Der Regen hatte nachgelassen, und die Dämmerung setzte bereits ein. Albert stellte sein Fahrrad vor dem Gebäude, in dem sich seine Wohnung befand, ab. Er erkannte von hier unten, dass er das Licht in seinem Wohnzimmer hatte leuchten lassen, und das Fenster war gekippt. Vermutlich tummelten sich wieder ein Dutzend Mücken in seiner Bleibe, die ihn heute Nacht nicht in den Schlaf kommen lassen würden. Sein Magen knurrte, und er fühlte sich müde. Lust zu kochen hatte er keine, also machte er vor der Eingangstür kehrt und lief die Straße hinunter. Neben ihm leuchtete das Schild der Agentur für Arbeit auf, dessen rotes Neonlicht sich in den Pfützen auf dem Gehsteig spiegelte. Er umrundete einen Kreisverkehr und öffnete die Tür seines chinesischen Lieblingsrestaurants. Gebratener Reis mit Hühnchen und ein großes Bier waren jetzt genau das Richtige. Das Lokal wirkte schummrig, und nur wenige Tische waren besetzt. Der Raum wurde in der Mitte durch Aquarien getrennt, in denen sich bunte Fische tummelten. Alles wirkte schwungvoll, golden und rot. Aus den Lautsprechern in der Decke ertönte leise asiatische Musik, und die Wände waren mit rotem Vlies behangen und kunstvoll bemalt.
Albert mied die ersten Tische an der Fensterfront, weil es ihm nicht behagte, wenn vorbeigehende Fußgänger durch das Fenster auf seinen Teller sahen und ihn anschließend selbst musterten. Er wollte seine Ruhe haben – auch vor fremden Blicken. Er hatte in der hinteren linken Ecke bereits einen Stammplatz, den er immer auswählte. Die Küche im Rücken über der linken Schulter, den Haupteingang vor sich fest im Blick. Deswegen fiel ihm auch direkt ein bekanntes Gesicht auf, als er sich gerade hingesetzt hatte und sich die Tür öffnete. Feine Gesichtszüge, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, vielleicht neunundzwanzig. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie vierunddreißig wäre, aber auch nicht, wenn Sie noch keinen Führerschein besäße. Ihr Alter war schlichtweg nicht zu erkennen. Sie hatte kurzes schwarzes Haar, das gerade so über ihre Ohren reichte. Sie war gertenschlank, sportlich, wesentlich kleiner als Albert und hatte einen ansprechenden Blick. Ihre braunen Augen glitzerten förmlich, sodass sie übergroß wirkten. Vielleicht waren sie auch tatsächlich übergroß und glitzerten deshalb so auffällig.
Die fremde Frau kam schnurstracks auf ihn zu und setzte sich an seinen Tisch, ihm direkt gegenüber. Sie schmunzelte knapp, und Albert bemerkte, dass ihr vorderer linker Schneidezahn an einer Ecke ganz minimal abgebrochen war. Sicherlich hatte sie diesen Schönheitsfehler absichtlich nicht korrigieren lassen, weil er sie tatsächlich noch etwas interessanter machte.
»Kenn ich Sie?«, wollte Albert wissen und sah demonstrativ in seine Speisekarte.
»Sicher nicht. Emine Laub.«
»Hören Sie, Frau Laub. Ich habe kein Interesse an einem Interview. Egal was Michael Schreiber Ihnen schuldet. Ich schulde ihm nichts und Ihnen auch nicht. Ich habe Feierabend, und es würde mich freuen …«
»Seien Sie bitte mal still«, unterbrach sie ihn, was er nicht fassen konnte.
