Emine kam zehn Minuten später als Albert bei dem ausgemachten Treffpunkt an.
»Du hast also auch eine Nachricht erhalten, ja?«, fragte Albert und goss sich ein Weizenbier ein. Die Kellnerin hatte er vorab mit einem ordentlichen Trinkgeld bezahlt.
Er war direkt in die Stadt gegangen, nachdem Emine ihn angerufen hatte. Sie wollten sich im Koschinski treffen, eine Kneipe, die Albert schon viel zu oft besucht hatte. Hauptaugenmerk war ein breiter Tresen, der sich über Eck durch den halben Raum zog. Davor standen bequeme beige Hocker. Der Boden war teils gefliest und durch einen Absatz teils mit Holz ausgelegt. Hier wurde auch gern mal getanzt, wenn die Stimmung passte. Die Wände waren mit unruhigen Retrotapeten versehen, was Albert sehr gefiel. In der Ecke am Eingangsbereich traten oft örtliche Bands auf, direkt unter einem Bild von Mr Spock. Es erinnerte ihn an eine alte Bar aus seiner Jugend, die es schon lange nicht mehr gab. Der Laden war manchmal so voll, dass man es kaum zur Theke oder zu den Toiletten schaffte. Oft fragte er sich, wie wohl das Notfallkonzept aussah, wenn hier eine Panik ausbrach. Vielleicht aufgrund eines Feuers. Er wollte es zumindest nicht in der Praxis testen müssen. Jetzt war es hier ruhiger. An den Tischen saßen vereinzelt Gäste, die Karten spielten, Getränke zu sich nahmen oder allein gedankenversunken vor sich hin stierten. Auf einem der vielen Bildschirme lief ein Dartspiel, weswegen manchmal Gäste jubelten, wenn ein Pfeil das Ziel traf. Emine und Albert hatten sich an der hinteren Wand einen Tisch mit Sitzbank organisiert. Emine bestellte sich ein Glas Weißwein, ehe sie auf seine Frage einging.
»Ich war auf dem Friedhof. Meine Ma besuchen … Du weißt schon. Dann …«
»Ja?«, forderte er sie auf weiterzusprechen.
»Ich wurde beobachtet.«
Schaum lief am Glas seines Bieres hinab und saugte sich in den Untersetzer.
»Du wurdest beobachtet?«
»Ich bin mir sicher, ja.«
»Von wem? Glaubst du, es war derselbe, der uns beide kontaktiert hat?«
»Ich bin mir sicher, dass er nicht der Unbekannte ist, der uns in deine Wohnung bestellt hat«, sagte sie und blickte abwesend in ihr Weinglas.
»Ach ja? Und wer war es dann?«
Ehe sie antworten konnte, kam ein junger Mann an ihren Tisch, den Albert noch nie gesehen hatte. Er war größer als Albert, bestimmt an die zwei Meter.
»Können wir dir helfen?«, fragte er den Neuankömmling.
»Ist sie deine Tochter?«, raunzte der Mann angetrunken.
»Haben wir mal zusammen Fußball gespielt?«, stellte Albert eine Gegenfrage.
»Was?«, lallte der Kerl.
»Oder warum duzt du mich?«
Albert funkelte den jungen Kerl an, der ein Stück zurückwich, aber offensichtlich neuen Mut fand, um sie weiter zu belästigen.
»Was geht dich das an, wenn ich fragen darf?«, mischte sich Emine nun ein.
»Falls er nicht dein Pa ist, glaube ich nicht, dass es ein Date ist. Und deswegen«, sein Satz wurde durch einen Hickser unterbrochen, wobei etwas Schleim aus seiner Nase lief, »wollte ich dich fragen, ob du nicht lieber zu uns jüngeren Männern rüberkommen willst.«
Er deutete mit einem Kopfnicken zu einem Tisch am Eingangsbereich. Da saßen drei weitere Kerle auf Stühlen. Einer schlief mit dem Gesicht auf dem Tisch, die anderen zwei prosteten ihnen mit erhobenen Biergläsern zu.
»Nein danke. Nicht einmal in tausend Jahren. Ich stehe nicht auf versoffene Machos«, sagte Emine kühl und wandte sich demonstrativ ab.
»Schlampe«, entgegnete der Typ nur noch und ging zurück zu seinen Freunden.
