Kapitel 17

Zwei Tage nach dem zweiten Mord saß Albert in seiner Wohnung an seinem Schreibtisch. Neben ihm stand ein Glas Rotwein, das er sich zum dritten Mal an diesem späten Nachmittag nachgefüllt hatte.

Ich trinke zu viel , dachte er und nahm einen Schluck. Aus dem Handy in seiner Hand ertönte ein Freizeichen, sogleich meldete sich seine Tochter.

»Hi! Wie geht es dir, Papa?«, fragte Marie.

Er beobachtete seine Tochter über seinen Computer. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, das als U ausgerichtet war, mit ihrem Handy in der Hand. Neben ihr saß ein Kerl. Der Kerl, dessen Kleidungsstücke Albert beim letzten Mal gesehen hatte, vermutete er. Er war groß, hatte zottelige Haare und wirkte – gegen Alberts Willen – irgendwie sympathisch. Der Fremde streichelte seiner Tochter zärtlich über das Knie.

»Bist du allein?«, fragte Albert.

»Natürlich bin ich allein. Wieso fragst du?«

Sie vertraute ihm nicht. Immer noch nicht. War er so ein schlechter Vater?

Ja, bin ich. »Nur so«, entgegnete er. »Und mir geht es den Umständen entsprechend.«

»Der Darknetkiller. Die Presse hat einen neuen Namen.«

»Richtig. Wir wissen noch nicht, wie wir ihn stoppen können. Nicht einmal, ob er allein agiert oder was er eigentlich genau will. Es ist kompliziert.«

»Ich habe es in der Zeitung gelesen. Die Videos streamt der Mörder über das Darknet. Nicht zurückverfolgbar. Ein paar Technikgenies an meiner Uni meinten, dass es tatsächlich unmöglich sei. Ihr könntet nur darauf spekulieren, dass der Mörder einen Fehler macht. Dass er vielleicht Spuren an dem ersten Opfer hinterlassen hat. Oder dass es Zeugen gibt.«

»Danke für das Briefing«, antwortete Albert etwas zu gereizt.

Der Kerl neben seiner Tochter strich ihr über die Wange, stand auf und ging in die Küche.

»Was gibt es heute bei euch zu essen?«

Albert raufte sich die Haare.

»Bei euch? Ich bin allein. Habe ich dir doch gesagt. Trinkst du wieder?«

»Sorry, ich meinte, vielleicht kommt ja noch eine Freundin vorbei oder so. Und nein, ich trinke nicht!« Er blickte mit einem schlechten Gewissen zu seinem Glas in der Hand.

»Ich merke es sofort, wenn du etwas getrunken hast. Aber hey, es ist dein Leben. Ich werfe dir nichts vor. Du bist ein freier Mensch.«

Das klang vorwurfsvoll. Mehr noch. Es klang so, wie Maries Mutter mit ihm geschimpft hatte, wenn er es verdient hatte. Sie kam ganz nach ihr. Er vermisste sie so schrecklich.

»Ich habe dich lieb, hörst du?«, sagte Albert und strich mit einem Finger über den Bildschirm seines Computers, so als könnte er tatsächlich ihre Haut berühren.

»Ich dich doch auch. Muss ich mir Sorgen machen? Ich meine, wegen des Falles. Musst ausgerechnet du wieder an so etwas arbeiten?«

»Du musst dir keine Sorgen machen. Zumindest nicht mehr als vorher. Ich passe auf mich auf. Wann kommst du mal wieder nach Hause?«

Der Bildschirm vor Albert flackerte kurz auf, als hätte er einen Wackelkontakt. Dann war wieder alles beim Alten. Die Kameras in der Wohnung seiner Tochter schienen langsam den Geist aufzugeben.

»Ich kann es noch nicht sagen. Ich habe drei Hausarbeiten zu schreiben, und zwei Klausuren stehen an. Natalie wird nächste Woche zweiundzwanzig, und ich habe noch kein Geschenk.«

»Ihr seid doch früher zusammen so gern auf Konzerte gegangen. Wie hieß die Gruppe noch? Kauf ihr doch eine Karte und geht zusammen wieder hin.«

»Als wir zwölf waren, Papa. Die Gruppe gibt es schon längst nicht mehr.«

»Verzeih mir, ich komme wohl mit der Zeit nicht mehr mit.«

Marie schwieg, und Albert beobachtete in ihrem Gesicht, dass sie sich nun doch etwas mehr Sorgen machte, als sie eigentlich sollte. Sie wusste, dass er bei ihr sentimental wurde, wenn er getrunken hatte. Albert wollte das Thema wechseln.

»Dein Zimmer hier steht für dich auf jeden Fall immer bereit. Und der Chinese neben meiner Wohnung hat eine neue Karte. Da müssen wir unbedingt mal wieder hin«, sagte er.

Der Kerl in Maries Wohnung kam ins Wohnzimmer zurück und hielt zwei dampfende Teller Spaghetti in den Händen.

»Ich muss Schluss machen, Papa. Der Schreibtisch ruft. Pass auf dich auf.«

Sie legte auf und warf ihr Handy auf den Wohnzimmertisch. Marie sagte etwas zu ihrem Freund, das wie eine halbe Entschuldigung aussah.

Zeit, abzuschalten.

