Es roch verbrannt, und Albert wusste, was das bedeutete. Mit schweren Beinen, und mit einem großen Kloß im Hals, ging er über die asphaltierte Straße. Im Bankett standen seine Kollegen. Sie hatten bereits eine breite weiße Plane errichtet, damit schaulustige Autofahrer, die unregelmäßig vorbeifuhren, keinen Blick auf den Tatort werfen konnten.
Die Luft war kühl und der Himmel sternenklar. Hier draußen gab es kaum Lichtverschmutzung, sodass der Große Wagen kaum zu erkennen war, weil die leuchtschwachen Sterne dahinter plötzlich ebenfalls sichtbar waren und die Konturen des Sternbildes verwischten …
»Nein!« Albert fuhr hoch und war plötzlich hellwach. Sein T-Shirt war von Schweiß durchnässt und sein Herz raste. Er hatte wieder einen Albtraum gehabt. Wie jede Nacht, seit siebzehn Jahren.
Sein Wecker strahlte in grünen Ziffern.
2:14 Uhr.
Ihm kam es vor, als hätte er bereits zehn Stunden tief und fest geschlafen. Er fühlte sich hellwach und wusste, es würde ewig dauern, bis er wieder einschlafen würde. Deshalb warf er die Bettdecke zur Seite und richtete sich auf. Seine Haare waren ganz feucht und er fror. Eine Grippe konnte er aktuell nicht gebrauchen, also beschloss er, keine zu bekommen. Er wechselte die Bettwäsche, schmiss sein T-Shirt in den Wäschekorb, warf sich einen Bademantel über und ging anschließend in die Küche. Dort füllte er sich ein großes Glas Leitungswasser ein, widerstand der Versuchung, ein Glas Wein hinterherzukippen, und schaltete den Fernseher im Wohnzimmer an. Es lief auf keinem Sender etwas, was ihm gefiel. Mit der Fernbedienung öffnete er seine Mediathek und startete den Film Contact mit Jodie Foster. Er liebte diesen Streifen. Er verdeutlichte ihm, wie klein und unwichtig die Menschheit war. Nach zwanzig Minuten konnte er nicht widerstehen und schaltete seinen Computer ein. Den Film ließ er auf seinem Fernseher leise weiterlaufen. Albert klickte sich durch Nachrichtenseiten, die offensichtlich langsam das Interesse an dem Mord verloren, der sich live im Internet zugetragen hatte. Mittlerweile musste er schon weit scrollen, um einen entsprechenden Artikel zu finden.
Menschen sind widerlich , dachte er. Waren sie zuvor alle noch so bestürzt gewesen, war es jetzt schon wieder wichtiger, welcher Promi gerade seine Ehefrau betrogen hatte und ob der Bundestrainer sein Amt nicht längst hätte abgeben sollen.
Albert checkte irgendwann noch seine Mails, die zum größten Teil aus Werbung und Spam bestanden, bis er es nicht mehr aushalten konnte, nachzusehen, was seine Tochter gerade so trieb.
Sie wird schlafen, du Idiot. Hör auf mit dem Scheiß , sagte eine Stimme in seinem Kopf.
Er ignorierte sie.
Mit der Maus öffnete er das Programm, das er brauchte. Ein Fenster öffnete sich, und Albert sah im Nachtsichtmodus einen Flur. Er war quadratisch, rechts eine Kommode, links eine Garderobe und ein mannshoher Spiegel. Die Kamera war in einem Rauchmelder montiert, direkt über der Eingangstür der Wohnung, die er aus diesem Winkel allerdings nicht sehen konnte. Albert sah drei weitere Türen. Eine führte in die Küche, die andere in ein Badezimmer und die dritte in ein Wohnzimmer. Er klickte auf ein Symbol und die Kameraperspektive veränderte sich. Wieder Nachtsichtmodus, wieder eine kleine Spionagekamera in einem Rauchmelder, aber dieses Mal sah er das Wohnzimmer seiner Tochter. Links eine Tür, die in den quadratischen Flur führte, geradeaus eine Schiebetür, die eine Terrasse ausschloss, und rechts einen Durchgang, der in das Schlafzimmer seiner Tochter führte.
