Alberts Handy klingelte.
»Wir haben einen Anruf erhalten. Wir glauben nun zu wissen, wer die Frau aus dem zweiten Video war«, sagte Dirk am Telefon. »Tarek hat das Funkgerät und spricht gerade mit der Dienststelle, deswegen per Handy.«
Albert lehnte sich auf dem breiten Sofa zurück und lauschte. Ihm gegenüber saßen Gretchen und Jakob, die sich augenscheinlich sehr unwohl fühlten.
»Weiter«, sagte Albert.
»Ein Jens Kemper war der Anrufer. Er sagt, die Frau aus dem Livestream sei seine Ehefrau. Die Zentrale hatte Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu verstehen. Er war nur am schluchzen, was ja auch kein Wunder ist. Die Frau soll Bettina Kemper heißen. Achtunddreißig Jahre alt. Sie haben zwei Kinder. Sechs und zehn Jahre alt. Die Lehrerin des älteren Kindes, des Jungen, hatte wohl das Video gesehen, seine Mutter erkannt und Jens Kemper informiert. Notseelsorger und Polizei aus Kirchdorf sind bei der Familie. Das ist der Ort ihrer Anschrift. Ungefähr fünfzig Kilometer südlich von Bremen.«
»Okay, wir reden später weiter. Es ist gleich halb zehn.«
»Eine Sache noch: Doktor Schnittker hat versucht, dich zu erreichen. Ich habe ihm gesagt, wir haben gerade einen Einsatz. Du kannst in die Gerichtsmedizin fahren. Die Obduktion von Simon Fietz ist so weit abgeschlossen. Joachim Braunperle, der Staatsanwalt, wird ebenfalls vor Ort sein.«
Albert sagte, dass er sich später mit Emine auf den Weg machen würde, und legte auf. Entschuldigend hob er seine Hände und lächelte gequält seine Nachbarn an.
»Tut mir leid, Leute. Es ist momentan nicht leicht.«
»Sind wir hier denn sicher?«, fragte Jakob und nahm die kleine Porzellantasse in die Hand, die vor ihm auf dem Wohnzimmertisch stand.
Gretchen hatte Kaffee gekocht und Plätzchen serviert.
»Ja, keine Bange. Draußen stehen meine Kollegen und haben alles im Blick. Ich wollte euch hier nur für den Fall der Fälle zusammen wissen.«
»Gut, dass die anderen drei Wohnungen im Haus noch leer stehen. Sonst wäre es hier sehr ungemütlich geworden«, meinte Gretchen.
»Wissen wir schon, wann und ob hier mal jemand Neues einzieht?«, fragte Jakob, und Albert verdrehte die Augen.
Es war ein Fehler, Gretchen mit diesem Thema zu konfrontieren. Direkt startete sie einen Monolog, warum diese Wohnungen nicht beziehbar seien, weil es unzählige Mängel gebe, die erst behoben werden mussten. Zu dünne Isolierung, die Heizung sei zu laut, die Treppenstufen bröckelten hier und dort, der Parkplatz sei ein Unkrautbeet, durch die Fenster zog es zu sehr, und außerdem waren sie ja nur zweifach verglast. Irgendwann hörte Albert nicht mehr hin. Er sah aus dem Fenster auf den Innenhof, dann auf sein Handy. 9:31 Uhr. Der Unbekannte, der Emines und sein Handy gehackt hatte, war zu spät dran. Irgendwann wechselte das Gespräch zu anderen Themenfeldern. Albert ging in den Flur, weil er diesem bescheuerten und falschen Gelaber sicher nicht weiter folgen würde. Plötzlich knatterte sein Funkgerät.
»Albert, hörst du mich?«, gellte Emines Stimme.
»Laut und deutlich«, gab er zurück.
»Ich glaube, es ist so weit. Ein roter Skoda hat gegenüber bei der Weinhandlung geparkt.«
»Bestätige, roter Skoda. Wir können ihn auch sehen«, gab Tarek zu Protokoll, der mit Dirk, der vorhin noch mit Albert telefoniert hatte, in einem unauffälligen Bulli wartete.
In der Heckscheibe ihres Wagens war ein Kamerastativ installiert, mit dem sie direkte Sicht auf den Eingang der Wohnung hatten. Albert zog sein Handy aus der Tasche und öffnete die App für die Liveübertragung. Der Parkplatz der gegenüberliegenden Weinhandlung war nicht zu erkennen.
