»Nein, tut mir leid. Ich war bis gestern wegen meiner Herzprobleme in der Reha. Ich habe leider nichts gesehen. Ich würde ja gern helfen, aber ich kann es nicht. Das habe ich auch schon den Polizisten in Uniform gesagt, die die Tage hier waren«, sagte der ältere Mann an der Tür.
Es war das letzte Haus der Straße. Emine und Albert hatten alle erneut abgeklappert, obwohl ihre Kollegen dies gleich nach dem Verschwinden von Simon Fietz getan hatten.
»Trotzdem, vielen Dank. Wir wollten nur noch einmal sichergehen. Es könnte ja sein, dass jemandem im Nachhinein etwas eingefallen wäre«, meinte Emine freundlich.
Der Rentner nickte, schloss die Tür und beide standen nun auf dem Gehsteig. Vor ihnen befand sich der Skaterpark, in dem jetzt nur zwei Kids auf einer Bank saßen, die mit einer Soundbar Rapmusik hörten. Hier war Simon Fietz letztmalig lokalisiert worden. Danach war er wie ein Geist verschwunden.
»Keine Leiche, kein Tatort, keine Zeugen, kein Motiv, keinen Verdächtigen. Besser kann es nicht laufen«, meinte sie und pustete genervt Luft aus.
»Geduld, Frischling. Geduld.«
»Frischling? Geduld? Wie denn? Sollen wir nichts unternehmen und abwarten, dass uns jemand die Arbeit abnimmt?«
»Mein alter Partner hat das immer gesagt, wenn die Ermittlungen schwierig wurden oder sich einfach nichts tat, was uns voranbrachte.«
»Wie hieß dein alter Partner?«
»Bartold Kesser war wie ich Kriminalhauptkommissar. Er war ein sehr guter Polizist. Zwar übertrat er immer mal wieder Grenzen, dennoch hat er das Herz am rechten Fleck. Komm, wir gehen ein Stück.«
Sie überquerten eine Fußgängerampel und gingen zu Fuß in Richtung Innenstadt. Das Kopfsteinpflaster war nass und leicht rutschig, sodass sie sich mehr rechts an den Gebäuden entlang hielten, wo der Fußweg etwas trockener war.
»Warum war er ein sehr guter Polizist?«, fragte Emine.
»Wir sind also jetzt in der Phase, wo wir uns näherkommen und unsere vergangenen Tage erläutern?«, fragte Albert nach.
»Genau da sind wir.«
»In Ordnung. Ich erzähle etwas von mir und du von dir. Alles bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen.«
»Einverstanden«, sagte Emine.
Der Wind frischte etwas auf, und beide schlugen sie ihren Jackenkragen hoch. Sie spazierten an dem weißen alten Rathaus vorbei und bogen nach rechts zu einem Café ab. Es war früher Vormittag und nicht sonderlich viel los. Albert entschied sich für einen Platz an der linken Wand des Lokals. Drei Stühle waren um einen Tisch aus künstlicher Holzoptik platziert. Die Speisekarte war in der Mitte des Tisches in eine Metallhalterung gesteckt und wirkte abgewetzt und fransig. Emine fing an, diese zu studieren, und Albert blickte auf ihren abgebrochenen Zahn, als sie unbewusst lächelte. Die Bedienung kam und begrüßte sie. Nicht freundlich, nicht unfreundlich. Irgendwas dazwischen. Albert bestellte einen großen Kaffee und ein Stück Pfirsichkuchen. Emine nahm einen Cappuccino und ein Stück Marmorkuchen. Er zahlte direkt und gab ein großzügiges Trinkgeld, was ein außerordentlich freundliches Dankeschön zur Folge hatte. Albert zahlte immer vorab mit einem guten Trinkgeld, weil sich die Bedienungen aus diesem Grund revanchierten. Eine Win-win-Situation für beide Parteien. Es dauerte keine fünf Minuten, da hatten sie ihre bestellten Kuchenstücke vor sich auf dem Tisch stehen. Emine kippte sich übertrieben viel Zucker in die Tasse und rührte alles mit einem eleganten Löffel um.
»Du hast einen gefährlich hohen Zuckerkonsum«, merkte Albert wieder an.
Emine ignorierte seinen neuerlichen Vorwurf und aß ein Stück ihres Kuchens.
»Lecker«, meinte sie.
Albert bestätigte ihre Meinung mit einem halben Grunzen und machte sich über seinen Pfirsichkuchen her. Er war kühl, fluffig und richtig gut.
»Also, dein Kollege. Bartold Kesser. Was ist mit ihm passiert?«
Albert lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wischte sich mit einer roten Serviette den Mund ab.
