22. Kapitel

»Was soll das heißen – er ist weg?«

Nach nur wenigen Stunden Schlaf auf dem unbequemen Holzstuhl hatte Burke einen steifen Hals, sein Rücken fühlte sich an, als sei eine Armee darübermarschiert, von dem Whiskey waren dumpfe Kopfschmerzen zurückgeblieben, und der neue Tag warf das kalte Licht der Realität auf die Tatsache, daß Burke die Linie zwischen Gesetzeshüter und Gesetzesbrecher überschritten hatte.

»Schrei mich nicht an!« knurrte Dredd. Er gebrauchte eine langzinkige Gabel, um ein Stück Fleisch umzudrehen, das er in einer Pfanne briet. »Er ist dein Priester, nicht meiner.«

»Er ist kein Priester.«

»Ach, was du nicht sagst.«

Burke, der sich eine Schläfe massierte, runzelte bei diesem sarkastischen Tonfall die Stirn. »Er heißt Gregory James und ist ein arbeitsloser Schauspieler. Unter anderen.«

»Er kann sein, was er will«, sagte Dredd aufgebracht, »jedenfalls ist er ein verdammter Dieb. Er hat mir meine beste Piroge geklaut.«

Burke ließ die Hand sinken. »Soll das heißen, daß er in die Sümpfe abgehauen ist?« Die Idee, Gregory James stake einen Einbaum durch die lebensgefährlichen Sümpfe, war unvorstellbar. »Er ist doch nie näher an die Sümpfe herangekommen als heute nacht, als wir versucht haben, den Bus zu versenken. Dort draußen kann er unmöglich allein überleben!«

»Vermutlich nicht«, sagte Dredd und schüttelte dabei seinen langen grauen Pferdeschwanz.

Ohne auf die Jahreszeit zu achten, trug er zerschlissene, an den Knien abgeschnittene Jeans. Kein Hemd und keine Schuhe. Seine hornhautgepanzerten Füße erinnerten an Hufe, wenn sie über das aufgewölbte Linoleum schlurften. In der Stadt hätte er überall Aufsehen erregt, aber diese seltsame Aufmachung paßt in seine selbstgeschaffene Umgebung. Ein zerschlissener, ausgebleichter Union Jack diente als Vorhang. Der Küchenherd, dessen Abzug durch die Wand ins Freie ragte, stand am Ende der Ladentheke, an der Dredd Bier, Tabak und Lebendköder verkaufte, und nicht weit von seinem Arbeitsplatz als Tierpräparator entfernt. Das Ganze war der Alptraum eines Gesundheitsinspektors, aber Dredds eingeschränkter Kundenkreis achtete vermutlich nicht auf solche Kleinigkeiten.

Gregorys Überlebenschancen betrachtete er philosophisch. »Ich hoffe bloß, daß mein Boot hierher zurücktreibt, wenn er in der Nahrungskette als nächster drankommt. Willst du was zum Frühstück?«

»Was gibt’s denn?«

»Bist du hungrig oder wählerisch?«

»Hungrig«, antwortete Burke widerstrebend.

Dredd verteilte das gebratene Fleisch auf zwei Teller und übergoß es mit einer Sauce, die er aus dem Fleischsaft, einer Handvoll Mehl und etwas Milch gemacht hatte. Dazu gab es Weißbrot und starken Kaffee, der à la New Orleans zum Teil aus Zichorie bestand.

»Als du dich gewaschen hast, habe ich nach Remy gesehen«, murmelte Dredd mit vollem Mund.

Burke hörte zu essen auf und sah ihn fragend an.

