. »Ist in den Klumpen Scheiße, der sich als dein Gehirn ausgibt, noch nicht vorgedrungen, daß die beiden Männer nicht das sind, wofür sie sich ausgegeben haben?«

Errol reagierte nicht auf diese Beleidigung, sondern antwortete: »Ich weiß nur, daß es die gleichen Männer waren, die vor ein paar Tagen bei uns im Haus gewesen sind.«

»Wie sehen sie aus?«

»Na ja, wie…« Er wollte Priester sagen, verstummte jedoch, als er sah, daß Pinkies Augen sich drohend verengten. »Wie ich Ihnen schon gesagt hab’, Mr. Duvall, Pater Gregory ist jung und sieht gut aus. Schlank. Dunkles Haar, schwarze Augen. Bestimmt schwul. Der Kerl hält nie die Klappe. Pater Kevin redet nicht viel, aber er bestimmt, was gemacht wird. Ganz eindeutig.«

»Wie ist er?«

»Clever und gerissen. Ich hab’ ihm gleich nicht getraut. Ihn hab’ ich dabei erwischt, als er … äh.«

»Wobei?«

Errol sah zu Bardo hinüber. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er rieb sich die feuchten Handflächen an den Oberschenkeln trocken. »Du hast ihn dabei erwischt, als er was getan hat?« fragte Pinkie, wobei er jedes Wort einzeln betonte.

»Ich, äh, war auf dem Weg zum Klo. Zu dem im Erdgeschoß. Und ich … ich hab’ Pater Kevin auf der Treppe erwischt. Er ist von oben runtergekommen.«

»Er war oben? Er war im Obergeschoß meines Hauses, und du hast mir nichts davon erzählt?«

Bardo pfiff leise durch die Zähne.

»Er hat gesagt, daß er oben aufs Klo gehen mußte, weil unten kein Papier war. Ich hab’ nachgesehen. Der Klopapierhalter war tatsächlich leer.«

»Was für ein Detektiv!« Bardo schnaubte verächtlich. »Sie und Nancy Drew.«

»Maul halten!« knurrte Duvall. »Wie sieht dieser Dreckskerl aus? Körperlich.«

Errol beschrieb den Mann: überdurchschnittlich groß, sehnig, schlank, regelmäßige Gesichtszüge, keine sichtbaren Narben, keine besonderen Kennzeichen, bartlos.

»Augenfarbe?«

»Schwer zu sagen. Er trägt eine Brille.«

»Haar?«

»Dunkel, glatt nach hinten gekämmt.«

Die Personenbeschreibung traf auf hundert Männer aus Pinkies weitem Freundes-, Bekannten- und Feindeskreis zu. »Wer er auch ist – er hat nicht mehr lange zu leben.«

Niemand eignete sich etwas an, was Pinkie Duvall gehörte, und kam ungestraft davon. Und dieser Dreckskerl hatte ihm seinen kostbarsten Besitz geraubt. Wenn er ihr etwas antat … Wenn er sie auch nur berührte … Er genoß die Vorstellung, den unbekannten Mann mit bloßen Händen zu erwürgen.

Bardo unterbrach Pinkies mörderischen Tagtraum. »Das versteh’ ich nicht – zwei Geistliche, einer davon schwul, entführen eine Frau. Was wollen sie mit ihr?«

»Sie haben’s nicht auf Remy abgesehen. Sondern auf mich.«

Dafür hatte Pinkie keinen Beweis; er hätte seine Schlußfolgerung auch nicht logisch begründen können. Aber er wußte, daß er recht hatte.

 

»Schieb, verdammt noch mal!«

»Ich schiebe doch schon.«

Gregory war ebenso unbrauchbar, wenn es darum ging, einen Kleinbus in einem sumpfigen Bayou zu versenken, wie bei jeder anderen Tätigkeit. Burke forderte ihn auf, sich mehr ins Zeug zu legen. Die beiden Männer stemmten sich nochmals mit aller Kraft gegen das Fahrzeug, um es über den weichen Boden zu schieben. Endlich rollte es mehrere Meter weit vorwärts. Burke glaubte schon, sie hätten es geschafft. Aber dann blieb der Bus im Bodenschlamm des sumpfigen Flußarms stecken und ging nicht unter.