»Du weißt, dass ich damals der Sonderermittlungsgruppe angehört habe, um den Feuerteufel zu fassen.«
»Zum Teil, ja. Vielleicht erklärst du es mir mit eigenen Worten.«
»Bartold Kesser war ebenfalls dabei. Nachdem unsere Ermittlungen drei Jahre lang stagnierten, während wir in der Zeit sieben weitere Opfer zu beklagen hatten, also insgesamt sechzehn, hörte die Mordserie plötzlich auf. Ein Verdächtiger – ein Gastarbeiter aus Polen – wurde kurz zuvor bei einem Raubmord erschossen. Auf den komme ich gleich zurück.«
Emine nickte. »Ich kann mich daran erinnern. Ich war noch jung, aber die Nachrichten waren voll davon. Insgesamt sechzehn Opfer. Wie schrecklich. Und wenn ich richtigliege, waren alle weiblich.«
»Genau. Er hat die Frauen, alle weiß und zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt, gekidnappt, vergewaltigt und bei lebendigem Leib verbrannt. An den Orten der Entführung fanden wir jedes Mal ein verkohltes Kuscheltier. Einen Teddybären, um genau zu sein. Wochen später – an einer anderen Stelle – haben wir die verbrannten Leichen der Frauen gefunden. Die meisten waren Prostituierte, die ihrem Gewerbe illegal nachgegangen waren. Osteuropäische Frauen, die unter dem Vorwand der freien Welt hergelockt wurden, um unter den schlimmsten Bedingungen feststellen zu müssen, dass sie nun einem Prostitutionsring gehörten. Deutschlandweit verschwanden diese Frauen und wurden brutal und auf die schlimmste Art, die ich mir vorstellen kann, ermordet. Wir waren uns sehr sicher, dass der Feuerteufel, wie ihn die Presse getauft hatte, vorher nur ein – in Anführungszeichen – Serienvergewaltiger war. Drei Frauen meldeten sich nach den ersten Morden bei der Polizei. Diese sind vor Jahren überfallen, vergewaltigt und mit Benzin übergossen worden. Der Täter hatte dann aber von ihnen abgelassen.«
»Er hatte noch eine Hemmschwelle, konnte noch nicht zu Ende bringen, was er vorhatte.«
»Genau. Davon sind wir auch ausgegangen. Später hatte er sich gemausert. Sechzehn Frauen, alle vergewaltigt und brutal ermordet. Bei den letzten zwei Frauen hatte er allerdings geschludert. Wir fanden Teilfingerabdrücke auf einem der Jackenknöpfe und auf einem Brillengestell eines der Opfer. Außerdem konnten wir das Pudermaterial nachweisen, das beim Ausziehen eines Latexhandschuhs verstäubt wurde, weil er seine letzten Opfer nicht mehr so sorgsam verbrannt hatte wie zuvor.«
»Vielleicht ein Trittbrettfahrer?«, warf Emine ein.
»Nein, wir haben der Presse gewisse Details nicht genannt, um ebendiese Möglichkeit auszuschließen. Der Feuerteufel hatte allen Opfern immer ein Kreuz in die Stirn geritzt. So tief, dass wir es auch nach der Verbrennung im Knochen nachweisen konnten. Das wusste niemand. Und unsere letzten zwei hatten ebenfalls ein Kreuz bekommen. Es war fast so, als wollte der Feuerteufel gefasst werden. Vielleicht um die Lorbeeren zu ernten. Vielleicht war es auch wirklich nur ein Versehen. Wer weiß? Drei Wochen nach dem letzten Mord wurde ein toter Mann – dieser besagte Pole – in einer Seitenstraße in Koblenz gefunden. Einen Schuss in den Hinterkopf, Brieftasche und Wertgegenstände gestohlen. Bei der Obduktion des Toten fanden unsere Kollegen heraus, dass die Fingerabdrücke, die wir bei den Frauen gefunden hatten, zu diesem Mann gehörten. Er war Gelegenheitsarbeiter auf Baustellen. Meistens schwarz bezahlt und im ganzen Land unterwegs. In Polen wegen Vergewaltigung vorbestraft. In seiner Wohnung fanden wir auch ein Messer, das DNA-Spuren des letzten Opfers an seiner Klinge aufwies.«
»Durch das Einritzen des Kreuzes.«
»Ja. In seinem Keller standen außerdem Kanister mit Benzin und ein paar Kartons Einweghandschuhe. Das Pudermaterial war das gleiche, das wir bereits sicherstellen konnten. Wir hatten unseren Mann also gefunden.«
»Aber?«, bohrte Emine nach.