»Sie hat mir ihren Namen gesagt.«

»Sie ist wach?«

»Immer mal wieder.«

Burke nahm den letzten Rest Sauce mit etwas Brotrinde auf und stellte überrascht fest, daß sein Teller tatsächlich leer war. Das undefinierbare Fleisch war unglaublich schmackhaft gewesen, aber andererseits verstand Dredd sich auf Gewürze so gut wie auf die Wurzeln und Kräuter, aus denen er seine Naturheilmittel zubereitete. Er schob den leergegessenen Teller beiseite und griff nach dem Kaffeebecher. »Sie hat sich nachts kaum bewegt, glaube ich.«

»Die Wirkung des Beruhigungsmittels ist abgeklungen. Als ich ihre Wunden versorgt habe, habe ich sie gleich noch ein Glas trinken lassen. Davon müßte sie so ziemlich den ganzen Tag schlafen.«

»Wann ist sie transportfähig?«

Dredd, der jetzt ebenfalls aufgegessen hatte, machte sich auf die Suche nach Zigaretten. Er fand eine Packung, zündete sich eine Zigarette an, nahm einen Zug und behielt den Rauch längere Zeit in seiner Lunge. »Es geht mich ja nichts an, aber was zum Teufel machst du mit Pinkie Duvalls Frau?«

»Ich habe sie entführt.«

Dredd räusperte sich, zog noch mehrmals an seiner Zigarette und klaubte sich Brotkrümel aus dem Bart. Zumindest hoffte Burke, daß es Brotkrümel waren. »Aus irgendeinem bestimmten Grund?«

»Rache.«

Burke erzählte seine Geschichte – von der Nacht, in der Wayne Bardo ihn durch einen Trick dazu gebracht hatte, Kevin Stuart zu erschießen, bis zu ihrer haarsträubenden Flucht vor einer Horde wutschäumender Raufbolde. »Als ich gesehen habe, daß sie verletzt war, habe ich sofort an dich gedacht. Ich habe nicht gewußt, wo das nächste Krankenhaus ist, und wir waren nur ein paar Meilen von hier entfernt. Ich weiß, wie wertvoll dir ein beschauliches Leben hier ist. Tut mir echt leid, dich da reingezogen zu haben, Dredd.«

»Schon gut.«

»Die Sache ist bloß, ich weiß, daß ich dir vertrauen kann.«

»Du vertraust mir, ha? Vertraust du mir genug, um dir von mir die Wahrheit sagen zu lassen?«

Burke wußte genau, was kommen würde, aber er nickte Dredd zu, er solle seine Meinung sagen.

»Du mußt völlig übergeschnappt sein, Basile. Die Polizei könnte dich einsperren, aber das ist nichts gegen das, was dir von Duvall droht. Weißt du überhaupt, mit wem du dich da angelegt hast?«

»Besser als du.«

»Dir ist es also egal, daß Pinkie Duvall dich wie ein Wildschwein ausweiden und deinen Kadaver für die Bussarde liegenlassen wird?«

Burke grinste schief. »Autsch!«

Dredd hatte seine Frage keineswegs witzig gemeint. Während er sich die nächste filterlose Zigarette anzündete, schüttelte er irritiert den Kopf. »Bevor die Sache vorbei ist, liegt irgendwer tot da.«

»Darüber bin ich mir im klaren«, antwortete Burke. Er lächelte nicht mehr. »Mir wär’s lieber, wenn’s nicht mich träfe, aber wenn doch …« Er zog vielsagend eine Schulter hoch.

»Du hast ohnehin nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Versuchst du, mir das zu erzählen? Du hast deinen eigenen Partner erschossen, mit deiner Karriere ist Schluß, deine Ehe ist gescheitert – wofür also weiterleben? Trifft es das in etwa?«

»So ähnlich.«

»Bock … mist.« Dredd teilte das Schimpfwort in zwei deutlich getrennte Silben auf, während er einen Tabakkrümel ausspuckte. »Jeder hat etwas, wofür es sich zu leben lohnt – und wenn’s nur der nächste Sonnenaufgang ist.« Er beugte sich über den Tisch und benützte seine Zigarette als Ersatz für einen mahnend erhobenen mütterlichen Zeigefinger. »Du hast Stuart versehentlich erschossen. Du hast bei der Polizei gekündigt, nicht sie dir. Du hast eine miserable Ehe geführt. Es war höchste Zeit, daß du diese Frau losgeworden bist. Ich hab’ sie ohnehin nie gemocht.«

»Ich habe dir nicht Details aus meinem Privatleben anvertraut, damit du sie mir jetzt an den Kopf wirfst.«

