Kapitel 18

Monate waren vergangen, seitdem Erik Amira hier eingesperrt hatte. Das wusste sie nur, weil sie einen physikalischen Beweis hatte. In Wahrheit waren ihr die Monate wie Jahre vorgekommen. Als Erik das Verlies betrat, hielt sie ihre Arme um ihren Bauch geschlungen. Er war kugelrund, größer als Nasrins, als sie schwanger gewesen war. Das Deckenlicht leuchtete grün.

»Verzieh dich!«, presste Amira zwischen ihren Zähnen hervor, konnte jedoch nicht verbergen, dass es so weit war.

Erik hielt einen Eimer mit warmem Wasser am Griff und einen Korb in der anderen Hand. Er deutete auf die Handtücher, die Blutkonserven, die er Amira Wochen zuvor abgezapft und gelagert hatte, die Schmerzmittel und Antibiotika.

»Das werden wir brauchen.«

»Es gibt kein Wir! Lass sie frei und bring sie ins Krankenhaus!«, schrie Nasrin über das Stöhnen von Amira hinweg, deren Wehen nun alle zwei bis drei Minuten einsetzten.

Erik lächelte knapp. »Du irrst dich.«

Er schritt auf die beiden Frauen zu, die an ihren Füßen mit Ketten gefesselt auf Amiras Matratze saßen.

»Geh bitte zur Seite«, sagte Erik und meinte damit Nasrin. Sie zögerte eine Sekunde, gehorchte letzten Endes, als er drohend seine Hand hob.

»Ich hab gesagt …«, setzte seine hochschwangere Gästin an.

»Ich habe gehört, was du gesagt hast. Wenn du nicht verbluten oder unendliche Schmerzen durchmachen willst, wirst du dir wohl von mir helfen lassen müssen.« Er hob erneut die Hand, weil Amira zu einer weiteren Antwort ansetzte. »Denk auch an das Ungeborene. Es könnte sterben. Du magst mich vielleicht hassen, aber hasst du auch dein Kind?«

Sie schwieg und presste die Lippen vor Schmerz zusammen.

»Gut. Jetzt lass mich dir helfen.«

Erik hatte sich damals vor der ersten Geburt, die er mit Nasrin durchgeführt hatte, in Büchern darüber schlaugemacht, wie er als Laie von Nutzen sein konnte. Dieses Wissen konnte er nun auch heute bei Amira anwenden, und er war zuversichtlich, dass es ihm auch wieder gelang. Er stellte fest, dass der Blasensprung bereits vollzogen war. Nicht wie in Filmen, wo das Fruchtwasser wie aus einem kippenden Eimer auf den Boden platschte. Er bemerkte einen kontinuierlichen, geringen Fluss. Der Muttermund war wahrscheinlich geweitet, und wenn sich Erik richtig erinnerte, war es fast an der Zeit, mit Presswehen das Ungeborene zum Beckengang zu geleiten.

»Noch nicht pressen.«

Er eilte aus dem Raum und kehrte mit einem tragbaren Ultraschallgerät wieder zurück. Aus einer Tube ließ er Gel auf Amiras Bauch tropfen und führte den Schallkopf über ihre Haut.

»Hmmm …«, machte er.

»Was soll das heißen? Was ist los?«, presste sie schmerzhaft hervor.

»Es könnte sein, dass sich die Nabelschnur um den Hals des Kindes gelegt hat. Wir haben keine Wahl! Du musst jetzt pressen! Wir müssen es herausholen.«

»Was? Nein! Nein! Bring mich ins Krankenhaus! Sofort!« Amira versuchte aufzustehen.

Doch Erik hielt sie zurück. Er hatte damit gerechnet, dass sie Probleme machen würde, und holte eine kleine Lachgaskartusche mit Maske aus seinem Korb. Erik hatte gelesen, dass Lachgas das beste Narkosemittel für gebärende Frauen war. Der Vorteil bestand darin, dass es nicht in den Kreislauf der Frau – und damit auch nicht in den des Kindes – gelangte. Auch wenn das für ihn eigentlich keine Rolle spielte. Wichtig war nur, Amira ruhigzustellen. Er hatte seinen Entschluss schon lange gefasst, wie er mit der Situation umgehen würde. Genauso wie er auch mit dem Neugeborenen von damals vorgegangen war.