Albert hatte nicht wirklich Ahnung von Technik. Diesen Absprung hatte er verpasst – und auch nie Interesse daran gezeigt, Technologie, bis auf ein Handy und den alten Computer auf seinem Schreibtisch, in sein Leben zu lassen. Als seine Tochter Marie ihre Wohnung in Bremen bezogen und sich – in seinen Augen – aus seiner sicheren Obhut entfernt hatte, wusste er, er musste etwas unternehmen, um sie zu schützen. Sie weiterhin im Auge zu behalten. Nur wie? Es dauerte nicht lange, da hatte er den Entschluss gefasst, ihre Wohnung mit Überwachungsausrüstung bestücken zu lassen. Sein Arbeitskollege, Alex Covtic, war derjenige, der ihm dabei helfen musste. Alex stand in Alberts Schuld und hatte bei mehreren Gelegenheiten angeboten, auch ihm eines Tages zur Seite zu stehen, falls er mal Hilfe benötigen sollte. Dieser Tag war mit Maries Umzug gekommen. Albert hatte Alex erklärt, dass er in einer inoffiziellen Ermittlungssache Überwachungstechnik in einer Wohnung benötigte. Er hatte ihm allerdings nicht erzählt, dass es die Wohnung seiner Tochter war, die präpariert werden musste. Natürlich hatte Alex gemerkt und geahnt, dass Alberts dürftige Erklärung überhaupt nicht stimmig erschien – schließlich gehörte Bremen nicht zu Niedersachsen. Dass ein Kriminalbeamter aus Lingen dort Überwachungstechnik installieren ließ, ohne dabei den korrekten Dienstweg einzuhalten, war bei Alex schon auf Irritationen gestoßen. Zu seiner Überraschung hatte Albert auch noch das Schlafzimmer und das Badezimmer aussparen wollen, was ihn noch stutziger gemacht hatte. Andererseits stand er in seiner Schuld. Mehr musste er nicht wissen.
Albert selbst war klar, Marie würde ihn verstoßen, wenn sie von diesem Vergehen erfahren würde. Deshalb wollte er sich wenigstens selbst sagen können, dass er ihre intimsten Bereiche, das Schlafzimmer und das Badezimmer, nicht videoüberwachte.
Er erkannte eine Sofareihe, die als U angelegt war. Davor ein Fernseher, eine Schrankwand, auf der sich jede Menge Bücher sowie auch ein paar Weinflaschen befanden, laminierter Fußboden, ein Schreibtisch mit Laptop, der nun zugeklappt war, und ein kleiner Esstisch mit vier Stühlen. Auf dem Sofa lag Kleidung, die definitiv nicht ihr gehören konnte. Sie gehörten zu einem Mann.
Du bist widerlich , dachte er, ignorierte allerdings erneut seine Stimme im Kopf.
Ein dritter Klick und das Bild zeigte die kleine Küche. Ein Tisch, zwei Stühle, Herd, Kühlschrank und zwei Mülleimer, die überfüllt wirkten. Keine Gourmetküche, gleichwohl für eine Studentin, die hier lediglich Nudeln und Tee kochte, völlig ausreichend. Er vermisste seine Tochter, und wie aus dem Nichts bildeten sich Tränen in seinen Augen. Albert wischte sie mit einem Finger weg und schüttelte den Kopf.
»Reiß dich zusammen.«
Er wünschte sich, er hätte ein besseres Verhältnis zu seinem einzigen Kind. Sie telefonierten alle paar Wochen miteinander, und wenige Male im Jahr kam sie ihn auch besuchen. Aber eigentlich war er kein Teil ihres Lebens mehr. Das wusste er innerlich, auch wenn er sich einredete, dass sich das eines Tages ändern würde. Sie gab ihm die Schuld …
Albert stand von seinem Bürotisch auf und sah den Film weiter, nachdem er es sich gemütlich gemacht hatte.