»Pech gehabt! Okay, ich sollte es vielleicht nicht tun. Aber das Recht dazu habe ich mir verdient, als du gestern abend hier reingeplatzt bist und mir eine blutende Frau aufgehalst hast. Außerdem«, fügte Dredd knurrig hinzu, »mag ich dich irgendwie und möchte nicht zusehen müssen, wie du dich umbringen läßt.«

Sein strenger Gesichtsausdruck wurde weicher, obwohl Mitgefühl nicht zu seiner Aufmachung paßte. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede, Basile. Man kann echt in die Scheiße geraten, aber Leben ist Leben, und tot ist tot. Für immer. Es ist noch nicht zu spät, den Köder abzuschneiden und einen Rückzieher zu machen.«

Dredd gehörte zu den wenigen Männern, die Burke wirklich achtete, und er wußte, daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. »Ein vernünftiger Rat, Dredd. Und ich weiß, daß du’s gut mit mir meinst. Aber was auch passiert, ich muß Wayne Bardo und Pinkie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen bestrafen oder bei dem Versuch umkommen.«

»Das verstehe ich nicht. Warum?«

»Ich habe dir gesagt, warum. Aus Rache.«

Dredd starrte ihn durchdringend an. »Nein, das nehm’ ich dir nicht ab.«

»Sorry.« Burke griff nach seinem Kaffeebecher und nahm einen Schluck, um anzudeuten, das Thema sei beendet.

Dredd erkannte offenbar, daß weitere Erörterungen zwecklos waren. Er klemmte sich seine Zigarette in den Mundwinkel, stand auf, räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr in den Ausguß. »Was hast du mit ihr vor?«

»Nichts, Ich schwör’s dir. Sie ist durch meine Schuld verletzt worden, und das tut mir verdammt leid. Ich hatte nie vor, sie auch nur anzurühren. Das täte ich nie. Du weißt, daß ich das niemals täte.«

Dredd drehte seinen haarigen Kopf zur Seite und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

»Was?«

»Du gelobst ja verdammt viel auf meine Frage hin.«

Burke sah weg, als könne er Dredds forschenden Blick nicht ertragen. »Mir geht’s nicht um sie, mir geht’s um ihn.«

»Okay, okay, ich glaube dir«, sagte Dredd. »Ich hab’ nur gemeint: Wo willst du sie unterbringen, bis Duvall angebissen hat? Das ist bloß eine Vermutung. Du benützt sie als Lockvogel, stimmt’s?«

»Mehr oder weniger. Ich bringe sie in meine Fischerhütte.«

Burke benützte seine Hütte nur ein-, zweimal pro Jahr, wenn er das Glück hatte, ein paar Tage Urlaub machen zu können. Vor jedem dieser Besuche kam er bei Dredd vorbei, um Lebensmittel, Bier und Köder einzukaufen.

Dredds kleiner Laden lag ziemlich einsam, aber für Angler und Jäger, die sich in dem Labyrinth aus Bayous – Louisianas sumpfigen Flußarmen – auskannten, war er ein wohlbekanntes Wahrzeichen. Für Autofahrer war er nur über eine Schotterstraße zu erreichen. Die meisten seiner Kunden benützten das Hauptverkehrsmittel dieses Gebiets: Boote.

Dredd machte nicht viel Geld, andererseits brauchte er auch nicht viel. Den größten Teil seines Einkommens verdiente er in der Jagdsaison. Er jagte Alligatoren und verkaufte dann ihre Häute. Nebenbei verdiente er sich etwas Geld als Tierpräparator.

»Wer weiß sonst noch von deiner Hütte?« fragte Dredd.

