Kapitel 9

Justus saß vor seinem Computer und ließ ein selbst geschriebenes Programm laufen, um illegal 4K-Filme hochzuladen. Durch seine weltweiten Kontakte und Vernetzungen bekam er die allerneuesten Filme und Serien, noch bevor diese offiziell in Kinos oder bei Streamingdiensten angeboten wurden. Sein Zimmer im Keller seiner Großmutter war miefig und dunkel. Überall lagen Pizzakartons und leere Chipstüten herum. Auf einem Sofa stapelten sich Teller und Tassen. Hier und dort lagen Klamotten verstreut, die seine Oma im Laufe des Tages bestimmt wieder einsammeln würde, wenn er mal sein Zimmer verließ. Dies kam eigentlich auch nur vor, wenn Justus die Pizza an der Tür bezahlen musste oder der Gang zum Klo unausweichlich war. Sein ganzes Reich wurde lediglich spärlich durch seine drei Bildschirme beleuchtet, die auf seinem Schreibtisch standen. Auf dem mittleren lief sein Programm für die Filme und Serien. Der neue James Kolbeck sollte in wenigen Wochen in den Kinos erscheinen, und Justus hatte ihn schon jetzt auf der Festplatte. Seine Freunde im Netz würden ihn dafür feiern, sobald der Streifen hochgeladen war. Auf dem linken Bildschirm lief eine Zeichentrickserie aus seiner Kindheit, Disneys Gummibärenbande, und auf dem rechten Bildschirm war ein Chatroom geöffnet, den er über eine Website im Darknet angesteuert hatte. Sein Username lautete Jupiter, weil Justus ein Faible für Planeten hatte. Jupiter war der größte Trabant im Sonnensystem. Man könnte auch der dickste sagen, was ebenfalls zu Justus passte. Seine Oma nannte ihn immer liebevoll mein Kirschtörtchen . Er selbst wusste, dass er einfach nur dick war. Mit einem Durchmesser von knapp hundertdreiundvierzigtausend Kilometern und einer mittleren Entfernung zur Sonne von siebenhundertachtzig Millionen Kilometer war Jupiter der beeindruckendste Planet in Justus’ Augen. Außerdem besaß er neunundsiebzig Monde, die derzeit bekannt waren. Die lahme Erde hatte nur einen einzigen. Die Monde erinnerten ihn an seine Freunde im Netz, die ihn als ihren Meister ansahen und als Zentrum umkreisten. Er war ein Hacker und verstand sein Handwerk. Mit sieben Jahren hatte er das erste Mal ein Handy in der Hand gehabt. Seit diesem Tag drehte sich für ihn alles nur noch um das digitale Leben. Es war wesentlich angenehmer als die wirkliche Welt da draußen.

In dem Chatfenster tat sich etwas. Eine junge Frau namens Blizz schrieb ihm eine Nachricht. Sie kannten sich seit vier Jahren und tauschten immer mal wieder Hackercodes und Infos aus. Nachdem Blizz den Zentralrechner eines Autokonzerns gehackt hatte, weil der CEO frauenfeindliche Äußerungen getätigt hatte, waren sie sich zufällig in einem Netzwerk begegnet. Sie brauchte Hilfe dabei, ihren digitalen Fingerabdruck zu verwischen. Jupiter hatte seine Hilfe angeboten und ihr den Arsch gerettet. Ohne seine Hilfe wäre sie im Gefängnis gelandet. Sie hatte sich über ein ASCII-Artist Programm Zugang verschafft, indem sie grafische Bilder in eine Buchstabensuppe umgewandelt, diese per Mail an einen Mitarbeiter des Unternehmens gesendet und hinter dem Frame einen Trojaner angeheftet hatte, der deshalb einen beträchtlichen Schaden für den Konzern angerichtet hatte. Nur blöd, dass ihre IP-Adresse durch ein paar clevere Nerds aufgespürt worden war, auch wenn Blizz ihre Spuren gut hatte verwischen können. Da draußen gab es immer einen Besseren. Immer.

Durch einen selbst geschriebenen Bootblock-Virus hatte sich Justus erneut Zugang in das Unternehmen verschafft und ihre Spuren vollends gelöscht. Um die Schande nicht einzugestehen, dass sie gleich zweimal gehackt worden waren, hatte der Autohersteller den Deckel über den ganzen Schlamassel gehalten. Die Einfallstore waren geschlossen und nie wieder darüber gesprochen worden.

Blizz: Jup? Bist du da?

 

Justus riss sich eine Cola-Dose auf und tippte.

Jupiter: Ja, hier. Was geht ab, Bli?

Blizz: Hast du von dem Mord gehört? In Lingen?

Jupiter: Habe es live beobachtet.

Blizz: Konntest du den Kerl aufspüren? Ich hab’s versucht. Keine Chance. Lief über einen Port in Tonga. Mittelalterlich, aber effektiv – lol.

Jupiter: Ja, Tonga. Weiter bin ich auch nicht gekommen. Der digitale Abdruck ist nicht zu entschlüsseln. Kein Meister, doch für die Bullen reicht es definitiv.

Blizz: Was ist mit Trinity?

 

Warum hatte er ihr bloß davon erzählt? Justus’ Lieblingsfilm war Matrix . Deswegen hatte er ein Programm geschrieben, das er Trinity nannte. Es war sein Meisterwerk, oder besser gesagt, es sollte sein Meisterwerk werden. Vielleicht wurde Trinity niemals fertig. Aber es funktionierte. Teilweise zumindest. Vielleicht schon gut genug, um bei der Aufklärung des Mordes entscheidend helfen zu können.

Jupiter: Es existiert nicht mehr. Ich habe aufgegeben.

Blizz: Soll ich dir das glauben?

Jupiter: Glaub, was du willst, Bli! Ich habe es dir schon gesagt. Es ist unmöglich. Also frag nicht mehr danach.

Blizz: Wir sind im Darknet verbunden, Jup! Hier kann uns keiner belauschen. Hast du Angst?

Jupiter: Ich habe keine Angst. Gibt keinen Grund. Trinity ist tot, okay? AFK now!

 

Away from Keyboard. Er hatte keine Lust mehr, zu schreiben. Außerdem wusste Justus es besser. Es war möglich, im Darknet zu stöbern, auch wenn niemand ernsthaft im Deep Web daran glaubte. Trinity war womöglich der Grund, warum Justus irgendwann allen das Gegenteil beweisen konnte.

Er schloss den linken Bildschirm mit dem Kinderfilm und öffnete das Programm. Seit Tagen lief Trinity bereits, und Justus glaubte selbst nicht daran, dass es etwas finden würde. Doch plötzlich machte sein Herz einen Satz. Ein Symbol blinkte deutlich im Sekundentakt. Ein kleines gelbes Kästchen in der Mitte seiner Betaversion.

In schwarzer Schrift stand dort: Treffer, Datensignatur gefunden.