Das Klingeln an seiner Haustür weckte ihn. Es musste jemand unten am Haupteingang stehen, weil das Geräusch ein anderes war, als wenn jemand direkt vor seiner Wohnungstür klingelte. Schlummertrunken richtete sich Albert von seinem Sofa auf und rieb sich die Augen. Vom Vorabend stand noch ein halb volles Glas Rotwein auf seinem Wohnzimmertisch, das er sich schnell schnappte, den restlichen Inhalt in der Spüle auskippte und das Glas in die Spülmaschine stellte. Er wollte nicht, dass jemand seine abendlichen Gewohnheiten zu sehen bekam.
Die Uhr in seiner Küche zeigte 6:22 Uhr.
»Was zum Teufel?«
Es klingelte erneut. Dieses Mal etwas länger und unangenehmer. Mit einer Hand drückte er auf die Gegensprechanlage.
Verschlafen fragte er: »Ist da?«
»Ist da? Keine geraden Sätze heute Morgen? Hier ist Emine. Machst du mir auf?«
Albert zögerte. Irgendwie hatte er gehofft, dass diese Nervensäge nur ein Teil eines Traumes gewesen war. Doch jetzt stand sie unten vor der Tür. Lebendig und real.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, schnaubte er in die Anlage.
»Zu früh, um mich hier stehen zu lassen. Spät genug, um zu frühstücken. Ich habe Brötchen dabei. Die sind noch warm. Außer du wartest noch länger«, ertönte es aus der Gegensprechanlage.
»Zweiter Stock, rechte Tür, 4A.«
Er drückte den Summer und hörte, wie sich unten die Tür öffnete. Er warf einen Blick durch seinen Wohn- und Küchenbereich. Nicht gut, aber auch nicht schlimm. Die Kissen lagen unordentlich auf dem Sofa, die Stühle an seiner Küchentheke waren etwas verrückt. Ansonsten alles in Ordnung.
Es klopfte an der Tür und Albert öffnete. Emine Laub stand vor ihm. Hellwach, als bräuchte sie keinen Schlaf. Sie trug Jeanshose, Dienstmarke um den Hals, Pistole im Holster an der Hüfte, einen grünen Pullover, schwarze Stiefel, schwarze Lederhandtasche. Albert trug einen wunderschönen Bademantel und eine Unterhose, die seit fünfzehn Jahren in seinem Besitz war.
»Morgenmuffel? Passt zum Abendmuffel«, sagte sie süffisant. »Darf ich hereinkommen?«
Er machte einen Schritt zur Seite. Emine trat ein, und es roch nach frischen Brötchen, die sie in einer Papiertüte dabeihatte.
»Ich wusste nicht, was du magst. Habe helle und Körnerbrötchen dabei.« Sie musterte sein Wohnzimmer, anschließend ihn. »Gab es heute Nacht noch einen Erdbeerlolli als Snack oder woher stammen die blauroten Lippen?«
Der Rotwein.
Albert sagte: »Wenn ich das fragen darf: Was machst du hier? Um diese Uhrzeit? Briefing ist um neun Uhr.«
»Ich dachte, wir reden über den Fall. Du erzählst mir, was wir haben, und wir lernen uns besser kennen«, trällerte sie fröhlich und warf die Tüte auf seine Anrichte. Völlig selbstverständlich ging sie an seinen Kühlschrank und öffnete ihn. Sie holte eine halb leere Flasche Rotwein raus und nickte wissend.
»Der Lolli«, sagte sie.
Er ignorierte das.
»Du wirst mich erst mal nicht los, Albert. Ich mag dich, du erinnerst mich an einen dieser Weihnachtsmänner aus diesen amerikanischen Filmen. Die, die immer so grimmig sind und bei denen man sich die Frage stellt: Warum zum Teufel tragen sie Weihnachtskostüme, wenn sie doch gar keine Lust auf Weihnachten und Kinder haben?« Albert blickte auf seinen Bademantel hinab und fand, dass er noch nicht die Figur eines Weihnachtsmannes hatte. Vielleicht ein bisschen Ansatz, aber so schlimm noch nicht.
