Kapitel 20

Nasrin saß auf der Matratze von Amira und streichelte ihren Kopf.

»Schon gut. Es wird ihm jetzt besser gehen. Überall ist es besser als hier unten.«

Amira schluchzte und hielt sich ihre Hände vor die tränenden Augen. Noch nie hatte sie solch einen furchtbaren Schmerz in sich gefühlt. Es war ihr nicht klar gewesen, dass sich ihre Lage noch einmal deutlich verschlimmern konnte. Monate waren vergangen, während sie hier unten mit ihrer neuen Freundin gefangen gehalten wurde. Sie hatte es sofort gewusst, aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie es auch optisch nicht mehr abstreiten konnte. Ihre Periode war ausgeblieben, und ihre Stimmung wechselte zwischen Euphorie und tiefster Depression. Ihr wurde schlecht, sie musste brechen, dann hatte sie so viel Hunger, dass sie einfach nicht satt wurde, egal wie viel Essen ihr Peiniger ihnen brachte. Erik hatte sich ab und an zu ihnen gesellt. Er hatte mit ihnen gesprochen, mit ihnen gegessen und sogar Brettspiele gespielt. Am Anfang hatte Amira ihn jedes Mal angefleht, sie beide laufen zu lassen. Sie würden nicht zur Polizei gehen. Sie wussten ja nicht einmal genau, wo sie überhaupt waren. Doch sobald sie dieses Thema auch nur angerissen hatte, stand Erik wortlos auf und verließ ihre Welt, die hinter dem Vorhang und der Tür endete. Kurze Zeit später schaltete sich das rote Deckenlicht ein, und Nasrin musste dafür büßen, dass Amira Ungehorsam an den Tag gelegt hatte. Sie lernte diesen Umstand nach wenigen Malen und versuchte sich stattdessen bei ihm anzubiedern. Nach Wochen der Umgarnung, der Schmeicheleien und Annäherungsversuche ging Amira irgendwann die Kraft aus. Sie hatte versucht, Erik mit ihrer Fußkette zu erwürgen, als er ihr den Rücken zugewandt hatte. Doch sie war zu schwach gewesen, und er hatte sie mühelos abgeschüttelt. Das rote Licht war eingeschaltet worden, und beide wurden bestraft. Tagelang …

Sie durften sich nicht waschen, es gab nur Brot und Wasser mit Vitamintabletten, und während der Schlafenszeit brüllte jede volle Stunde für einige Minuten laute Musik aus einer Box, die Erik in ihr Verlies gestellt hatte. Sie waren kraftlos, apathisch und gebrochen, als die Bestrafung endlich endete. Amira dachte zwischendurch, sie würde das Kind verlieren, das in ihr heranwuchs. Sosehr sie es auch zu hassen versuchte, sie konnte ihre Muttergefühle nicht betäuben. Diese kleine Seele konnte nichts dafür, in der Hölle geboren zu werden. Wie könnte sie das Kind hassen, wenn es doch vielleicht das Beste war, was von diesem Albtraum übrig bleiben würde? Und dann war es endlich an der Zeit gewesen. Doch Amira hatte ihr Kind niemals zu Gesicht bekommen …

Wochen vergingen, bis Erik wieder mit ihnen sprach. Er brachte Pancakes mit und reichte Amira strahlend einen Teller voll davon. Sie waren saftig und mit Sirup übergossen.

»Alles Gute zu deinem ersten Geburtstag, meine liebe Amira«, hatte er gesagt.

Ihr Geburtstag. So lange war sie schon hier unten eingesperrt. Das Wort Schock reichte nicht aus, um ihre Gefühlslage zu beschreiben. Würde man noch nach ihr suchen? Vermutlich nicht. Nasrin war noch viel länger hier unten eingepfercht, und es war niemand gekommen. Sie aß ihre Pancakes und strich sich über ihren Bauch. Auch Erik fasste ihn an und nickte.

»Du wirst dich erholen, und eines Tages wird es wieder wie neu sein«, sagte Erik.

»War mein Kind wirklich tot?«, wollte Amira wissen. Erik ging nicht mehr auf diese Frage ein.

»Vielleicht wirst du wieder schwanger werden. Wer weiß? Nasrin ist es bereits wieder, und sie hat schon eine Geburt hinter sich. Ein Mädchen. Leider eine Totgeburt. Das liegt sicher an den Umständen hier unten. Nicht ideal, versteht ihr? Aber was bleibt uns anderes übrig. Na ja, reden wir über etwas anderes.«

»Was passiert mit zukünftigen Kindern? Was passiert, wenn ich erneut schwanger werde?«, hatte Amira später mal gefragt.

Erik hatte sie ausdruckslos gemustert.

»Wenn sie überleben, werden sie eine Zukunft haben«, hatte er geantwortet.

»Was soll das heißen?«

»Das, was es heißt. Sie werden eine Zukunft haben. Und jetzt ist Schluss!«

Auf weitere Fragen hatte er sich nicht mehr eingelassen.

Erneut verging die Zeit so langsam, als würde man ein Stundenglas dabei beobachten, wie der Sand durch die Verengung rieselte, und bei Nasrin waren die Anzeichen ihrer erneuten Schwangerschaft zu sehen. Sie hatte Amira von ihrer Tochter erzählt, die angeblich als Totgeburt auf die Welt gekommen war. Nasrin selbst konnte es nicht mit Sicherheit sagen, weil sie damals auch betäubt gewesen war. Sie hatte nur auf das Wort von Erik vertrauen können. Doch eines Abends, als Nasrin und Amira auf ihren Matratzen lagen und die Decke anstarrten, erzählte Nasrin davon, wie sie den Säugling von Amira hatte schreien hören, auch noch danach, als Erik ihn mitgenommen hatte. Und das die Geschichte mit der Nabelschnur deshalb unmöglich stimmen könne. Dass es ihr leidtat, ihr erst jetzt die Wahrheit gesagt zu haben. Amira selbst war von sich überrascht. Zwar hatte sie es irgendwie in ihrem Innern gewusst, dass Eriks Geschichte eine Lüge gewesen war. Doch dass sie diese Information so gefühllos aufnahm, zeigte ihr eins: Sie war gebrochen – endgültig.