Kapitel 23

Carolin weinte. Und zwar richtig. Hier war sie endlich allein und konnte ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

»Dieser Mistkerl!«, fauchte sie und trat gegen einen Zaunpfahl, was sie sogleich bereute, weil nun ein moosgrüner Streifen auf ihrem weißen Sneaker von Giesswein zu sehen war.

Ihr Freund hatte sie zum wiederholten Mal betrogen, weshalb sie ihn vor drei Tagen verlassen hatte. Seine ständigen Kontaktversuche nervten sie nur noch, und ihre Tränen spiegelten keine Trauer, sondern Wut wider. Jetzt lief Carolin um den Dieksee herum und ignorierte weiterhin seine Anrufe, die auch langsam nachließen. Sie wollte gerade zu einer letzten endgültigen, vernichtenden Nachricht ansetzen, als sie abrupt stehen blieb. Sie konnte gar nicht sagen, was genau sie aufgehalten hatte, doch irgendwas stimmte hier nicht. Der hohe Rasen und das feine Laub waren an einer Stelle aufgewühlt. Nichts Besonderes, weil viele Menschen hier ihre Hunde ausführten und diese alles umgruben, während sie tobten und spielten. Allerdings: Diese Stelle wirkte anders. Carolin hielt das Handy vor der Brust und machte einen Schritt auf den aufgewühlten Bereich zu. Jetzt erkannte sie auch, was sie instinktiv bereits wahrgenommen hatte. Da lag ein verkohlter Damenschuh. Zwischen dem Laub, dem hohen Gras und der dunklen Erde war dieser kaum aufgefallen. Plötzlich umso deutlicher. Vorsichtig näherte sie sich der Stelle und hielt die Luft an. Vielleicht, weil sie möglichst wenig Geräusche machen wollte. Irgendetwas in ihr beschwor sie, vorsichtig zu sein. Mit der Fußspitze ihres Sneakers tippte Carolin gegen den fremden Schuh. Er hatte Blasen geworfen, und eine kleine Schleife – zumindest glaubte sie, dass es mal eine Schleife gewesen war – war auf dem Absatz geschmolzen. Es wunderte sie, dass bis auf den Schuh sonst nichts angebrannt war. Das Feuer war also nicht hier ausgebrochen. Dafür war es auch viel zu nass und regnerisch. Wie sollte es hier schon brennen? Die Spur führte weiter zwischen die Bäume. Ja, es war eine Schleifspur! Jemand hatte hier vermutlich eine Frau oder eine große Puppe mit Damenschuh entlanggezogen. Sie war beinahe fasziniert davon, wie ihr Instinkt die Lage schon vor Sekunden begriffen hatte, ehe ihr Verstand gemächlich nachgearbeitet hatte, um alle Eindrücke zu katalogisieren. Carolin atmete mutig ein und aus und stieß nach vorn in den Wald. Sie kämpfte sich durch ein Gebüsch, das ihr zum Dank einen dünnen Zweig ins Gesicht klatschte, und hielt mitten in der Bewegung inne. Was sie dort vor sich sah, ließ ihr Blut gefrieren. Dieses Mal benötigte ihr Verstand keine Sekunden, um zu verstehen. Dies war ein Tatort. Und vor ihr lag ein Anblick, den sie niemals vergessen würde.