Kapitel 2

Schweiß sammelte sich auf Amiras Stirn. Der Waldboden unter ihren Füßen gab sanft nach, während sie versuchte, das Stirnband zu richten. Immer wieder verrutschte es, und sie ärgerte sich, dass sie sich kein kleineres gekauft hatte. Vor wenigen Monaten hatte Amira das Laufen für sich entdeckt. Erst war es nur ein Versuch, jetzt war es eine Sucht. Eine Freundin hatte sie eines Tages gefragt, ob sie sie beim Joggen begleiten möchte. Amira hatte widerstrebend zugesagt. Doch wenn sie etwas in Angriff nahm, dann auch gleich richtig. Sie hatte sich für viel Geld neue Schuhe, eine Laufhose, eine Sportjacke und atmungsaktive Socken gekauft. Auf keinen Fall wollte sie vor ihrer Freundin wie eine Anfängerin wirken, obwohl sie genau das war. Zu Anfang hatte sie sich verflucht, zugesagt zu haben. Bei den ersten Waldläufen schaffte sie nicht einmal zwei Kilometer, ohne eine Pause einzulegen. Die Füße zwickten, sie bekam eine Blase am kleinen Zeh und ihre Knie taten in der Nacht weh. Amira war eine vitale junge Frau, keine Frage. Mit Mitte zwanzig war sie topfit. Außerdem konnte sie essen wie eine Löwin und nahm trotzdem kein Gramm zu. Ihre beste Freundin Dela warf ihr immer wieder vor, dass sie verschlingen konnte, was sie wollte, während sie selbst nur das Wort Eiscreme lesen musste, um zuzunehmen. Trotz ihrer körperlichen Veranlagung war Amira nie eine begnadete Sportlerin gewesen. Joggen jedoch verlieh ihr nach einiger Zeit ein ganz neues Wohlbefinden. Waren die ersten Wochen durch Muskelkater und den Wunsch nach Aufgeben gezeichnet, schlugen diese Gefühle plötzlich ins Gegenteil um. Auf einmal zeigte ihr Training Erfolg. Aus zwei Kilometern wurden drei, später fünf und bald schon zehn.

Ihre Armbanduhr zeigte 17:28 Uhr.

»Yes!«, japste sie und rang nach Luft.

Die kommende Kurve wollte sie um 17:30 erreichen, und jetzt war sie zwei Minuten eher da. Eine erneute Steigerung, und Amira wusste, dass sie es in der nächsten Woche bereits um 17:27 Uhr schaffen wollen würde.

 

Da ist sie , dachte er. Sie war noch schöner als beim letzten Mal. Erik lag mit Tarnkleidung unter einer mächtigen Linde, während er durch seinen Feldstecher sah. Ein Dutzend Mal hatte er hier bereits ausgeharrt und auf sie gewartet. Die Müdigkeit, die er nach dem langen Arbeitstag in der Firma verspürt hatte, war verschwunden. Seine Gier wuchs mit jedem Schritt, mit dem sie sich ihm näherte. Er konnte die Adern an ihrem Hals erkennen, den wippenden, straffen Pferdeschwanz ihrer zusammengebundenen Haare und die makellose Haut. Seine Erregung ließ seinen Körper beben und seinen Puls in die Höhe schnellen. Erik wusste jetzt nur noch eines: Er musste sie besitzen!

 

Amira genoss die Sonne in ihrem Gesicht. Die Strahlen stachen durch die saftig grünen Baumkronen, und die Insekten und Pollen veranstalteten ein glitzerndes Lichterspiel in der Luft. Es war ein herrlicher Tag und sie hatte das Gefühl, sie würde noch fünfzig Kilometer laufen können.

Doch das Gefühl verschwand schlagartig.

Plötzlich schlug ihr Herz schneller, und in ihrem Steißbein machte sich ein Kribbeln breit, das ihren ganzen Rücken hinauflief. Sie konnte gar nicht genau sagen, was es war, was ihr solch eine Angst einjagte. Irgendetwas in ihrem Innern hatte das Kommando übernommen, und all ihre Sinne waren geschärft. Amira nahm das Stirnband ab, um besser hören zu können. Kein Vogelgezwitscher, keine anderen Geräusche. Nur das Rauschen von Blut in ihren Ohren und dem Wind zwischen den Blättern.

Sie pustete ganz leise die Luft aus und atmete wieder tief ein.

»Du bist bescheuert«, sagte sie und versuchte zu lächeln. Sie hatte einfach zu viel ferngesehen, und die Krimis in ihrem Bücherregal ließen sie vermutlich überreagieren. Mit einem trotzigen Pusten lief sie weiter und ärgerte sich nun, dass sie ihre Laufzeit durch ihr Anhalten verzerrt hatte. Sie spurtete an einer kräftigen Eiche vorbei und blickte nach links.

Und auf einmal ging alles furchtbar schnell …