»Das ist mir echt etwas viel gerade«, sagte er nur und schloss die Haustür.
»Schon gut. Geh duschen, ich koche Kaffee und schau mal, was ich uns aus deinem Kühlschrank zaubern kann.«
Er schnaubte, fand dennoch, dass sie recht hatte. Er sollte duschen. Danach konnte er auch klar denken. Er wollte es nicht zugeben, doch die Brötchen rochen wirklich gut.
»Zehn Minuten. Wieder hier«, murmelte er erneut abgehackt.
Die Dusche war heiß und belebte ihn. Dampf stieg im gesamten Bad auf, und der Abzug an der Decke kämpfte röchelnd, während das Wasser gurgelnd in den Abfluss strömte. Ein Duschgel einer unbekannten Marke, Pfirsichgeruch, mehr stand nicht in der Kabine. Für Albert völlig ausreichend. Noch nie hatte er verstanden, warum er Shampoo und Duschgel kaufen sollte, wenn am Ende alles schäumte und die gleiche Konsistenz hatte. Durch die Tür hörte er, dass Emine sein Radio gefunden haben musste. Die Musik war aufgedreht, und er konnte Geschirr klappern hören.
Passierte das gerade wirklich? Er drehte das Wasser ab, stieg aus der Kabine und nahm das Handtuch vom Haken. Sofort fröstelte es ihm. Er mochte das Duschen. Jedoch nicht das Aussteigen aus der Duschkabine. Der Spiegel über seinem Waschbecken war beschlagen, und er wischte mit seinem Handtuch darüber, was ihm exakt zehn Sekunden erlaubte, sein Gesicht zu sehen, ehe der Schleier wieder auf der ganzen Scheibe lag. Zähne putzen, Haare anföhnen und saubere Unterwäsche …
»Mist.«
Die lag in seinem Schlafzimmer in der Schublade. Also warf er sich nur den Bademantel über und knotete ihn durch die Schlaufen mit dem zugehörigen Band fest zu, bevor er aus dem Badezimmer trat.
Emine war dabei, Käse in eine Pfanne zu geben, indem sie Scheibenkäse in Stücke riss und nach und nach fallen ließ.
»Rührei mit Käse. Das hilft gegen Kater.«
»Ich habe keinen Kater. Es war ein Glas Wein«, brummte er.
Er würde Michael den Hals umdrehen, dass er sie als seine Partnerin ausgewählt hatte.
Zwei Tassen Kaffee dampften auf der Anrichte. Daneben waren zwei Teller drapiert, ein halb volles Glas Nutella, ein drei viertel volles Glas Marmelade, Butter und aufgeschnittene Brötchen in einem Brotkorb, von dem Albert nicht mal wusste, dass er diesen besaß. Emine drehte sich um und kippte jedem etwas Rührei auf die Teller.
»Es fehlt Petersilie oder Schnittlauch. Geht auch so«, meinte sie.
Albert nahm einen Schluck Kaffee, ging in sein Schlafzimmer und zog sich ordentliche Kleidung an. Frische Unterwäsche, Jeans, weißes T-Shirt, blau kariertes Hemd. Seine Tasse behielt er beim Umziehen bei sich und trank sie aus. Schwarz, stark, ohne Zucker. Er ging zurück zu der Nervensäge, die jetzt seine neue Partnerin sein sollte, und sah sie ausdruckslos an. Emine kippte sich endlos viel Milch in die Tasse, um schließlich ein Pfund Zucker nachzulegen.
»Also«, begann sie. »Was wissen wir bisher?«
»Dass du es dir einfach an meinem Frühstückstisch bequem machst.«
»Richtig. Der Fall ist schon mal gelöst. Aber ich meinte eher die Soko Video .«
Albert aß ein Stück Rührei und tat so, als würde es ihm ganz normal schmecken, obwohl es das beste Ei war, das er jemals auf der Gabel hatte. Emines Augen funkelten, als könnte sie in sein Inneres blicken und er ihr nichts vormachen.