Albert stand auf, aber sie hielt ihn am Arm fest. »Nicht. Der ist es nicht wert.«
Kurzes Zögern, aber dann setzte er sich wieder hin. Emine musterte ihren Partner. Sie kannten sich erst seit wenigen Tagen. Dennoch war sie eine Achterbahn der Gefühle gefahren, was Albert anging. Vorfreude, mit einem so erfahrenen Kollegen arbeiten zu dürfen, Enttäuschung und Ablehnung, als er sich als Arschloch in dem Restaurant präsentiert hatte, Mitleid und Verständnis – und tiefste Neugier –, als er das Schicksal seiner Frau angedeutet und über den Feuerteufel gesprochen hatte, Sympathien, als Emine von seiner Tochter erfahren hatte, und jetzt … Ja, jetzt Zuneigung, nachdem Albert diesen betrunkenen Mistkerl nicht davonkommen lassen wollte, nachdem dieser sie beleidigt hatte, auch wenn sie sich natürlich selbst zu helfen wusste. Er war ein außergewöhnlicher Charakter. Stark, aber verletzt. Klug, aber verbittert. Alkohol würde sein ständiger Begleiter werden, wenn er nicht aufpasste. Sie ärgerte sich, dass sie einen Wein bestellt hatte. Sie musste sich mehr positionieren und … Ja, was eigentlich? Sie war nicht seine Mutter. Sie könnte auch seine Tochter sein. Stand ihr es überhaupt zu, ihn zu kritisieren? Manche Menschen tranken ein Leben lang, ohne dass sie abhängig wurden. Vielleicht gehörte Albert dazu.
»Gehen wir unseren Plan noch einmal durch«, sagte Albert. »Tarek und Dirk werden mit Kollegen vom Streifendienst verdeckt im Hintergrund bleiben. Mein Mietshaus wird überwacht, und ich werde bei meiner Nachbarin gegenüber warten. Kann ja sein, dass er eine Bombe durch das Fenster wirft. Wer auch immer uns die Nachricht geschickt hat, kennt sich offensichtlich sehr gut mit Technik aus. Alex meint, dass dein und mein Handy von einem gewieften Hacker geknackt wurden. Der Mörder von Simon Fietz und der noch fremden Frau benutzt das Darknet als Deckung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies eine Falle sein könnte.«
Emine stellte sich gerade vor, wie die beiden in Alberts Wohnung warteten und ein Irrer versuchte, die leitenden Ermittler der Soko zu ermorden.
»Durch eine Kamera kann ich sehen, was sich vor dem Haus abspielt. Du wartest in deinem Auto, und wir alle bleiben über Funk in Kontakt. Soweit alles verstanden?«
»Ja, verstanden. Nur passt hier einfach etwas nicht. Ich kann nicht glauben, dass der Darknetkiller jetzt einfach auftaucht und sich verhaften lässt. Das wäre doch paradox. Warum zweimal morden, auf eine Art und Weise, die ihn nicht auffindbar macht, und plötzlich kommt er einfach so zur Tür rein?«
Albert zuckte mit den Schultern. Er trank sein Weizen leer und rief die Kellnerin.
»Keine Ahnung. Wer weiß schon, was das für ein krankes Hirn ist? Mag ja sein, dass er sich als Apostel ausgibt und einem höheren Sinn folgt. Was weiß ich? Wie viele kranke Menschen haben wir schon hinter Schloss und Riegel gebracht? Ich habe aufgegeben, Sinn und Erklärungen in Taten zu suchen. Vielleicht eine tödliche Krankheit und er will die Welt nur brennen sehen? Spielt keine Rolle. Hauptsache, wir sind vorbereitet.«
Emine trank ihren Wein aus und holte ihr Portemonnaie aus ihrer Jackentasche.
»Lass es sein. Ich lade dich ein«, sagte Albert, und ein kleines Lächeln flog ihm über die Lippen.
»Du hast schon den Kuchen …«
»Lass es sein.«
»Okay. Danke.« Sie legte das Portemonnaie auf die Sitzfläche des Stuhls neben sich.
»Wer, glaubst du, war also der Mann auf dem Friedhof?«, bohrte er noch einmal nach, während er der Bedienung Platz machte, damit sie abräumen konnte.
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht sehe ich Gespenster«, log sie.
Kurz darauf verließen sie das Lokal und liefen ein Stück zusammen, bis sie Emines Fahrrad erreicht hatten. Beide zogen sich die Reißverschlüsse ihrer Jacken fester zu, weil es ziemlich kalt geworden war.
»Gespenster, ja? Geht es dir gut?«
»Ja, passt schon. Ich hätte nicht mit einem derartigen Kracher von Fall gerechnet, nachdem ich nach Lingen gewechselt war. Du weißt schon – einfach die Kollegen kennenlernen, Geschwindigkeitsüberschreitungen, ein bisschen Gras bei einem Jugendlichen im Rucksack finden. So etwas halt. Letztlich kann ich es mir wohl nicht aussuchen.«
»Stimmt, kannst du nicht«, sagte Albert.
