Wie viele Tage vergangen waren, konnte Amira schon nicht mehr sagen. Zunächst hatte sie im Kopf versucht, die Stunden zu berechnen. In einem Keller eingeschlossen, ohne Tageslicht oder eine andere Möglichkeit, die Zeit abzuschätzen, gab sie ihre Bemühungen bald auf. Das rote Deckenlicht war einem schwachen gelblichen Licht gewichen. So konnten sie wenigstens ihre eigenen Hände vor Augen wahrnehmen. Nasrin hatte stundenlang nicht mit ihr gesprochen und regungslos auf ihrer schäbigen Matratze verharrt. Die Kettenglieder, die von ihren Füßen in die Wand führten, ließen sich wieder herausziehen, sodass Amira irgendwann zu ihrer Mitgefangenen hinüberging, um sie zu trösten.
»Es wird alles gut. Es tut mir leid, dass er dir das angetan hat«, sagte sie und strich Nasrin über ihr schwarzes Haar.
Weil weiterhin keine Reaktion von ihr kam, stand Amira auf und drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf. Sie trank etwas davon und wusch sich das Gesicht.
»Gelbes Licht ist gut«, hörte sie plötzlich.
»Was hast du gesagt?«, fragte Amira.
»Gelbes Licht ist gut. Es bedeutet, wir haben nun etwas Ruhe.«
Amira sah nach oben. Rote und gelbe Lichtfarben hatte sie bereits gesehen. Gab es eine schlimmere Farbe als Rot?
»Gibt es weitere Farben?«
»Ja. Blau. Blau bedeutet, wir sollen uns waschen. Wenn das Licht aus ist, sollen wir schlafen.«
Amira atmete tief durch. In was für einen Albtraum war sie hier nur reingeraten?
»Kennst du den Kerl? Der mich zu dir hier nach unten gebracht hat? Der uns beide hier einsperrt?«
Nasrin richtete sich nun auf und drückte ihre Hände gegen das Gesicht, um zu lachen, was sehr eigenartig war. Sie warf sich die Haare zurück und musterte ihre neue Mitbewohnerin.
»Du hast keine Ahnung, in was du hineingeraten bist, oder?«, fragte sie schließlich.
»Nein, woher auch? Ich war Joggen und bin hier aufgewacht. Neben dir. Ich musste mit anhören … Tut mir leid, wenn ich verwirrt klinge. Aber offensichtlich bist du ja nun einmal schon länger hier unten.«
»Ich bin seit über vier Jahren hier eingesperrt.«
Stille.
Amira konnte nicht atmen. Nicht denken. Sie wollte einfach nicht glauben, was Nasrin ihr da gesagt hatte.
»Was sagst du?«
»Du hast richtig gehört. Vier Jahre, zwei Monate und ein paar Tage. Einmal im Monat bekomme ich mein Lieblingsessen. Spinat-Lachs-Lasagne. Mittlerweile hasse ich es. Ich musste es ihm zu Anfang mitteilen, was ich damals am liebsten gegessen habe. Du wirst es ihm sicher auch sagen müssen. Wenn du nicht antwortest, schaltet er das rote Licht ein. Ich habe nun fünfzigmal Spinat-Lachs-Lasagne bekommen. Vier Jahre, zwei Monate und ein paar Tage.«
»Wer ist der Mann?«, bohrte Amira nach.
»Ich weiß es nicht. Er hört uns sicherlich gerade zu. Er ist ein perverser Vergewaltiger. Er spricht kaum. Zeigt offen sein Gesicht. Kredenzt mir mein ehemaliges Lieblingsessen und bringt nun eine zweite Frau in dieses Verlies, um mich vor ihr zu vergewaltigen. Wer dieser Mann ist? Er ist der Teufel! Ein Monster in der Gestalt eines Menschen. Ich habe alles versucht, glaube mir. Gefleht, mitgemacht, mich gewehrt, nichts getan, auf ihn eingeredet, ihm die kalte Schulter gezeigt, ihn beschimpft. Es ändert gar nichts. Ich rate dir, es einfach über dich ergehen zu lassen. Wenn du dich wehrst, dauert es nur länger. Er ist zu stark.«
Amira bemerkte, wie sich Nasrin immer wieder unbewusst mit der Hand über den Bauch fuhr.
»Hast du Schmerzen?«, fragte sie.
Nasrin blickte auf ihre Hand und lächelte.
»Nein, keine Schmerzen. Nur Erinnerungen. Es gibt noch eine weitere Lichtfarbe, weißt du? Sie ist grün. Ich habe sie erst einmal gesehen.«
Amira verstand erst nicht, was sie meinte. Doch plötzlich wurde ihr schlagartig bewusst, warum sich Nasrin über ihren Bauch strich.
Nasrin sagte: »Ganz recht. Eine von uns wird es irgendwann ein weiteres Mal sehen müssen.«