»Könnt ihr die Kamera etwas schwenken?«, fragte er und wartete.
Albert erkannte, wie das Bild auf seinem Handydisplay wackelte, weil jemand die Kamera nach links drehte. Nach wenigen Momenten hörte das Ruckeln auf, und auch Albert konnte den roten Skoda erkennen. Die Fahrertür des Wagens öffnete sich und ein junger Mann kam zum Vorschein.
Er war dick. Und nicht einfach nur ein dicker Kerl, sondern bestimmt an die zweihundert Kilo schwer. Sein Alter war nicht leicht zu bestimmen, weil sein gesamtes Gesicht aufgequollen war, was dazu führte, dass seine Augen zu kleinen Schlitzen gepresst wurden. Er hatte einen filzigen Bart, sodass Albert ihn auf Anfang zwanzig schätzte. Der Neuankömmling griff mit seinem schweren, wuchtigen Arm zum Dach des roten Skodas und hievte seinen Körper, der wie ein überdimensionaler Regentropfen aussah, Stück für Stück aus dem Wageninnern, während der Skoda wackelte und ächzte. Ein mächtiger Bauch plumpste unter einer Winterjacke hervor. Der Stoff der Jacke vermochte nicht alles zu verdecken. Das dunkle kurze Haar war schweißnass, weil ihm das Aussteigen alles abverlangte. Nachdem er mit seinen im Verhältnis zum Körper kleinen Füßen endlich den Asphalt der Straße berührte, hob er sich in einer Alles-oder-nichts-Aktion hoch und besiegte die Schwerkraft. Das Auto machte einen kleinen Satz nach oben. Pustend und mit geschlossenen Augen lehnte er an seinem Wagen. Eine Minute verging, dann stapfte der junge Mann los.
»Siehst du … ihn?«, fragte Tarek durch das Funkgerät.
Albert starrte immer noch sein Handydisplay an.
»Ja. Ein Prachtjunge. Abfangen!«
Emine sprang aus ihrem Wagen, Tarek, Dirk und zwei weitere Polizisten aus dem Bulli. Sie kamen aus unterschiedlichen Richtungen, sodass keine Fluchtmöglichkeit bestand – nicht dass diese Gefahr wirklich bestand.
Wenige Meter vor dem jungen Mann sagte Emine: »Sie! Stehen bleiben. Die Hände so, dass ich sie sehen kann!«
Mit der rechten Hand hielt sie den Griff ihrer Pistole umklammert, die noch in ihrem Holster steckte. Auch Dirk und Tarek standen nun neben der Person von Interesse und hielten an ihren Dienstwaffen fest.
»Keine Sorge. Bis auf mein Handy und ein paar Cracker habe ich nichts in den Taschen. Ich hätte dazu gern ein Glas Vollmilch. Fettarme hab ich ja schon«, sagte er lachend und wackelte mit seinen Unterarmen. »Sie sind Emine Laub, stimmt’s?«, fragte er.
Er öffnete seine Jacke und drehte sich um 360 Grad, damit alle Beteiligten sehen konnten, dass er keine Sprengweste trug oder Waffen bei sich hatte. Emine kam näher und tastete, soweit ihr das möglich war, den Mann ab. Sie fand nur eine Packung Cracker und ein Handy.
»Gesichert«, hörte Albert durch sein Walkie-Talkie.
Er gab zurück, dass sie ihn hochbringen sollten.
»Ich rede nur mit Ihnen und Albert Zeiler«, sagte der junge Mann zu Emine, als auch die anderen Kollegen Anstalten machten, mitzugehen.
Emine ließ sich den Ausweis von dem Dicken geben.