Emine klopfte ihre Jackentaschen ab und seufzte. »Scheiße. Ich habe mein Portemonnaie vergessen. Soll ich dir nicht lieber ein Taxi rufen?«
Albert schüttelte den Kopf. »Schon gut. Ich komm schon die paar Hundert Schritte nach Hause. Oder soll ich dir suchen helfen?«
Sie winkte ab. »Es wird noch auf unserem Tisch liegen oder die Bedienung hat es bereits eingesammelt. Bis morgen!«
Sie rannte in Richtung Kneipe zurück und verschwand um eine Ecke. Es dauerte nur einen kurzen Moment, da hatte Emine die Tür vom Koschinski erreicht. Sie riss sie auf und steuerte auf den Tisch des Betrunkenen zu. Emine warf der Besitzerin des Ladens einen vielsagenden Blick zu, den diese mit einem Nicken kurz erwiderte, um sich wieder dem Abwaschen von Gläsern zuzuwenden. Der Trottel, der sie vorhin angemacht hatte, stand mit dem Rücken zu ihr und hielt drei neue Gläser Bier in den Händen. Für den vierten, der immer noch schlief, hatte er offensichtlich keines mehr eingeplant. Emine trat dem Jungen mit einem herzhaften Tritt die Beine weg. Die Gläser knallten scheppernd zu Boden.
»Sitzen bleiben!«, bellte sie den beiden anderen Kerlen vor den Latz und zückte ihre Dienstmarke. Hierbei blitzte auch die Pistole an ihrer Jeans auf. Sie schnappte sich den jungen Kerl, der sich bedröppelt hochzustemmen versuchte, packte ihn im Nacken und zog ihn auf die Herrentoilette. Dort angekommen, versuchte er sich aus dem Griff von Emine zu befreien, aber sie gab ihm einen erneuten Tritt in die Kniekehle und stieß ihn weiter, sodass er kopfüber in eine der Toilettenkabinen taumelte.
»Du blöde Hu…«
Er konnte seinen Satz nicht beenden, weil Emine ihm mit der flachen Hand eine schallende Ohrfeige verpasste. Mit dem Fuß hob sie den Klodeckel an und setzte den Mann kinderleicht in die Schüssel. Er war so betrunken, dass er sich trotz seiner Größe kaum wehren konnte. Seine braune Hose sog sich mit dem nicht ganz klaren Wasser aus der Schüssel voll, und er fing an zu schreien.
»Ich hau dir …« Patsch.
Eine Backpfeife auf die andere Wange.
»Wenn ich …« Patsch.
»Du dumme …« Patsch.
Mit einem Fuß drückte ihn Emine tiefer ins Klo. Schließlich sagte der Kerl nichts mehr.
»Also, geht doch. Du hast die Regeln kapiert. Wirst du jemals wieder eine Frau beleidigen?«
»Nein«, antwortete er kleinlaut und versuchte sich aufzurichten.
»Ah, ah! Noch nicht.«
Emine griff nach der Geldbörse, die dem jungen Kerl aus der vorderen Hosentasche lugte. Sie zog den Ausweis heraus und sah auf den Namen. »Ich habe deinen Namen und deine Adresse. Ich werde dich beobachten, kapiert?«
Der junge Kerl nickte.
»Wirst du je wieder so unfreundlich sein?«
Der junge Kerl schüttelte den Kopf.
»Hab ich dich in die Toilettenschüssel gedrückt?«
Der junge Kerl schüttelte den Kopf.
»Hab ich dir Backpfeifen verpasst?«
Wieder Kopfschütteln.
»Ich beobachte dich, ja?«
Der junge Kerl nickte.
»Fein. Dann bezahl jetzt dein Bier und verpiss dich, kapiert?«
Erneutes Nicken.
»Und wechsle mal deine Hose. Du hast einen nassen Hintern.«
Emine nahm einen Zehner aus seiner Geldbörse und warf sie ihm in den Schoß. Sodann verließ sie die Toilette, legte das Geld auf den Tresen und formte mit den Lippen »Für die kaputten Gläser«. Sie warf der Besitzerin des Ladens erneut einen vielsagenden Blick zu, die den mit einem Nicken kurz erwiderte, um sich weiterhin dem Abwaschen von Gläsern zuzuwenden. Sie angelte sich ihr absichtlich liegen gelassenes Portemonnaie von der Sitzfläche des Stuhls und ging zur Tür hinaus.
Albert beobachtete grinsend aus einer dunklen Gasse heraus, wie Emine mit dem Fahrrad davonfuhr. Kurz darauf traten die betrunkenen Kerle aus dem Lokal. Einer von ihnen hatte eine verdammt nasse Hose.