»Was machen wir jetzt?«

»Wir lassen ihn stehen«, antwortete Burke knapp. »Irgendwann wird er zwar gefunden, aber bis dahin weiß Duvall, wer seine Frau entführt hat.«

Burke ignorierte Gregorys Jammern, während sie über das sumpfige Gelände zu Dredds Pick-up zurückstapften. Er hatte ihn zu dieser abgelegenen Stelle gefahren, und Gregory war ihm mit dem Bus gefolgt. Unterwegs hatte Burke den Rückspiegel wachsam im Auge behalten. Nach jeder Kurve war er langsamer gefahren, bis die Busscheinwerfer wieder hinter ihm auftauchten. Er war darauf gefaßt, daß Gregory jederzeit durchdrehen konnte. Aber was der junge Mann dann tun würde, ließ sich unmöglich voraussagen.

Jetzt kletterte er fügsam in den Pick-up, der sie zurückbringen würde. Burke folgte einer kurvenreichen Straße durch ein weites Sumpfgebiet. Die aus dem Wasser ragenden verdickten Stämme von Sumpfzypressen rückten bis fast an den Fahrbahnrand heran. Über der Straße wölbte sich ein Dach aus tief herabhängenden Nadelzweigen, an denen spanisches Moos wuchs. Tagsüber erinnerten die Äste an die mit Spitzenschleiern drapierten Arme einer knicksenden Südstaatenschönheit, nachts hatten sie unheimliche Ähnlichkeit mit den Knochenarmen eines Skeletts, das sein zerfetztes Leichentuch hinter sich herzieht. Das Scheinwerferlicht ließ zwischendurch immer wieder die Augen von Nachttieren erglühen, die vor ihnen aus dem Weg hasteten oder in den Sumpf zurückglitten.

Burke fuhr sicher, aber schnell. Er machte sich Sorgen um die Patientin.

Dredd hatte sie mit einem selbstgebrauten Trank narkotisiert. Weiß der Teufel, was der alles enthalten haben mochte. Aber was immer die Zutaten waren, sie hatten gewirkt. Sie hatte tief geschlafen, während Dredd die Schrotkugeln aus ihrem Rücken und ihrer linken Schulter herausgeholt hatte. Dabei hatte er auch mehrere Glassplitter entfernt.

Die kleinen Wunden hatten stark geblutet, aber Dredd hatte sie sorgfältig desinfiziert und dann mit einer Salbe bestrichen, die seiner Aussage nach heilend und stark schmerzlindernd wirken würde. Während er die Wunden versorgte, war Burke nicht von seiner Seite gewichen, was Dredd noch reizbarer als sonst gemacht hatte.

Schließlich hatte er Burke fast mit Gewalt aus dem Zimmer geschoben und ihn ermahnt, den Kleinbus zu beseitigen, bevor der gesamte Süden Louisianas morgen vormittag über Dredds Laden herfiel. »Nichts ist schlechter fürs Geschäft, als wenn Streifenwagen vor dem Laden parken.«

Also war Burke weggefahren – widerstrebend, aber mit dem Bewußtsein, daß sein Freund recht hatte, was die Beseitigung des Fahrzeugs betraf. Nachdem das jetzt erledigt war, hatte er es eilig, zurückzufahren und nach Mrs. Duvall zu sehen.

»Du hast mich ausgenützt.«

»Was?« Als der junge Mann seine Aussage verdrießlich wiederholte, antwortete Burke: »Du hast unseren Deal akzeptiert, Gregory.«

»Als wir den Deal abgeschlossen haben, hast du mir nicht gesagt, daß dazu auch Waffengebrauch und Entführung gehören.«

»Was hast du denn gedacht, was passieren würde, als wir Remy Duvall heute abgeholt haben?«

»Ich dachte, du würdest sie bequatschen, eine Menge Geld für dieses angebliche Kinderheim zu spenden. Ich dachte, du würdest Pinkie Duvall betrügen, ihn mit Gaunertricks wie in dem Film Der Clou abzocken. Aber ich hätte nie gedacht, daß du seine Frau entführen würdest!«

