Emine parkte ihren Wagen am rechten Randstein. Zwischen den tief hängenden Wolken hatten sich einzelne Sonnenstrahlen hindurchgekämpft. Dieses Naturschauspiel der Farben erinnerte sie an ein Gemälde, das sie sich als Kind in einem Museum angesehen hatte. Es hatte sie damals sehr beeindruckt. Vielleicht lag ihre Faszination darin, dass unter dem grauen Himmel des Bildes eine Schlacht aus dem 19. Jahrhundert tobte. Es war die Schlacht von Waterloo, gemalt von William Sadler, die sie sich damals neugierig angesehen hatte. Die letzte Schlacht von Napoleon, einem kleinen Mann, der große Ziele hatte und gescheitert war.
»So etwas schon mal gemacht?«, fragte Albert und schnallte sich ab.
Emine blickte zur Haustür. Sie war dunkelgrün, hatte vier eingelassene abgedunkelte Fenster und eine übergroße bronzene Klinke. Das Haus von Simon und Kamilla Fietz war ein Backsteinhaus aus den Neunzigern. Roter, rauer Klinker, dunkelgrüne Fensterrahmen, ein wilder, dennoch nicht verkommener Vorgarten mit einem gusseisernen Tor, das ihnen bis zur Hüfte reichte. Zeitungen und Briefumschläge stapelten sich in dem Postkasten, der an dem ebenfalls hüfthohen Zaun befestigt war, der den Vorgarten umschloss. Ein moosbefallener kurzer Weg führte zur Eingangstür. Und ehe Emine und Albert aus ihrem Wagen ausgestiegen waren, öffnete sich diese bereits. Im Türrahmen stand eine hagere, aber attraktive Frau. Sie hatte haselnussbraunes glattes Haar, ein rundliches Gesicht mit blauen Augen und war nicht größer als Emine selbst. Sie trug ein schwarzes, dezentes Kleid und dazu graue Hausschuhe, die irgendwie fehl am Platz wirkten.
»So etwas schon mal gemacht?«, wiederholte Albert.
»Du meinst, einer Witwe mitzuteilen, dass wir die Überreste ihres Mannes auf einem Feld gefunden haben? Nein. Diese Ehre wurde mir noch nicht zuteil«, beantwortete sie verzögert seine Frage.
»Komm, sie hat uns wohl schon gesehen, wenn sie so die Tür öffnet.«
Sie hatten den Bürgersteig vor dem Haus halb überquert, als Kamilla Fietz die Tür gänzlich öffnete und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Das dritte Mal, dass die Polizei hier … Oh.« Sie hatte wohl den Blick von Albert oder Emine erkannt. Ernst, mitfühlend und höflich. »Sie haben ihn gefunden, nicht wahr?«
»Frau Fietz. Mein Name ist Emine Laub, Kriminaloberkommissarin.« Sie hielt ihre Dienstmarke hoch. »Das ist mein Partner Albert Zeiler, Kriminalhauptkommissar. Wollen wir vielleicht reingehen?«, sagte Emine, und Albert war erstaunt, wie warm und einfühlsam ihre Stimme klang.
»Ja, ja. Das ist besser«, sagte Kamilla und wich zurück.
Emine und Albert folgten ihr durch einen weiten Flur, bis sie in dem Wohnzimmer des Hauses ankamen. Kamilla Fietz deutete mit einer Handbewegung auf das Sofa und setzte sich selbst in einen großen Sessel. Der Raum wirkte behaglich. Braunes Eichenholz, Laminatfußboden, grau-braune Dekoration und ein prasselnder Kaminofen, den Kamilla kurz vor ihrer Ankunft angefeuert haben musste.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Einen Kaffee oder einen Tee?«, fragte sie.
»Nein, vielen Dank«, lehnte Albert ab.
Emine schüttelte den Kopf.
»Haben Sie meinen Mann gefunden? Ich meine, seinen Leichnam?«
Albert machte eine kaum merkliche Körperbewegung, aber Emine wusste, dass er ihr damit verdeutlichen wollte, dass sie das Reden übernehmen sollte.