Amira wehrte sich, aber die Schmerzen der Wehen ließen ihr keine Chance, Eriks Betäubung zu entgehen. Nach wenigen Atemzügen fiel sie zurück auf ihre Matratze und wurde benommen.

Die Geburt also solche verlief anschließend ohne weitere Komplikationen. Ohne Amiras Wehrhaftigkeit war alles wesentlich einfacher.

Sie brachte einen Jungen auf die Welt. Erik legte das Neugeborene zur Seite und injizierte der Mutter ein Mittel, das weitere Blutungen verhindern würde und mit Antibiotika versetzt war, um Infektionen zu vermeiden. Zudem legte er ihr einen Zugang, um sie mit ihrem eigenen Blut zu versorgen. Nach Eriks Einschätzung hatte sie nicht lebensbedrohlich viel Blut verloren, doch sicher war sicher.

»Wie geht es dem Kleinen?«, fragte Nasrin, die als stumme Beobachterin auf ihrem Platz zusammengesunken war. Zu tief saß ihr Schock. Zu tief war sie erschüttert, um die Situation vollkommen zu begreifen. Und noch schlimmer; zu tief war ihre Angst vor dem, was auf sie noch zukommen würde. Sie spürte das neue Leben in sich und wollte nicht wahrhaben, dass sie es wie Amira in dieser Umgebung austragen sollte. Nicht schon wieder …

»Nicht gut«, sagte Erik. »Ich werde ihn oben weiter untersuchen.«

Er nahm das Kind und verließ erneut den Raum. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe ihr Peiniger zurückkehrte – ohne das Baby. Dieses Mal hatte er Waschmittel und Putzzeug dabei.

»Mach hier sauber und säubere auch sie. Sei gut zu ihr. Sie wird dich brauchen.« Dann drehte er sich um und ging.

Nasrin hatte es schon vorher gewusst, aber als sie das normale und übliche Schreien eines Säuglings durch die schwere Tür vernahm, war sie sich sicher, dass Erik sie belogen hatte.

Dem Kind hatte nichts gefehlt. Es war kerngesund zur Welt gekommen.

Genauso wie auch ihr Kind damals gelebt hatte und gesund gewesen war, bevor er es von hier fortgebracht hatte.

 

Das Grab des neugeborenen Jungen befand sich unter einer breiten Tanne. Genau neben dem Grab seiner Halbschwester …

Erik klopfte mit der Spatenkelle die restliche Erde fest und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er trank einen Schluck aus der Wasserflasche, die er sich mitgenommen hatte, und begutachtete die zwei Erdhaufen vor sich. Der eine schon älter, bewachsen mit Unkraut und durch die Zeit etwas abgeflacht. Der andere frisch, mit lockerer Erde und dunkler, weil die Oberfläche von feuchtem Sand aus dem Untergrund bedeckt war.

Erik war zufrieden mit seiner Arbeit, nickte sich unbewusst selbst zu und wollte sich auf den Rückweg machen.

Plötzlich verspürte er einen Schreck, der sich über seinen gesamten Körper ausbreitete und seine Nackenhaare aufrichtete.

»Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«

Es war eine Stimme, die Erik nicht kannte. Er drehte sich langsam auf dem Absatz um und versuchte so, die zwei Grabstätten zu verbergen. Doch der Spaten in seiner Hand sprach eine klare Sprache.

»Hallo«, sagte Erik und blickte einem Mann ins Gesicht.

Einem Mann, der ein Gewehr mit sich führte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, wiederholte der Fremde.

Augenscheinlich war er Jäger. Er trug olivgrüne Kleidung und einen Filzhut mit der Feder eines Rebhuhns. Abgewinkelt an seinem Arm hing ein Repetiergewehr mit Zielfernrohr. Geeignet, um Wildschweine und Damwild zu erlegen. Oder auch einen Menschen.

»Nein, ich habe nach Pilzen gesucht. Dennoch danke der Nachfrage«, entgegnete Erik und lächelte breit – er stand immer noch vor den Gräbern positioniert.