Albert nahm einen Schluck Kaffee und seufzte. »Aber ich hatte ein schlechtes Gefühl. Keine Ahnung wieso. Ich fand die ganze Sache nicht rund. Er war ein Gelegenheitsdealer, ein Trinker, vorbestraft, und in Polen hatte er keinen Schulabschluss gemacht. Sechzehn tote Frauen sollten auf seine Kappe gehen? Er sah aus wie ein Troll. Eine, vielleicht zwei Frauen wären mit ihm gegangen, wenn er genug Geld dabeigehabt hätte. Schließlich hatte auch diese Berufsbranche mitbekommen, dass ein Serienmörder Prostituierte umbrachte. Unwahrscheinlich, dass noch jemand Interesse an ihm gehabt hätte. Da es nie Spuren eines Kampfes gab und drei der Opfer dabei beobachtet wurden, wie sie zuletzt in einen blauen Wagen eingestiegen waren, mussten wir davon ausgehen, dass der Mörder vertrauenswürdig war.«
»Wie Ted Bundy«, meinte Emine.
»Wie Ted Bundy, ja. Ich weigerte mich, die Ermittlungen einzustellen. Das blaue Auto wurde nie gefunden. Vielleicht in einem See versenkt oder illegal auf einem Schrottplatz entsorgt. Praktischerweise war unser Verdächtiger nun tot und konnte uns nicht mehr sagen, wo sich das Fahrzeug befand. Ich verkrachte mich mit meinem Partner und riskierte, gefeuert zu werden. Unsere Ermittlungsgruppe wurde aufgelöst, alle waren zufrieden. Der Staatsanwalt, der Polizeichef, der Innenminister, die Bevölkerung, ja, sogar die Presse. Alle wollten, dass ich aufhöre. Es gab Artikel über mich. Über den ›Beamten, der sich profilieren will. Der Kriminalhauptkommissar‚ der einem gefassten Mörder nachjagt und Steuergelder verschwenden möchte.‹ Und sie hatten ja auch recht. Es gab keine weiteren Morde mehr. Zumindest ein knappes Jahr lang nicht.«
»Willst du …«
»Nein. Ich möchte nicht darüber sprechen«, unterbrach er sie gleich. »Ich habe Bartold nie verziehen, und er sich selbst vermutlich auch nicht. Er ging seiner Wege und ich meiner. Er hat irgendwann den Dienst quittiert. Ich weiß nicht, was er heute macht. Ich tue mich seitdem sehr schwer damit, neue Kollegen in mein Leben zu lassen. Tut mir leid, dass ich unfair zu dir war.«
Emine lächelte. Ihr abgebrochener Zahn blitzte auf.
»Schon gut. Jeder von uns trägt ein Päckchen mit sich. Einige sogar einen ganzen Schrank.«
Albert nickte und leerte seine Tasse Kaffee, um sich gleich eine neue zu ordern. Er bezahlte wieder direkt mit einem etwas kleinerem Trinkgeld.
»Und jetzt erzählst du mir, warum du wirklich hier bist, Emine. Und zwar die Wahrheit und nicht den Scheiß, dass du lediglich in die alte Wohnung deiner verstorbenen Mutter einziehen möchtest.«
Zur gleichen Zeit fuhr der Mann, der sich Erik nannte, seinen Wagen auf einer Bundesstraße in Richtung Lingen. In seinem Kofferraum, unter dem Sichtschutz, lag eine Frau. Sie hatte eine Platzwunde über dem Ohr und war an Händen und Füßen gefesselt. Zunächst hatte sie sich noch gewehrt und versucht, durch ihren Knebel zu schreien und mit den Füßen gegen die Innenverkleidung zu treten. Erik hatte daraufhin angehalten und ihr einen Revolver auf die Stirn gedrückt.
»Noch ein Geräusch und ich jag dir eine Kugel ins Hirn. Wenn du dich benimmst, überlebst du das hier«, hatte er gesagt.
Er konnte nicht riskieren, dass man seine Beute an einer Ampel stehend hören konnte. Diese Momente waren immer die entscheidendsten. Die wichtigsten und gefährlichsten. Waren sie erst einmal in seinem Versteck angelangt, konnte er aufatmen.
Erik sah auf seine Armbanduhr und drehte das Radio laut. Noch wurde nichts über einen Leichenfund berichtet. Es dürfte nicht mehr sehr lange dauern. Amüsiert nahm er leicht den Fuß vom Gas. Er durfte nicht zu schnell unterwegs sein. Eine Polizeikontrolle würde seine Pläne durchkreuzen. Er drehte das Radio noch etwas lauter und wartete.