»Du bist selbst schuld daran, daß du in die Entführung mit reingezogen wurdest. Wenn du nicht diesen Typ angemacht hättest, hätte ich dich im Café Crossroads zurückgelassen. Ich wollte Errol und dich dort abschütteln. Aber nein, du hast dich an diesen Kerl ranmachen müssen. Du kannst jetzt schmollen, soviel du willst, aber von mir brauchst du kein Mitleid zu erwarten. Nur weil du so pervers bist, wurde Mrs. Duvall angeschossen. Du bist schuld, daß wir alle beinah draufgegangen wären.«

»Ich bin auch verletzt«, schluchzte Gregory.

»Pech gehabt. Wenn ich nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre, hätte ich dich selbst erwürgt. Halt jetzt die Klappe, sonst tue ich’s noch!«

»Du bist gemein. Richtig gemein.«

Burke lachte humorlos. »Gregory, du hast mich noch nie gemein erlebt.«

Als sich dem jungen Mann ein weiterer schluchzender Hickser entrang, verspürte Burke einen Anflug von Mitleid. Gregory war in eine schlimme Sache hineingeraten. Was ihm anfangs als Filmdrehbuch erschienen sein mochte, hatte sich rasch in einen regelrechten Alptraum verwandelt. Burke hatte vorgehabt, ihn morgen sicher in die Stadt zurückbringen zu lassen. Wenn er dort untergetaucht wäre, bis sein Gesicht abgeheilt war, wäre ihm nichts passiert. Niemand kannte seine wahre Identität. Er würde nie wieder als Pater Gregory auftreten. Keiner würde vermuten, der drittälteste Sohn einer prominenten Familie sei an einer gewagten Entführung beteiligt gewesen. Außerdem wäre Duvall hinter ihm her, nicht hinter Gregory. Gregory hatte nichts zu befürchten.

Der junge Mann schmollte weiter und murmelte trübselig vor sich hin, bis er einnickte. Burke rüttelte ihn wach, als sie Dredds Haus erreichten. »Soll Dredd auch dein Gesicht verarzten?«

»Du spinnst wohl? Ich denke nicht daran, mich von diesem Waldschrat anfassen zu lassen.« Er sah zu dem seltsamen Bau am Ende des Bootsanlegers hinüber und schüttelte sich leicht.

»Wie du willst«, sagte Burke und stieg aus. »Im Wohnzimmer steht eine Couch. Ich schlage vor, daß du etwas zu schlafen versuchst.«

Burke fiel auf, wie mühsam Gregory aus dem Pick-up kletterte. Obwohl der junge Mann es abgelehnt hatte, sich verarzten zu lassen, würde er Dredd bitten, Gregory ein Schmerzmittel zu geben. Er fand ihren Gastgeber noch immer an Mrs. Duvalls Bett.

»Wie geht’s ihr?«

»Sie schläft wie ein Baby.«

Burke zuckte unwillürlich zusammen, weil dieses Wort ihn an ihre Beichte und das Baby erinnerte, das sie verloren hatte. Dredd hatte die Glühbirne ausgeknipst, aber auf der rohen Holzkommode brannte eine flackernde Kerze. Sie schlief auf dem Bauch und hatte ihren Kopf zur Seite gedreht, so daß eine Wange sichtbar war, während die andere im Kissen vergraben war. Ihr Haar war aus dem Gesicht zurückgestrichen und über das Kopfkissen gebreitet. Dredd verstand sich auch auf solche Dinge.

Ihre Wunden bluteten nicht mehr. Sie waren sehr schmerzhaft, aber doch nur oberflächlich gewesen. Trotzdem fragte Burke sich, ob Narben zurückbleiben würden. Das wäre schade gewesen, denn ihre Haut war makellos und wirkte fast durchsichtig. Er dachte an den ersten Abend zurück, an dem er sie in dem Pavillon gesehen hatte. Sie erschien ihm auch jetzt nicht realer als damals.