»Nur Barbara, aber sie weiß nicht, wo sie liegt. Sie ist nie mit mir draußen gewesen, weil ihr allein schon der Gedanke daran zuwider war.«

»Sonst noch jemand?«

»Mein Bruder Joe ist ein paarmal übers Wochenende mit mir zum Angeln rausgefahren. Unser letzter Angelausflug liegt allerdings schon Jahre zurück.«

»Du hast Vertrauen zu ihm?«

Burke lachte. »Zu meinem Bruder? Natürlich habe ich Vertrauen zu ihm.«

»Wie du meinst. Was ist mit dem jungen Kerl, diesem Gregory?«

»Er ist harmlos.«

»Und du bist ein verdammter Narr«, sagte Dredd grob. »Nehmen wir mal an, er hätte Glück und käme aus den Sümpfen heraus, bevor ihn ein Alligator erwischt. Nehmen wir mal an, er würde sich überlegen, was Pinkie Duvall täte, wenn er ihn in die Finger bekäme. Nehmen wir mal an, er würde beschließen, sich an Duvall zu wenden und dich zu verraten, um seine eigene Haut zu retten.«

»Das macht mir keine Sorgen.«

»Warum nicht?«

»Weil Gregory ein Feigling ist.«

»Er war tapfer genug, um meine Piroge zu stehlen und in die Sümpfe abzuhauen.«

»Das hat er nur getan, weil er mich mehr fürchtet als die Elemente. Gregory hat Angst, ich könnte ihn wegen seines Verhaltens im Crossroads immer noch umbringen. Das habe ich ihm oft genug angedroht; vielleicht glaubt er, ich hätte es ernst gemeint. Jedenfalls wird er überleben. Dieser Junge ist gegen alle Gefahren gefeit. Wenn ihn die Sümpfe dann wieder ausspucken, rennt er so schnell und so weit, wie er nur kann. Aber zu Duvall geht er nicht.«

»Wie willst du dich mit ihm in Verbindung setzen?«

»Mit wem, mit Duvall? Nein, die Sache funktioniert andersrum, Dredd. Er soll sich mit mir in Verbindung setzen.«

»Wie soll er das denn hinkriegen?«

»Sein Problem. Jedenfalls bringe ich dich durch meine Anwesenheit in Gefahr. Deshalb zurück zu meiner ursprünglichen Frage: Wann ist sie transportfähig?«

 

Douglas Patout nahm langsam seine Füße vom Schreibtisch und stellte sie auf den Fußboden. Neben seinem Ellbogen begann sein Kaffee abzukühlen. Er las den Zeitungsbericht dreimal durch.

Die Meldung war unscheinbar; ihr Text nahm nicht mehr als fünfzehn Zentimeter einer Spalte auf Seite zwanzig der Times Picayune ein. Sie berichtete kurz über eine Schlägerei im Café einer Tankstelle im Jefferson Parish. Daran beteiligt gewesen waren zwei katholische Priester, die Ehefrau eines bekannten Anwalts aus New Orleans und ihr Leibwächter. Nach Auskunft eines Sprechers des Sheriffs war der Zwischenfall ohne irgendwelche Festnahmen beigelegt worden.

Zwei Aspekte dieses scheinbar belanglosen Berichts erregten Patouts Aufmerksankeit. Erstens: Wie viele Ehefrauen bekannter Anwälte aus New Orleans hatten Leibwächter? Zweitens: Augenzeugen war aufgefallen, daß einer der nicht namentlich genannten Priester die seltsame Angewohnheit hatte, die Finger seiner rechten Hand reflexartig zu strecken.

Patout drückte eine Taste seiner Gegensprechanlage. »Könnten Sie einen Augenblick zu mir reinkommen?«

Keine sechzig Sekunden später kam McCuen mit der für ihn typischen Lässigkeit hereingeschlendert. »Was gibt’s?«

»Hier, lesen Sie das.«

Patout schob die Zeitung über den Schreibtisch und deutete auf den Bericht, den er meinte. Mac überflog ihn und hob den Kopf. »Und?«

»Kennen Sie jemand, der die seltsame Angewohnheit hat, die Finger seiner rechten Hand reflexartig zu strecken?«

Mac ließ sich in den Besuchersessel vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten sinken. Er las den Zeitungsbericht nochmals. »Ja, aber der ist ja wohl kein Geistlicher.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Ich habe Ihnen davon erzählt, erinnern Sie sich? Vor ein paar Tagen war er zum Abendessen bei mir.«