»Frau Fietz …«
»Bitte, nennen sie mich Kamilla.«
»In Ordnung. Kamilla, wir haben in der Tat einen Leichnam gefunden.«
»Was bedeutet das? Sie sind sich nicht sicher, ob es mein Mann ist?«
Emine nickte. »Ja, wir sind uns nicht sicher. Es deutet vieles drauf hin. Dennoch müssen wir unserer Spurensicherung und unserem Gerichtsmediziner ihre Arbeit machen lassen.«
»Ich verstehe nicht … Es ist doch noch nicht so lange her. Wieso können Sie nicht sagen, ob es mein Mann ist?«
Emine blickte sie mit viel Einfühlungsvermögen an, und Kamilla Fietz begriff, dass etwas nicht richtig war.
»Raus damit. Bitte schonen Sie mich nicht. Was ist meinem Mann passiert?«
»Okay. Die Wahrheit. Es ist auch besser, wenn Sie sie von uns hören. Der Körper Ihres Mannes wurde entstellt. Wir gehen davon aus, dass erst nach Eintritt des Todes Körperteile abgetrennt wurden.«
»O mein Gott«, entfuhr es Kamilla Fietz, und sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Entstellt, sagen Sie?«
»Ja. Wir können uns kaum vorstellen, wie Sie sich jetzt fühlen müssen. Unsere Ermittlungen laufen auf Hochtouren, das versichern wir Ihnen.«
»Wie sicher sind Sie, dass es Simon ist?«
»Hundert Prozent«, sagte Albert.
Emine blickte ihren Partner an und zog die Augenbrauen hoch.
»Sie sind sich nicht sicher?«, fragte Kamilla Emine.
Albert sagte: »Der Körper, den wir gefunden haben, gehört zu einem männlichen Weißen. Das Alter passt. Er trägt die Kleidung Ihres Mannes. Ich sage es Ihnen so deutlich, weil sie sich keine falschen Hoffnungen machen dürfen. Es ist so bereits schwer genug.«
Frau Fietz nickte. »Danke für Ihre Offenheit. Jedoch erschließt sich mir nicht, warum Sie nicht klar sagen können, ob es Simon ist, wenn Sie sich andererseits so sicher sind.«
»Der Kopf der Leiche fehlt. Sonst könnten wir es mit absoluter Sicherheit bestätigen, auch wenn mein Kollege sich bereits sicher ist. Und ich stimme ihm zu. Wir haben Ihren Mann gefunden. Wir möchten unsere Ermittlungen mit absoluter Sorgfalt durchführen. Hierzu benötigen wir einen DNA-Abgleich. Würden Sie uns eine Haarbürste oder die Zahnbürste Ihres Mannes mitgeben, die wir dem Labor überlassen können?«
»Warten Sie«, sagte Kamilla Fietz, stand auf und verschwand durch die Wohnzimmertür. Einen kurzen Moment später kam sie wieder herein und reichte ihnen einen Plastikbeutel. Darin lagen lange Haare, eine Zahnbürste und ein Kamm. »Mein Mann hatte viele Jahre lange Haare getragen. Eines Tages hatte er genug und ließ sie sich abschneiden. Er konnte sie nicht wegwerfen, also bewahrte er sie auf. Es war damals ein großer Schritt für ihn. Ich wollte immer, dass er es wegwirft. Aber er nicht. Wer weiß, wozu es vielleicht mal gut ist, hatte er immer wieder gesagt.« Kamilla Fietz schnaubte und weinte leise. »Entschuldigung.«
»Nein, nein, nicht doch«, meinte Emine ehrlich. »Jeder Mensch drückt seine Gefühle auf seine Art aus.« Sie wartete, bis sich Frau Fietz beruhigt hatte. »Wir gehen gleich und belästigen Sie nicht weiter. Frau Fietz, darf ich Ihnen vielleicht noch eine sehr persönliche Frage stellen?«
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte. »Nur zu.«
»Warum wollte Ihr Mann keine Kinder haben?«
Kamilla Fietz sah sie beide abwechselnd an. »Das war der Eindruck Ihrer Kollegen, richtig? Ich habe es da schon gespürt, dass man mir nicht glaubte, dass wir eine glückliche Ehe hatten. Doch die hatten wir.«
»Es tut mir leid, ich wollte nicht …«
»Nein, schon gut. Es ist nicht gänzlich unwahr, was Sie annehmen. Mein Mann war … Er war nie ein Fan davon, eines Tages mal Kinder in die Welt zu setzen. Er hat nie gern darüber geredet, und das musste er auch nicht. Eine Frau spürt so etwas. Wir haben uns mit Anfang dreißig kennengelernt. Wir verliebten uns, zogen zusammen, zogen in dieses Haus. Einmal sagte er mir, dass er nur mich als Familie bräuchte. Er hatte selbst keine guten Erfahrungen gemacht.« Sie öffnete eine Schublade unter dem Wohnzimmertisch und zog eine Serviette hervor, um ihre Augenlider abzutupfen, die durch verwaschene Wimperntusche verschmiert waren. »Ich versuchte zu ergründen, woher dieser Standpunkt seiner Lebenseinstellung rührte. Sie müssen wissen, ich kenne seine Familie nicht.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Albert. »Sie haben kein gutes Verhältnis zu seinen Eltern oder Geschwistern?«
Kamilla Fietz schüttelte den Kopf.