»Wie bitte?«
»Sie sollen einfach mal still sein. Herr Schreiber hat mich bereits vorgewarnt. Sie wären ein netter Mensch, aber nur zu Personen, die Sie kennen oder die Sie für etwas benötigen. Sie kennen mich nicht, also werde ich das ändern. Ich heiße Emine Laub, und ich bin Kriminaloberkommissarin aus Osnabrück.«
Sie ist seit mindestens vier oder fünf Jahren bei der Polizei , dachte Albert. Ansonsten würde sie noch keine Oberkommissarin sein. Und auch dann wäre sie verdammt schnell aufgestiegen. Wahrscheinlich war, dass sie seit mindestens sechs Jahren den Dienst bei der Polizei ausübte.
»Aus Osnabrück? Was wollen Sie hier in Lingen?«
»Ich wurde versetzt.«
»Versetzt? Soso. Freiwillig?«
»Ja, freiwillig. Ich habe früher im Ortsteil Darme gewohnt, nachdem mich mein Polizeistudium nach Oldenburg geführt hatte. Ich habe ausdrücklich um die Versetzung gebeten, und das nun seit fast zwei Jahren. Jetzt bin ich hier.«
Albert bestellte bei dem Kellner, der soeben lautlos aufgetaucht war, gebratenen Reis mit Huhn und ein großes Bier. Bevor er es verhindern konnte, bestellte sich auch Emine Laub eine Cola.
»Frau Laub …«
»Emine«, warf sie ein.
»Frau Laub, es freut mich ja, dass Sie sich versetzen lassen konnten, doch was wollen Sie jetzt genau von mir?«
»Mit Ihnen arbeiten. Ich wurde Ihnen als Partnerin zugeteilt.«
Albert sah sie sekundenlang an. Er glaubte, Emine Laub würde jeden Moment grinsen und beichten, dass sie ihn nur auf den Arm genommen habe. Aber sie schwieg und blickte ihm, ohne zu blinzeln, in die Augen. Sie erinnerte ihn an seine Tochter. Diese Sturheit, auch ein mächtiges Portfolio an Intelligenz, die ihr aus den Poren schien.
»Was soll das? Ich habe keine Partnerin und brauche auch keine.«
»Michael Schreiber hat es bereits abgesegnet. Morgen habe ich einen Schreibtisch in Ihrem Büro. Es ist sowieso viel zu groß …«
»Hören Sie mal. Es ist ja ganz nett, dass Sie sich die Mühe machen, mich nach Feierabend in meinem privaten Bereich aufzusuchen, ich habe allerdings kein Interesse daran, eine junge Frau einzuarbeiten. Nicht falsch verstehen. Auch einen Kerl möchte ich nicht einarbeiten.«
»Herr Schreiber hatte mir bereits mitgeteilt, dass Sie so reagieren würden«, entgegnete sie kühl. »Sie sollen ihn anrufen.«
»Jetzt?«, wollte Albert wissen.
»Nein, an Ostern gegen Mitternacht. Natürlich jetzt.«
Zögernd holte er sein Handy heraus, weil er immer noch hoffte, sie veralberte ihn. Mit dem Daumen entsperrte er sein Handy und wählte die Nummer. Es klingelte nicht, da umgehend die Mailbox von Michael ansprang. Er wollte bereits auflegen, als er hellhörig wurde.
»Dies ist die Mailbox von Michael Schreiber. Albert, leg nicht auf, wenn du es bist. Du wirst mich hundertprozentig anrufen, weil du mit Frau Laub nicht einverstanden bist. Bestimmt, weil du denkst, du würdest weder ihr noch mir etwas schulden. Dem ist nicht so. Sie ist deine neue Partnerin, und darüber kannst du froh sein. Sie wurde uns wärmstens empfohlen, und die Kollegen in Osnabrück haben um sie gekämpft. Zu unserem Glück vergebens. Jetzt stell dich nicht so an und sei erwachsen! Ach ja: Ich habe ihr gesagt, wo sie dich finden wird. Guten Appetit. Und lade sie als älterer Kollege gefälligst ein.«
Eine Frauenstimme sagte, er könne nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen, aber Albert legte auf.
»Möchten Sie etwas essen?«, fragte er sie und winkte den Kellner heran.