»Herr Justus … Nunhismeyer. Dreiundzwanzig Jahre alt und aus Ibbenbüren.« Albert hörte über Funk mit. »Sie haben sich unbefugt Zugang zu den privaten Handys von meinem Kollegen und mir verschafft. Einer Kriminaloberkommissarin und eines Kriminalhauptkommissars. Das ist eine Straftat. Wir könnten Sie jetzt festnehmen.«
»Ja, das könnten Sie machen. Aber mal ehrlich: Glauben Sie etwa, ich würde zugeben, dass ich das gewesen bin? Ich würde Ihnen auf der Dienststelle sagen, dass ich eine SMS erhalten habe, die besagt, ich würde hier gratis Chickenwings essen dürfen. Von wem die SMS kam, würde ich weiter behaupten, wüsste ich nicht. Und Ihre IT-Experten würden keinen einzigen Hinweis darauf finden, dass wirklich ich es war, der Ihre Handys gehackt hat. Und ich bin mir absolut sicher, dass Sie momentan echt andere Sorgen haben, als einen gut gebauten Muskelberg wie mich wegen so einer Lappalie festzuhalten. Nicht, wenn ich Ihnen in dem Darknetkiller-Fall helfen könnte«, sagte er.
»Hast du mitgehört?«, fragte Emine in ihr Walkie-Talkie.
»Habe ich. Bring ihn hoch. Tarek, ihr bleibt unten und haltet dort die Stellung.«
»Verstanden«, sagte Tarek.
Albert verabschiedete sich von Gretchen und Jakob, ging in seine Wohnung zurück und hielt den Türsummer gedrückt, bis er das quietschende Geräusch der Eingangstür vernahm. Schwer atmend und mit drei Pausen gelang es Justus, zusammen mit Emine das Stockwerk von Alberts Wohnung zu erreichen.
»Junge, habt ihr keine Fahrstühle hier?«, hechelte Justus, als er endlich angekommen war.
Gretchen und Jakob steckten interessiert die Köpfe aus der Wohnung.
»Sind wir außer Gefahr?«, fragte Gretchen.
»Oder laufen wir Gefahr, gefressen zu werden?«, entfuhr es Jakob, der dafür von Gretchen mit einem schmerzhaften Schienbeintritt abgestraft wurde.
»Danke für Ihr Engagement, verehrte Dame, doch ich bin es gewohnt, auf meine Massigkeit angesprochen zu werden«, sagte Justus zu den Nachbarn von Albert. »Ich habe eine Fettkrankheit, die genetisch bedingt ist. Es hat sicherlich auch, und das gebe ich zu, teilweise etwas mit meinen Essgewohnheiten zu tun«, sagte Justus grinsend und rieb sich den großen Bauch.
»Bitte geht wieder zurück in eure Wohnungen. Wir haben alles im Griff«, sagte Albert und bat Justus und Emine herein.
Er schloss die Tür hinter sich und überlegte kurz, wo er ihn Platz nehmen lassen konnte. Justus erkannte das Dilemma in dem Gesicht von Albert und lachte rau und schleimig.
»Das Sofa wird schon gehen«, meinte er und ließ sich schwer auf das arme Möbelstück fallen.
Emine grinste bloß, zuckte mit den Schultern und zog zwei Stühle vom Esstisch zur Couch.
»Also«, begann Albert. »Warum zum Teufel schreibst du uns eine so kryptische Nachricht, wer bist du, und warum sollten wir nicht annehmen, dass du etwas mit den Morden zu tun hast?«
Justus legte seine Cracker auf den Tisch, riss die Packung auf, stopfte sich ein paar davon in den Mund und nuschelte: »Ich bin viel zu beleibt, um eine Entführung auf die Reihe zu bekommen. Eure Handys habe ich gehackt, damit ich eure Aufmerksamkeit habe, und treffen wollte ich euch, weil ich glaube, ich könnte euch helfen.« Er duzte die beiden, ohne dazu aufgefordert geworden zu sein. Emine empfand es nicht als störend, während Albert überrascht seine Brauen hochzog.
»Warum willst du uns helfen?«, fragte Emine und beugte sich interessiert vor.
»Wegen meiner Granny«, meinte Justus.
»Granny?«, fragte Albert.
»Meine Oma. Sie ist ein guter Mensch und hat mich, so gut sie es konnte, zumindest charakterlich zu einem halbwegs vernünftigen Jungen erzogen. Trotzdem: Wenn ich euch helfe, habe ich Bedingungen. Ich brauche danach nämlich wiederum eure Hilfe.«
»Aha«, meinte Albert und wurde langsam zickig. »Warum benötigst du also unsere Hilfe?«
Justus sah beide aus seinen kleinen Augen an. Er lehnte sich vor und faltete die Finger auf seinem Bauch.
»Weil ich mich ab jetzt in Lebensgefahr befinde. Und ich meine nicht bloß, weil ich beschissene Cholesterinwerte habe.«