Albert schaltete den Computer aus und sah auf das Glas Wein in seiner Hand. Er wollte einfach nur schlafen und das Leben um sich herum vergessen.

Er hatte keine Ahnung, dass der Albtraum jetzt erst richtig losging. Und plötzlich vibrierte sein Handy und zeigte ihm eine SMS von einer anonymen Nummer.

Morgen früh, 9.00 Uhr. Da bin ich bei Ihnen.

 

 

Emine stand vor dem Grab ihrer Mutter. Es war ein hübscher weißer Marmorstein mit goldenen Lettern. Das Grab war gepflegt, weil Emine einen Gärtner beauftragt hatte, sich darum zu kümmern. Dezente Sträucher und Blumen, keine losen Blätter im Sand, ein gesäuberter Weg aus Kies, zwei flackernde Totenlichter links und rechts. Von hier aus konnte sie direkt auf die Brücke am Bootshaus sehen, die über den Dortmund-Ems-Kanal führte. Ein Läufer und zwei Radfahrer überquerten diese soeben in entgegengesetzter Richtung. Vor dem Bootshaus saßen ein paar Jugendliche, rauchten, vermutlich Gras, und hörten Musik. Es war wie an jedem Tag.

»Hallo, Mama«, sprach Emine zu der Ruhestätte und stellte ein Strauß Blumen, den sie bei einer Gärtnerei gekauft hatte, in die dafür vorgesehene Vase. »Wie geht es dir heute?«

Wind wehte durch die Kronen der anliegenden Buchen, und Blätter fielen wie in Zeitlupe zu Boden.

»Bei mir hat sich einiges getan. Wie du weißt, habe ich mich versetzen lassen. Ich bin jetzt hier in Lingen. Wieder zu Hause. In deiner Nähe. Es hilft mir, damit fertig zu werden, dass du nicht mehr da bist. Wobei ich damit vermutlich niemals zurechtkommen werde. Ich wünschte, du wärst hier. Dass ich dich noch einmal in die Arme schließen könnte. Du fehlst mir so sehr.« Sie wischte sich eine Träne aus den Augen. »Ich habe einen neuen Partner. Keine Ahnung, ob wir gut zusammenpassen. Ich glaube, er hasst mich. Zu Anfang zumindest. Jetzt mag er mich einfach aus Prinzip nicht oder verbirgt es mit Bravour. Er hasst offensichtlich erst einmal jeden Menschen, den er nicht kennt. Ich kann es sogar ein kleines bisschen verstehen. Er hat seine Frau verloren. Vielleicht hast du sie ja bereits kennengelernt und ihr lacht gerade über uns.«

Was mache ich hier ?, dachte sie. Sie war nie wirklich gläubig gewesen. Und jetzt sprach sie mit einem Stein. Verrückterweise tat es irgendwo in ihrem Innern gut. Ein paar der Blätter wehten auf das Grab.

»Ja, du hast vermutlich recht. Er hat viel durchgemacht. Er ist allein, fast gebrochen und vermisst seine Frau. So wie ich dich vermisse. Jeder Mensch geht anders mit seiner Trauer um. Und es wird langsam besser. Vielleicht sollte alles genau so kommen. Ich wünschte dennoch, unser Leben wäre anders verlaufen. Dein Leben wäre anders verlaufen.«

Emine spürte, wie ihr Handy in ihrer Hosentasche warm wurde. Sie hasste das. Vermutlich hatte sie ihr GPS nicht ausgeschaltet, nachdem sie am Morgen joggen gewesen war.

»Ich würde so gern einen Rat von dir bekommen. Du hast dein Leben lang gekämpft und Hürden überwunden. Ich meine, du hast mich bekommen«, flüsterte Emine lächelnd. »Du hast so viel durchgemacht. Du wüsstest genau, wie ich mich verhalten sollte. Du würdest …« Sie hielt mitten im Satz an.

Sie wurde beobachtet!

Emine spürte es. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, und ganz langsam drehte sie sich um die halbe Achse. Sie tat so, als würde sie am Rande des Grabes ihrer Mutter etwas aufheben. Dabei blickte sie über ihre Schulter nach rechts und erstarrte.

Da stand ein Mann.

Etwa hundert Meter weit weg. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er den Kragen seiner Jacke hochgestellt und seinen Kopf eingezogen hatte. Diese Körperhaltung … Das konnte unmöglich sein! Emine richtete sich auf und drehte sich vollends um. Der Mann, der sie ganz sicher beobachtet hatte, wandte sich ab und ging davon. Emine öffnete das Holster ihrer Dienstwaffe und legte ihre rechte Hand an den Griff ihrer P2000 von Heckler und Koch. Eine fantastische Pistole, für ihr Befinden nur etwas zu schwer. Privat besaß sie eine Glock 17, die etwa hundert Gramm weniger wog als ihre Dienstwaffe. Besseres Handling, höhere Genauigkeit.

Sie ging dem Mann hinterher, als schlagartig ihr Handy in der Hosentasche wieder warm wurde. Es vibrierte kurz. Emine zog es heraus und sah, dass sie eine SMS erhalten hatte.

Morgen früh um 9.00 Uhr bei deinem Partner.

 

Der Absender hatte keinen Namen hinterlassen. Die Nummer, von der sie gekommen war, bestand lediglich aus mehreren X. Sie blickte wieder hoch. Der Mann, der sie beobachtet hatte, war verschwunden.