»Nicht viel. Keine Leiche, keinen Täter, keinen Tatort, Tausende Zeugen, die alle nichts beitragen können.«
»Das Video wurde über das Darknet verbreitet, richtig? Server in Tonga? Vor acht Tagen.«
»So ist es«, bestätigte Albert. »Wobei ich einfach nicht verstehe, was das alles bedeutet. Alex Covtic hat es mir erklärt, trotzdem blicke ich nicht durch. Nicht mehr meine Zeit. Früher gab es Fingerabdrücke, DNA, einen klar definierten Tatort. Es gab Zeugen, Verdächtige, Spuren, Motive. Und heute? Da wird ein Mann hingerichtet, und wir haben nichts, obwohl wir alles gesehen haben.«
Emine strich sich Nutella auf eine Brötchenhälfte und tunkte dieses tatsächlich in ihren Kaffee.
»Du stehst wohl auf Zucker in flüssigem Zucker«, sagte Albert.
»Ja, probiere das mal. Ist sehr lecker.«
Emine war rank und schlank. Offensichtlich hatte sie einen fabelhaften Energieumsatz oder auch eine Schilddrüsenüberfunktion. Albert brauchte nicht daran zu denken, sich jeden Tag so viel Schrott in den Kaffee zu schütten und den mit einem Nutellabrötchen runterzuspülen. Dafür trank er viel zu viel Kaffee.
»Ich war ein paar Monate in unserer Abteilung für Cyberkriminalität in Osnabrück tätig. Ich kenne mich ein wenig aus. Soll ich versuchen, es dir zu erklären?«
Albert antwortete: »Versuch es. Bitte verfall nicht in den IT-Slang wie Alex. Klare Worte.«
»Gut, also die Kurzfassung auf Albertisch. Wer im Internet recherchiert, sagen wir, du möchtest ein Auto kaufen, benutzt eine Suchmaschine wie Google oder Bing. Hier findet man quasi alles, richtig? Gleichwohl ist es mit dem Internet etwa so wie mit einem Eisberg. Das Eis, das du siehst, befindet sich an der Oberfläche. Die Spitze sozusagen. Die Spitze ist das, was Suchmaschinen wie Google oder Bing erfassen können. Nun gibt es noch den Bereich, der unter Wasser liegt. Man nennt diesen Teil Deep Web. Der größte Teil des Deep Web besteht aus geschützten Bereichen. Datenbanken von großen Firmen, Regierungen, Forschungseinrichtungen und so weiter und so fort. Also nichts Unnatürliches. Ein kleiner Teil des Deep Web sind Netzwerke, die ganz bewusst unsichtbar seien wollen. Diesen Teil nennt man Darknet. Ziel der User, also der Nutzer, ist es, den Datenaustausch und die eigene Identität anonym zu halten. Bei einer herkömmlichen Internetkommunikation …«, Emine holte einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und schnappte sich einen Werbebriefumschlag, der auf der Anrichte lag, »… gibt es einen Laptop …«, sie malte ein Viereck auf das Papier, »… einen Server …«, jetzt zeichnete sie ein aufrecht stehendes Rechteck, »… und wieder einen Laptop.«
Kleines Viereck, großes Rechteck, kleines Viereck. Sie verband diese Körper mit einer Linie.
»Zwei Rechner sind über einen zentralen Server verbunden. Alles läuft darüber. Eine Zurückverfolgung und die Überwachung dieses Servers sind ein Kinderspiel. Netzwerke im Darknet funktionieren allerdings anders. Beliebig viele private Laptops sind über das normale Internet miteinander vernetzt. In diesem Fall nur ohne Server in der Mitte, der die Kommunikation steuert.«
Emine zeichnete sechs kleine Vierecke im Kreis und verband alle mit mehreren Linien. Ein Kästchen beschriftete sie mit A, ein anderes mit B.
»Schickt nun der Laptop A Informationen an Laptop B, wird dieser Datenaustausch durch die anderen Laptops gejagt und kommt immer wieder neu verschlüsselt heraus.«
»Aber wir haben doch den Server in Tonga«, warf Albert ein.