Emine Laub zögerte kurz und bestellte sich gebratene Nudeln mit knuspriger Ente. Ihre Getränke wurden ihnen bereits an den Tisch gebracht, und beide nahmen einen tiefen Schluck. Albert spürte, dass er sich durch den Alkohol etwas entspannte.
»Herr Zeiler, es tut mir leid, dass unsere Dienstzeit so anfängt. Ich bin die Letzte, die sich einen Partner wünscht, der keine Lust hat, mit mir zu arbeiten. Herr Schreiber hat es so verfügt. Er denkt, es würde Ihnen und mir helfen.«
Albert schwieg kurz und beobachtete den Schaum auf seinem Bier.
»Wollen wir von vorn anfangen?«, fragte sie.
»Ich habe Sie bereits zum Essen eingeladen. Das ist doch was.«
»Nein, sie haben nur gefragt: Möchten Sie etwas essen? Das ist keine Einladung.«
»Gut, damit sind Sie eingeladen.«
»Einverstanden.«
Sie aßen, ohne dabei zu sprechen, und bestellten sich ein neues Getränk. Albert ein Bier, Emine eine Apfelschorle.
»Trinken Sie immer unter der Woche?«, wollte sie wissen.
»Nur in geraden und ungeraden Kalenderwochen.«
»Das ist nicht sonderlich gesund.«
»Ihr Zuckerkonsum mit Cola und Apfelschorle aber schon? Autofahren ist es auch nicht. Man könnte einsteigen, und es ist die letzte Fahrt, die man in seinem Leben macht. Und dennoch tun auch Sie das jeden Tag, oder?«
»Man kann es sich auch schönreden.«
»Man muss gar nicht reden, das wäre doch auch okay.«
»Warum sind Sie so? Ich meine, so negativ? Mürrisch? Oder ist das heute einfach ein schlechter Tag?«
Albert legte sein Besteck quer über den Teller, tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Sie sind sehr neugierig, was? Ich meine, was mich betrifft. Ich lebe mein Leben, das ich ungern mit Fremden teile. Wenn Sie Fragen haben, nur zu. Doch dann will ich auch mehr über Sie erfahren.«
»Und das wäre?«
»Warum sind Sie wirklich hier? Osnabrück ist jetzt nicht sonderlich weit weg. Sie hätten sich nicht versetzen lassen müssen. Schon gar nicht vehement zwei Jahre lang den Versuch starten, sich versetzen zu lassen.«
Sie überlegte, ob sie wahrheitsgemäß antworten sollte. Albert sah ihr förmlich an, wie sie mit sich rang. Sie schloss die Augen für ein paar Sekunden und öffnete sie wieder.
»Familiensache. Ich fühlte mich verpflichtet, wieder herzukommen.«
»Sie haben Familie in Darme?«
»Hatte. Meine Mutter. Sie ist vor drei Monaten gestorben. Deswegen bin ich auch immer gependelt. Ich wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. Jetzt ist sie tot, und ich habe dennoch weiterhin versucht, hierherzukommen. Ich ziehe in ihre Wohnung.«
»Das tut mir leid mit Ihrer Mutter.«
»Muss es nicht. Sie kennen mich nicht und ich Sie nicht.«
Damit stand sie auf, schob den Stuhl zurück und blieb vor dem Tisch stehen.
»Seien Sie mürrisch und schlecht gelaunt. Von mir aus. Es ist Ihr Leben, und ich mische mich nicht ein. Respektieren Sie mich. Ich bin kein Schulmädchen und keine Anfängerin mehr. Ich heiße Emine und du Albert. Das wäre doch schon mal ein Anfang gewesen, wenn der Ältere von uns das Du anbietet. Danke für das Essen. Du hast übrigens was zwischen den Zähnen. Sieht nicht schön aus.«
Sie verließ das Restaurant und Albert blickte ihr hinterher. Es war das erste Mal seit Wochen, dass er lächelte.