Das Café füllte sich und das Gewirr an Stimmen stieg an.
Emine stach sich mit ihrer Gabel etwas Marmorkuchen ab. Danach trank sie abrupt einen Schluck Cappuccino, so als hätte sie sich entschieden, ihre Geschichte preiszugeben. Die rundliche, breite Tasse klapperte laut, als sie sie ruckartig auf den Unterteller abstellte.
»Es stimmt wohl, was man mir von dir erzählt hat«, meinte sie.
»Und das wäre? Dass ich ein alter Knochen bin, der die Freuden des Lebens hinter sich gelassen hat?«
»Nein. Also das auch, ja. Ich meine jedoch eher, dass man dir nichts vormachen kann.«
Albert sagte nichts. Blickte auf seinen Pfirsichkuchen und wieder zu seiner neuen Partnerin.
Ich nenne sie in Gedanken schon neue Partnerin , dachte er und überlegte, wie sich dieses Eingeständnis wohl in seinem Kopf bilden konnte.
»Meine Mutter … Sie … Ich war ihr einziges Kind. O Mann, ich weiß nicht recht.«
Albert sagte nichts, was sich für ihn als beste Antwort darstellte. Wenn sie ihm etwas erzählen wollte, musste es auch aus ihrem Herzen kommen und nicht nur, weil er sie drängte.
»Okay. Also gut. Mein biologischer Vater ist ein Arschloch. Und diese Bezeichnung ist noch stark verharmlosend. Er war nicht gut für meine Mutter, und er war ein noch schlechterer Vater. Meine Mutter, sie hieß Jana, hatte vor Jahren in einer schäbigen Absteige gekellnert. Sie war Gelegenheitsarbeiterin, und für Frauen mit einem geringen Schulabschluss war diese Welt damals noch schlimmer als heute. Sie gab es nie zu, aber ich denke, sie hat viel für Geld gemacht, wenn du verstehst, was ich damit meine.«
Albert nickte.
»Sie lernte eines Abends einen Mann kennen. Er kam in die Bar und war nett zu ihr. Ein anderer volltrunkener Gast hatte meine Ma auf eine ganz fiese Art und Weise angemacht, und der Fremde half ihr aus dieser Situation heraus. Kurz gesagt, sie verliebte sich in ihn. Und es war zunächst auch alles klasse. Sie lernten sich besser kennen, gingen aus, er lud sie zum Essen ein, hatte ein eigenes Auto, eine Wohnung und einen Job. Also einen richtigen Job. Er beeindruckte sie und gab ihr das Gefühl, besonders zu sein.«
Der Marmorkuchen war mittlerweile in viele Stücke zerteilt worden.
»Nach einer Zeit änderte sich sein Verhalten. Er wurde aggressiv, trank zu viel. Die übliche Geschichte. Meine Ma wollte das nicht sehen. Gab sich die Schuld und blieb bei ihm. Er verlor seinen Job und fing an, sie zu schlagen. Erst nur eine versehentliche Ohrfeige, dann … Dann kam ich ins Spiel. Er rastete aus, schmiss sie aus seiner Wohnung und ließ sie allein. Schwanger, jung, allein und zerbrechlich. Aber sie gab sich nicht geschlagen. Sie brachte mich auf die Welt, dachte nicht einen Moment darüber nach, mich loszuwerden. Zumindest behauptete sie das immer. Sie besuchte irgendwann eine Abendschule, holte ihren Abschluss nach und arbeitete als Bürokraft in einer anständigen Firma. Ihr Leben nahm wieder Schwung auf. Als ich sechs Jahre alt war, ich kam gerade aus der Schule, stand ein Wagen vor unserer Wohnung. Ich hörte drinnen Schreie und etwas ging zu Bruch. Es war mein Erzeuger, der meine Mutter ausfindig gemacht hatte.« Emine stoppte kurz. »Dieses verdammte Schwein!«, zischte sie. »Wollte wohl Geld oder was auch immer von ihr haben. Er behauptete, sie hätte ihm damals Geld gestohlen. Vielleicht dachte er, sie gehörte immer noch ihm. Wer weiß schon, was in so einem kranken Kopf vor sich geht? Er betrachtete uns einfach als seinen Besitz. Als ich hereinkam, ließ er von ihr ab. Ich weiß noch, wie meine Ma auf dem Boden lag. Ein geschwollenes Auge und eine blutende Lippe. Sie stand auf und lächelte mich an, um mir die Angst zu nehmen. Sie wollte mich beschützen. Er grinste mich an, rauchte eine Zigarette und bot auch mir eine an. Ich war sechs! Ich weinte, und er fing an zu lachen. ›Wie deine Mutter‹, meinte er und ging. Das war das erste Mal, dass wir umgezogen sind. Es folgten weitere Umzüge. Immer wieder fand er uns. Es wurde für ihn eine Art Passion. Ich wurde älter, hatte keine Freunde, weil jedes Mal, wenn ich welche kennenlernte, dieser Mistkerl auftauchte und wir wieder umziehen mussten. Vorher allerdings nahm er ihr Geld oder Wertsachen weg und schlug sie, falls er nicht zu besoffen war. Eines Tages so heftig, dass die Polizei, die endlich mal nützlich wurde, ihn dabei auf frischer Tat ertappte. Er kam in den Knast und meine Mutter und ich wieder in eine andere Umgebung. Dieses Mal allerdings professioneller Natur. Sprich mit gerichtlicher Hilfe. Ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass ich zur Polizei will. Ich wollte unbedingt solche Schweine hinter Gitter bringen, die ihre Familien so zerstörten. Jahre vergingen, und plötzlich, ich war gerade auf der Polizeischule, bekam ich einen Anruf. Meine Mutter hatte einen Schlaganfall erlitten. Vermutlich durch die jahrelangen Schläge und Tritte gegen ihren Kopf. Dies ließ sich nicht mehr beweisen, und so blieb dieses Schwein ungestraft. Zumindest, was den Schlaganfall anging. Mama konnte nicht mehr richtig laufen, nicht mehr richtig sprechen und ihre geistigen Fähigkeiten ließen immer mehr nach. Ich pflegte sie zunächst allein, später mithilfe eines Pflegedienstes, nachdem meine Ma einen zweiten Schlaganfall erleiden musste. Danach lag sie nur noch da und starrte ins Leere. Vor drei Monaten fiel sie ins Koma, bekam eine Lungenentzündung und starb. Das war ihr Leben. Kämpfen, gedemütigt werden, ein Kind in die Welt setzen, wieder aufstehen, getötet werden. Mein Vater hat sie ermordet, und ich kann nichts tun.«
Die Gabel klapperte auf ihrem Teller, weil ihre Hand zitterte.
Albert sah sie lange an und nickte verständnisvoll. »Kein Kind sollte so etwas durchmachen müssen. Es tut mir sehr leid, dass dir das passiert ist. Aus dir ist dennoch ein toller Mensch geworden. Deine Mutter hat also etwas Gutes hinterlassen. Eine Tochter, die stark ist. Ich bin mir sicher, dass sie das immer wusste. Sie hat dich nicht aufgegeben, dich nicht weggegeben. Aus Liebe. Das war etwas Gutes, Emine.«
Emine lächelte kurz.
»Ist deine Mutter hier in Lingen begraben?«, fragte er.
»Ja, ist sie. Auf dem alten Friedhof am Dortmund-Ems-Kanal.«
»Du hast dich versetzen lassen, weil du deiner verstorbenen Mutter näher sein möchtest. Weil du anderen Menschen in ähnlichen Situationen helfen möchtest«, schloss er.
»Kann sein. Ich weiß es selbst nicht ganz genau. Ich bin jetzt zumindest hier. Ich fühle mich ihr näher, auch wenn sie gegangen ist. Hier ist mein Zuhause.«
Albert spürte, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Die Bedienung brachte ihnen noch einmal Kaffee und Cappuccino, nachdem er zwischenzeitlich mit der Hand auf die leeren Tassen gedeutet hatte.
»Möchtest du, dass wir sie besuchen?«
Emine überlegte, schüttelte dann den Kopf. »Ein anderes Mal vielleicht.«
Sie pustete in ihre Tasse und der Schaum waberte gegen den Porzellanrand. Albert plagte ein schlechtes Gewissen. Er überlegte doch tatsächlich, ob er sich dieser jungen Frau öffnen sollte. Wie hatte sie das angestellt? Er kannte sie kaum, und doch hatte sie es geschafft, ihn zu erweichen.
»Emine, ich glaube, dass man dir vertrauen kann. Bitte entschuldige noch einmal, dass ich bei unserer ersten Begegnung …«
»… und zweiten Begegnung«, warf sie ein.
»… ein Arsch zu dir war.«
»Du hast dich bereits entschuldigt. Wirst du etwa sentimental?«
»Niemals«, meinte Albert und schnaufte ein unterdrücktes Lachen aus. »Okay. Ich erzähle dir jetzt von meiner …«
Albert konnte seinen Satz nicht beenden, weil ihre Handys plötzlich klingelten. Er zog seins aus seiner Tasche. Tareks Name wurde angezeigt.
»Hallo, Tarek. Was gibt es?«
»Hallo, Albert. Wir haben Neuigkeiten.«
»Schieß los.«
Albert bemerkte, dass Emine aufstand, ihr Handy wieder einsteckte und Bargeld aus ihrer Tasche zückte. Albert wiegelte ab.
»Wir haben gerade die Info erhalten, dass eine Leiche gefunden wurde«, ertönte es aus seinem Handy.
Auch er stand nun eilig auf und zog sich umständlich seine Jacke über. Emine half ihm dabei, weil er seinen Ärmel einfach nicht zu packen bekam.
»Simon Fietz?«
»Vermutlich, ja. Aber das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen.«
»Wo genau?«, fragte Albert.
»Auf einem Feld in Wachendorf, direkt am Golfplatz.«
»Ist der Tatort abgesperrt?«
»Ja, allerdings … du wirst es nicht glauben. Die Leiche ist auf dem ganzen Acker verteilt.«
»Verteilt, sagst du?«
»Du wirst es nicht glauben«, meinte Tarek erneut.