»Nein, nein. Ich weiß nicht mal, ob er Geschwister hat. Ich habe seine Eltern oder andere Familienmitglieder nie kennengelernt. Ich habe das akzeptiert. Sobald das Thema Familie auf den Tisch kam, wiegelte Simon ab. Er … Er wollte nie darüber sprechen. Ich denke, er wurde als Kind nicht gut behandelt. Vielleicht in ganz grausamer Hinsicht. Es war eine Art dunkles Kapitel in seinem Leben, das er ganz tief in seiner Seele vergraben hatte. Ich weiß, was Sie sich fragen. Und ja, es war merkwürdig. Freunde, Nachbarn, meine Familie. Sie alle wollten natürlich wissen, wer Simon eigentlich war und warum er keinen Kontakt zu seinen Angehörigen hatte. Er sprach nicht darüber, und man ließ ihn auch in Ruhe. Jeder spürte, dass er etwas durchgemacht haben musste. Es war okay und wir lebten unser Leben. Als ich mir irgendwann den Mut nahm und Simon eines Abends darauf ansprach, warum er keine größere Familie wollte, sagte er das erste Mal in unserer Ehe Folgendes: ›Ich weiß tief in mir drin, dass ich keine Kinder bekommen darf‹. Als ich nachbohrte, wiegelte er ab. Er wurde das erste Mal in unserer Ehe richtig wütend und laut. So habe ich ihn noch nie gesehen. Das war das letzte Mal, dass ich dieses Thema ansprach. Ich wollte immer Kinder haben, aber ich liebte meinen Mann mehr. Ich trat zurück und beugte mich seinem Wunsch. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass unsere Ehe ein Glücksfall für uns beide war. Wir liebten uns so sehr, wir hatten ein solch schönes Leben. Finanziell ging es uns gut, wir konnten all das tun, was Familien mit Kindern nicht machen konnten.« Sie tupfte sich wieder die Tränen aus ihrem Gesicht und legte eine Pause ein, um sich zu sammeln. »Ich weiß einfach nicht, wer meinem Mann so etwas antun könnte. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr sagen.«
Emines Handy vibrierte in ihrer Hosentasche, und sie zog es hervor. Dirk Sauer rief sie an. Schon das dritte Mal. Sie hatte es gar nicht bemerkt. Sie stand auf, entschuldigte sich und ging raus in den Flur.
»Danke, dass Sie so ehrlich zu uns waren. Jedes Detail ist wichtig«, sagte Albert.
»Glauben Sie, es war vielleicht jemand aus Simons Vergangenheit?«, fragte Kamilla Fietz.
»Das kann ich aktuell nicht beantworten. Es ist natürlich eine Möglichkeit. Vielleicht ist die Vergangenheit Ihres Mannes völlig unwichtig. Aber eins weiß ich ganz sicher. Meine Partnerin und ich werden nicht lockerlassen, bis wir dieses Verbrechen aufgeklärt haben.«
Emine kam in das Wohnzimmer gestürmt. »Albert, wir müssen gehen. Vielen Dank, Frau Fietz, dass Sie mit uns gesprochen haben.«
»Oh, aber natürlich. Wenn ich noch helfen kann, stehe ich natürlich zur Verfügung.«
Albert und Emine wurden von Kamilla Fietz zur Tür begleitet. Sie verabschiedeten sich und stiegen in ihr Auto.
»Was ist denn los? Warum hetzt du uns so aus dem Haus?«, fragte Albert.
»Dirk hat angerufen. Wir müssen umgehend ins Präsidium!«
»Wozu?«
»Es gibt ein neues Video. Eine Frau. Gefesselt auf einem Stuhl.«