»Ah, Pilze. Mit einem Spaten? Die meisten befinden sich an der Oberfläche«, sagte der Jäger skeptisch. »Wissen Sie, dass dies hier Privatbesitz ist?«

Natürlich wusste Erik das. Der Waldabschnitt, in dem sie sich befanden, gehörte einem ansässigen Bauern, der zuletzt vor zwanzig Jahren durch diese Wälder geschritten war – bevor ihn ein Schlaganfall an einen Rollstuhl gefesselt hatte.

»Ja, ich weiß, wem das Gebiet hier gehört. Sie auch?«

Der Jäger wirkte verärgert. »Ja, ich auch. Ich habe mit dem Grundbesitzer vor Jahren eine Abmachung getroffen. Jedes Jahr zur selben Zeit jage ich hier Wildschweine. Die zerpflügen die Äcker und Felder. Nicht nur die von einem Bauern, sondern von allen in der Region. Kosten also Geld. Und überall stehen Schilder, dass man hier nicht herkommen darf. Ich hätte Sie erschießen können. Warum zum Teufel tragen Sie keine Warnweste? Wenn Sie hier schon Pilze sammeln wollen?«

»Und heute hat der Besitzer Sie wieder hergeschickt?«, wollte Erik wissen.

»Sie hören nicht zu. Ich habe eine Vereinbarung mit ihm. Vor Jahren geschlossen. Ich muss hier mit niemandem mehr was absprechen.«

»Und Sie jagen allein? Ist das üblich bei einer Wildschweinjagd?«, bohrte Erik nach.

»Ja, allein. Das hier ist kein Treibjagdgebiet, wo viele Jäger …«

Erik schwang urplötzlich den Spaten und schlug dem Jäger die Kelle an den Kopf. Der Mann fiel bewusstlos wie ein gefällter Baum zur Seite. Aus einer riesigen Wunde sickerte Blut, und der Körper des Jägers zuckte unnatürlich.

Dann schlug Erik noch dreimal zu.

Einmal mit der flachen Seite, zweimal mit der scharfen Kante seines Spatens.

Der Jäger zuckte nicht mehr.

Erik stand wie angewurzelt da. Schockiert blickte er auf seine Hände. Wie konnte er so die Kontrolle verlieren? Neugeborene zu beseitigen – darauf hatte er sich lange vorbereitet. Immer wieder war er durchgegangen, wie er es anstellen würde, falls es dazu kommen sollte. Aber einen Menschen? Einen echten Menschen? Das war etwas anderes. Es schockierte ihn.

»Reiß dich zusammen! Werde wieder Herr der Lage!«

Erik durchsuchte die Taschen des Jägers. Er fand lose Munition, einen Flachmann mit billigem Bourbon und einen Autoschlüssel. Dann hob er unter enormer Kraftanstrengung, weil der Schock ihn lähmte, ein drittes Grab aus. Er schwitzte, und zwei Stellen seiner Hand warfen Blasen, weil der raue Holzstiel über seine Haut rieb. Das Grab war viel tiefer als die beiden anderen. Zufrieden mit dem Ergebnis, warf er den leblosen Körper in das frische Loch und schüttete es wieder zu. Nachdem Erik erneut mit seiner Arbeit zufrieden war, lief er in die Richtung, aus der der Fremde gekommen war. Es dauerte nicht lange, da hatte er einen Ford mit Ladefläche auf einem Waldweg, direkt unter einem Hochsitz, gefunden. Auf der Ladefläche lag nicht viel, außer ein paar Spanngurte, die einen erfolgreichen Abschuss hätten sichern sollen. Er stieg in den Wagen, ließ den Motor an und fuhr etwa einen Kilometer tiefer in den Wald hinein. Auf der linken Seite tauchte sein Ziel auf. Eine Mischung aus Tümpel und See. Die Wasseroberfläche war zur Hälfte mit grünen Algenblüten bedeckt. Lediglich eine Entenfamilie war Zeuge, als er aus dem Wagen stieg, den Gang löste, den Ford anschob und ins Wasser rollen ließ. Wenige Minuten später war von dem Wagen nichts mehr zu sehen. Als hätte es niemals einen Jäger gegeben, der Erik im Wald überrascht hatte.

Eine wichtige Lehre zog Erik aus dieser unglücklichen Situation, die er souverän gelöst hatte: So etwas durfte nie wieder passieren.