»Wie hat er gewirkt?«

»Wie unser guter alter Basile.«

»Wie unser guter alter Basile, der seinen guten alten Groll gegen Pinkie Duvall hegt?«

Mac warf einen Blick auf die Zeitung. »Ach, Scheiße.«

»Ja.« Patout rieb sich den Kopf, als sei er wegen der größer werdenden kahlen Stellen dort oben besorgt. »Hat Burke irgendwelche Andeutungen darüber gemacht, was er in letzter Zeit getan hat?«

»Er hat nicht viel geredet. Aber sonderlich redselig war er ja noch nie. Er läßt sich nicht gern in die Karten sehen. Er hat nur gesagt, er wolle für einige Zeit verreisen, um in Ruhe über seine Zukunft nachzudenken.«

»Allein?«

»Das hat er gesagt.«

»Wohin?«

»Wollte er sich noch überlegen.«

»Wissen Sie, wo er zu erreichen ist?«

»Nein.« Mac lachte nervös. »Hören Sie, Patout, das ist doch verrückt. Der Kerl mit der seltsamen Angewohnheit war ein katholischer Geistlicher. Und die Frau wird nicht ausdrücklich als Mrs. Duvall identifiziert. Sie kann’s nicht gewesen sein. Auch mit Leibwächtern würde Duvall sie nicht näher als fünfzig Meter an Burke Basile herankommen lassen.«

»Stimmt. Die beiden sind Erzfeinde.«

»Auch wenn sie es nicht wären. Soviel ich weiß, ist sie zum Anbeißen und viel jünger als Duvall.«

Patout zog die Augenbrauen hoch und nickte Mac zu, er solle weitersprechen.

»Nun, Burke ist der starke, schweigsame Typ, auf den viele Frauen fliegen. Er ist kein Schönling wie Brad Pitt, aber Toni findet ihn sehr attraktiv. Ich habe immer geglaubt, sein Sex-Appeal beruhe auf seinem Schnurrbart, aber offensichtlich hat er noch andere Qualitäten. Er hat irgendwas an sich, was nur Frauen …«

»Er hat sich den Schnurrbart abrasiert?« Patouts Magennerven verkrampften sich.

»Habe ich das nicht erwähnt?«

Patout stand auf und griff nach seiner Anzugjacke am Garderobenständer.

Mac beobachtete ihn verwirrt. »He, was ist los? Wohin wollen Sie?«

»In den Jefferson Parish«, sagte Patout über die Schulter hinweg, während er hinaushastete.

 

Trübes Rinnsteinwasser beschmutzte die Reifen von Bardos Wagen, als er am Randstein hielt. »Hier ist es.«

Pinkie betrachtete das Gebäude angewidert. In einer ähnlich heruntergekommenen Wohngegend, in einer ähnlich heruntergekommenen Absteige hatte er damals Remy mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester entdeckt. »Verwahrlost« war ein noch zu freundlicher Ausdruck dafür.

Er hatte sich die ganze Nacht lang mit Bardo und anderen beraten und versucht, Remys Entführer, die sich als Priester ausgegeben hatten, zu identifizieren. In seinem Untergrundnetzwerk liefen wegen der Entführung die Drähte heiß. Er hatte eine hohe Belohnung für jeden ausgesetzt, der sich mit brauchbaren Informationen meldete.

Bei einer der zahlreichen Wiederholungen seines Berichts über den Ablauf der Entführung fiel Errol etwas ein, was er bisher nicht erwähnt hatte: »Der Kerl, der sich Pater Kevin genannt hat, hätte den anderen am liebsten selbst vermöbelt. Ich hab’ gehört, wie er von Gefängnis gesprochen hat.«

»Gefängnis?«

»Ja. Ich weiß nicht mehr genau, was er gesagt hat, weil ich damit beschäftigt war, meine Pflicht zu tun und Mrs. Duvall rauszubringen. Aber irgendwas hat mich auf die Idee gebracht, Pater Gregory könnte schon mal wegen solchen Sachen gesessen haben.«