»Richtig. Ein anonymer Server, quasi ein stinknormaler Rechner oder auch Laptop, der nicht mit anderen Servern in Deutschland kommuniziert, sondern über das Darknet Verknüpfungen mit Laptops und Rechner herstellt, die dessen Informationen verschlüsselt. Die Laptops oder Rechner, die sich zum Darknet zusammenschließen, müssen ja nicht zwangsläufig in ein und demselben Land stehen. Unser Video wurde also dort auf einem Rechner in das normale Internet gesteuert, wurde also live übertragen, und unsere Technik konnte nur den Aufenthaltsort des Servers in Tonga feststellen. Nicht jedoch, über welche Laptops das Signal geleitet wurde, wer sich dahinter verbirgt, wem der Server in Tonga gehört. Die wirklich wichtigen Dinge waren verschlüsselt, und es gibt keine Möglichkeit, sie zu entschlüsseln. Ähnlich läuft es mit den Raubkopierseiten, auf denen man kostenlos Filme ansehen kann. Die Rechner, auf denen illegale Filme gespeichert sind, stehen irgendwo im Ausland. Wer dort nun Filme hochlädt oder herunterlädt, ist nicht zu ermitteln, da die entsprechenden Daten verschlüsselt sind, die wir benötigen würden, um die Nutzer dieser Portale dingfest zu machen. Wir fanden in den Daten des Mordvideos nur das, was wir finden sollten. Oder finden durften. Es geht noch viel weiter. Mittlerweile existieren im Darknet die üblichen Dienste wie E-Mail, soziale Netzwerke, Chaträume, Marketplaces, um Waren und Dienstleistungen zu verkaufen, und vieles mehr. Die Anonymität macht das Darknet zum Tummelplatz für die übelste Sorte Mensch. Kinderpornoringe, Sklavenhaltung, Drogendealer und Kunden, Waffenverkäufer, Bombenhersteller, Terrorzellen und, und, und.«
»Okay, das verstehe ich. Warum gibt es so einen Scheiß, und warum können wir das nicht abschalten?«
»Okay, das Internet abschalten. Gute Idee. Nobelpreis für Albert Zeiler.«
»Ich meine es ernst.«
»Zunächst einmal ist das Darknet autark. Es gibt keinen Knopf, den man drücken kann, um es abzuschalten. Außerdem ist es nicht nur schlecht und böse. Es ist aus etwas Gutem entstanden. Im Zeitalter der Überwachung schützt die Anonymität nicht nur Grundrechte, sondern auch Leben. Hier in Deutschland herrscht Meinungsfreiheit. Zu befürchten hast du nur, dass man deine Meinung nicht teilt und du höchstens in die eine oder andere Ecke gestellt wirst. Niemand verhaftet dich oder richtet dich hin, solange du das Grundgesetz achtest. Jetzt schau in den arabischen Raum, in den Iran, nach Tunesien, Nordkorea, Venezuela, Russland, China. Wenn du im Internet zum Protest aufrufst, steht gleich die Geheimpolizei vor deiner Tür, um dich zu erledigen. Das Darknet ermöglicht Demonstranten, sich zu organisieren, ohne dass der Schurkenstaat etwas davon mitbekommt. Nur so war der arabische Frühling 2011 überhaupt machbar. Und mithilfe der CIA, klar, aber das ist etwas anderes.«
»Auch das verstehe ich. Man kann also sagen, dass das Darknet ein Ort der Verschlüsselung ist, in dem man alles ausleben kann, ohne dass wir etwas davon mitbekommen.«
»So in etwa, ja. Wir haben viele Spione in dieser schwarzen Suppe und V-Leute, die uns Informationen stecken. Wir geben massig Geld aus, um doch Licht ins Dunkle zu bringen. Doch das Darknet ist wandelbar. Es reagiert auf Angriffe von außen wie ein lebender Organismus. Man schätzt, dass dort Hunderte Milliarden Dollar umgesetzt werden. Niemand weiß, wie groß es ist. Vielleicht zehnmal größer oder auch tausendmal größer als das Internet. Das Darknet hütet mehr Geheimnisse als jeder Staat. Ärgerlich, andererseits auch ein Stück Freiheit. Wir müssen nur dafür sorgen, dass wir die Bösen nicht in den Teich lassen. Einfacher gesagt als getan.«
Albert schenkte sich Kaffee nach und biss in sein Marmeladenbrötchen, um eine Gabel Rührei hinterherzuschieben.