»C’est une belle femme.«

»Ja, das ist sie.«

»Hat diese Erscheinung auch einen Namen?«

Burke drehte sich um und sah in Dredds runzliges Gesicht. »Mrs. Pinkie Duvall.«

Es gab keinen Aufschrei, der Burkes Geisteszustand anzweifelte, keinen ungläubigen Ausruf, er wurde weder mit Fragen noch mit lautstarken Forderungen nach einer Erklärung bombardiert. Dredd starrte Burke nur lange prüfend an, dann nickte er. »Im Wandschrank steht eine Flasche Whiskey. Bedien dich.« Er ging zur Tür.

»Der Mann dort draußen hat Schmerzen.«

Dredd machte eine Handbewegung, die zeigen sollte, daß er verstanden hatte, blieb aber nicht stehen.

Burke holte sich den Whiskey aus dem Schrank und stellte erleichtert fest, daß es ein Markenprodukt und kein schwarzgebrannter Whiskey aus einem Krug war. Der einzige Stuhl im Zimmer hatte wackelige Holzbeine und eine aus Schilf geflochtene Sitzfläche, die Nagetiere angeknabbert hatten, aber Burke zog ihn ans Bett und setzte sich vorsichtig darauf.

Er hatte seit dem Frühstück vor fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. In Dredds Küche hätte er bestimmt etwas Eßbares finden können, aber er war so müde, daß er lieber darauf verzichtete. Er saß eine Zeitlang einfach nur da, beobachtete die friedlich Schlafende, sah zu, wie ihr Rücken sich bei jedem Atemzug leicht hob und senkte, und kam sich wie ein Widerling vor, weil er sich vorstellte, wie ihr Busen unter ihrem Körper flachgedrückt wurde.

Er hatte sie ritterlich und mit aller gebotenen Zurückhaltung entkleidet. Mit der gebotenen Zurückhaltung. Das bedeutete nicht, daß er nichts gesehen hatte. Gott, wie denn auch nicht? Wenn man Gelegenheit bekommt, die Frau seiner Träume nackt zu sehen, sieht man natürlich hin. Man begutachtet ihren Busen und stellt fest, daß die Brustspitzen wohlgeformt, aber sehr blaß sind. Wie hätte er ihre halterlosen Strümpfe nicht wahrnehmen sollen? Er war schließlich nicht blind. Und ihren Slip, der so durchsichtig war, daß sie genausogut keinen hätte tragen können?

Er trank zwei große Schlucke Whiskey rasch nacheinander. In seinem leeren Magen brannten sie wie Feuer.

Ihr rechter Arm lag so neben ihr, daß die geöffnete Handfläche nach oben zeigte. Er sah die roten Eindrücke, die der Schlüsselring zurückgelassen hatte, als er ihre Hand um den Ring herum zusammengepreßt hatte. Burke konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine Hand auszustrecken und die grausamen Spuren mit der Fingerspitze zu berühren. Reflexartig schlossen sich ihre Finger. Er riß schuldbewußt seine Hand zurück.

Der dritte Schluck brannte schon viel weniger schlimm.

Sein Blick glitt wieder zu ihrem Gesicht hinauf. Ihre Lider blieben geschlossen. Ihre Lippen waren entspannt und leicht geöffnet. Aus einem Mundwinkel war etwas Speichel gelaufen, der durch Blut aus der Platzwunde an ihrer Lippe rosa verfärbt war. Er berührte ihn wie zuvor mit der Spitze seines kleinen Fingers und ließ die Feuchtigkeit dort trocknen.

Er nahm einen weiteren Schluck aus der Whiskeyflasche.

Nun, er hatte es getan. Er hatte ein Verbrechen verübt, das vom Bund verfolgt wurde. Sein Leben hatte sich unwiderruflich verändert. Selbst wenn er Mrs. Duvall morgen zurückbrachte, konnte Burke Basile nicht einfach so weiterleben wie früher. Für ihn gab es kein Zurück mehr. Er hatte alle Brücken hinter sich verbrannt.

Eigentlich hätte er wohl mehr Schuldbewußtsein, Scham und Angst empfinden müssen, als er tatsächlich empfand.

Vielleicht machte der Whiskey einfach zu dumm, um die Konsequenzen zu fürchten, die ihn erwarteten. Aber als er einschlief, während er auf Remy Duvalls leise Atemzüge horchte, fühlte er sich verdammt gut.