Der Leibwächter war so verzweifelt bemüht, sich wieder bei ihm einzuschmeicheln, daß Pinkie sich fragte, wie zuverlässig seine Aussage war. Es war denkbar, daß ein ehemaliger Häftling versuchte, sich für eine längst vergessenen Kränkung zu rächen; ebenso denkbar war jedoch, daß Errol diese Geschichte nur erfunden hatte, um seinen Arsch aus der Schußlinie zu kriegen. Aber da Pinkie jedem Hinweis nachgehen mußte, ließ er einen seiner Informanten bei der Polizei eine Liste von Sexualtätern zusammenstellen, die wiederholt eingebuchtet worden waren.

Eine Mitarbeiterin einer Telefongesellschaft, die ein Anwaltshonorar abzuarbeiten hatte, sollte den Standort des Telefons feststellen, dessen Nummer auf der Visitenkarte mit dem Logo von Jenny’s House – das nicht existierte, wie Pinkie inzwischen wußte – angegeben war. Seine Sekretärin hatte sich in seinem Auftrag über den Laden informiert, war jedoch offenbar von sehr cleveren Leuten getäuscht worden.

Als sie nun vor weniger als einer halben Stunde erfahren hatten, daß die Nummer auf der Visitenkarte zu einem Münztelefon in diesem Gebäude gehörte, hatte Bardo hastig ein Team aus vier Männern zusammengestellt, das ihnen in einem zweiten Wagen folgte.

Pinkie hatte darauf bestanden, Bardo zu begleiten. Er wollte diesen dreisten Priestern ins Auge sehen, wenn sie starben. Jetzt sprang er, von Adrenalin und Empörung befeuert, aus dem Wagen auf den mit Abfällen übersäten Gehsteig. Bardo postierte zwei der Männer am Hauseingang und schickte die beiden anderen auf die Rückseite des Gebäudes, falls die Entführer versuchten, Remy durch einen Hinterausgang fortzuschaffen.

Pinkie und Bardo stiegen über einen im Hauseingang schlafenden Obdachlosen hinweg und betraten das Gebäude. Pinkie hatte das eigenartige Gefühl, von außen gesteuert zu werden und genau das zu tun, was der Entführer wollte. Der Standort des Telefons war allzu leicht zu ermitteln gewesen. Wer eine so raffinierte Entführung geplant hatte, hätte dieses grundsätzliche Detail nicht übersehen dürfen. Deshalb fragte Pinkie sich, ob dahinter Absicht steckte.

Andererseits wußte er aus Erfahrung, daß selbst die cleversten Ganoven durch die dümmsten Fehler aufflogen.

Links neben dem Eingang befand sich der ehemalige Empfang, der aber unbesetzt war. Bardo durchquerte die heruntergekommene Eingangshalle, trat vor das Münztelefon an der Wand und kontrollierte die Nummer. Als er den Kopf schüttelte, deutete Pinkie nach oben.

Sie stiegen leise die Treppe hinauf. Als sie den Treppenabsatz im ersten Stock erreichten, sahen sie etwa in der Mitte des schmalen, graffitiverzierten Flures ein weiteres Münztelefon. Die Beleuchtung war so trüb, daß Bardo sein Feuerzeug an das verkratzte Sichtfensterchen auf der Vorderseite des Apparats halten mußte, um die Nummer ablesen zu können. Ein hochgereckter Daumen signalisierte Pinkie, daß er fündig geworden war.

Pinkies Blutdruck stieg gewaltig an. Er deutete mit seinem Kinn auf die Tür am Ende des Flurs. Als Bardo auf seine halblaute Aufforderung, die Tür zu öffnen, keine Antwort bekam, trat er die Tür ein. In dem Raum dahinter lag ein sinnlos betrunkener Mann quer über dem Bett. Von Remy keine Spur. Der Zustand des Betrunkenen und die leeren Bourbonflaschen, von denen er umgeben war, bewiesen ihnen, daß dies nicht ihr Mann war. Außerdem war er dicklich, schweinchenrosa und Mitte Sechzig, was nicht zur Personenbeschreibung der beiden angeblichen Geistlichen paßte.