»Das Motiv«, setzte er an.
»Wie bitte?«
»Wir müssen herausfinden, was das Motiv ist«, sagte Albert. »Warum hat der Mörder Simon Fietz umgebracht? Warum im Internet? Warum mit Zuschauern? Warum so brutal?«, fragte er.
»Weil er ein Schwein ist, der außerdem Geld machen wollte. Die hunderttausend Euro. Eingenommen von perversen Zuschauern, die glaubten, dass Richtige zu tun. ›Erreichen wir die hunderttausend Euro, wird dieser böse Mann sterben. Er ist ein böser Mann, der den Tod verdient hat‹. Das war der Text des Banners, das über dem Video lief, richtig? Manche haben dem geglaubt, wieder andere wollten einfach nur sehen, was passiert. Die Geldtransaktionen liefen auch über Portale, die sich im Darknet befinden, oder über verschlüsselte Kryptowährung. Da werden wir niemals hinterkommen, wer was überwiesen hat. Zudem bringt uns das nicht weiter. Die Überweiser haben ja selbst keinen Schimmer, wem sie dort ihr Geld gegeben haben. Der Killer zeigt mir damit zwei Dinge. Erstens ist er ein Sadist, der seine Opfer leiden sehen will. Zweitens liebt er die Aufmerksamkeit, was jeder Kriminalpsychologe dahingehend deuten würde, dass unser Mann auch ein Narzisst ist. Er möchte gesehen werden. Wir sollen über ihn reden. Ihn jagen. Die Zeitungen sollen voller Furcht sein und ihm huldigen. Er liebt die Aufmerksamkeit. Denkbar also, dass Simon Fietz rein zufällig ein Opfer wurde. Es könnte also gar kein Motiv geben. Zumindest kein Motiv, das sich auf das Opfer bezieht.«
»Viele Vermutungen. Wir wissen nicht einmal, ob es nur ein Täter ist. Vielleicht konnte er es nicht selbst machen. Sein Opfer umbringen, meine ich. Vielleicht brauchte er die Hilfe der Zuschauer. Irgendwie hat er es fertiggebracht, die Überweisungstransfers mit dem Bunsenbrenner zu verbinden. Er selbst denkt vielleicht, er hätte Simon Fietz nicht umgebracht, sondern die Internetzuschauer. Weil er oder sie ein ängstlicher, introvertierter Mensch ist. Würde ein Narzisst nicht dafür sorgen, dass die Polizei die Leiche findet? Spektakulär, mit einer Message, die besagt: ›Seht her, ich bin so viel klüger als die Trottel bei der Polizei‹«, sagte Albert
»Mag sein. Wir wissen es nicht. Aber ich spüre einfach, dass es nur ein Täter ist. Natürlich kann es eine Frau sein, doch Frauen töten normalerweise anders. Sie vergiften, bringen lautlos ihre Opfer um. Du weißt selbst, wenn Frauen zu Mörderinnen werden, sind die Opfer meistens auch nahe Familienmitglieder. Oft die eigenen Kinder oder der Partner, der sie jahrelang drangsaliert hat. Dieser Aufwand? Mit Zuschauern und einem Honorar von hunderttausend Euro? Ich glaube einfach zu wissen, es ist ein Mann«, meinte Emine.
Albert trank seinen Rest Kaffee und stand auf.
»Wir gehen jetzt. Briefing mit der Soko. Bring deine Ideen ein. Willkommen an Bord. Auch wenn es nicht meine Idee war, dich einzubinden.«
Emine lächelte in ihre Tasse und blickte Albert nach, der in sein Schlafzimmer ging, um sich ein Paar Schuhe zu holen.