Das zweite Zimmer war leer und anscheinend schon längere Zeit unbewohnt. Im dritten Zimmer schrak eine Frau entsetzt vor ihnen zurück und begann laut und rasend schnell auf spanisch zu lamentieren. Bardo schlug ihr mit dem Handrücken auf den Mund. »Halt’s Maul, Schlampe«, zischte er drohend. Sie hielt den Mund und drückte ihre beiden hungrig aussehenden Kleinkinder an sich, um sie am Weinen zu hindern.

Auch das vierte und letzte Zimmer war leer. Aber auf dem Bett stand, ans Kopfkissen gelehnt, ein weißer Briefumschlag, der in Druckschrift Pinkie Duvalls Namen trug.

Er griff danach und riß ihn auf. Ein einzelnes Blatt fiel aus dem Umschlag auf den schmuddeligen Teppich. Er hob es auf und las die getippte Mitteilung.

Dann stieß er einen Wutschrei aus, der die Fensterscheiben erzittern ließ.

Bardo nahm ihm den Zettel aus der Hand. Er fluchte, während er die Mitteilung las. »Das würden die nicht wagen!«

Pinkie lief aus dem Zimmer und stürmte, mit Bardo auf den Fersen, die Treppe hinunter. Bardos Männer wurden angewiesen, ihnen zu folgen. Sie sprangen in den zweiten Wagen und hatten Mühe, zu Bardo aufzuschließen, als er davonraste.

Pinkie kochte vor Wut. Sein Blick glitzerte mordlüstern. »Ich bring’ sie um! Die beiden sind so gut wie tot. Tot!«

»Aber wer sind sie?« fragte Bardo, während er das Lenkrad herumriß, um einem Lieferwagen auszuweichen. »Wer hätte Remy das angetan?«

Remy. Seine Remy. Sein Eigentum. Ihm gewaltsam entrissen. Wer diese Dreckskerle auch waren, sie hatten Mut, das mußte er ihnen lassen. Nur schade, daß solcher Mut an Kerle vergeudet war, die schon bald sterben würden. Und sie würden sterben. Langsam. Qualvoll. Erst um Gnade, später um den Tod flehend. Sie würden sterben, weil sie ihm geraubt hatten, was ihm gehörte, was er erschaffen hatte.

Vor dem Friedhof Lafayette hielten die beiden schweren Wagen mit quietschenden Reifen. Sechs Männer sprangen heraus. Duvall und Bardo führten die Gruppe an, die durch das hohe, schmiedeeiserne Portal stürmte. Pinkie wartete nicht auf Bardo oder die anderen Männer. Er machte sich auf die Suche nach der in der Mitteilung angegebenen Grabreihe und hastete quer über die breiten Friedhofswege, bis er die gesuchte Reihe gefunden hatte. Er trabte weiter, hörte die zerstoßenen Muschelschalen, mit denen der Weg bestreut war, unter seinen Schuhen knirschen und sah den Hauch seines Atems vor sich.

Was er schließlich vorfinden würde, konnte er nicht einmal vermuten. Remys sterbliche Überreste in einem dort abgelegten Leichensack? Ein kürzlich geöffnetes Grab, dessen Stein mit ihrem Blut besprengt war? Einen Schuhkarton mit ihrer Asche? Ein Voodoo-Opfer?

Er nahm sich vor, seinen unbekannten Gegner nie wieder zu unterschätzen. Der Mann war clever und listig; er kannte Pinkie Duvall gut genug, um zu wissen, wie ihm am besten beizukommen war. Er hatte Pinkie auf diese makabre Schnitzeljagd geschickt, die damit enden würde, daß er … daß er was fand?

Seine Schuhe rutschten über den Kies, als er jetzt ruckartig haltmachte, weil er das Grab erkannte, sobald er es vor sich sah.

Er fand weder Blut noch eine Tote, aber die Botschaft war ebenso deutlich. Er stand mit pochenden Schläfen und geballten Fäusten da und las den Namen auf dem Grabstein.

Dies war die letzte Ruhestätte von Kevin Michael Stuart.