Tarek und Dirk warteten vor der Tür, als Emine, Albert und Justus die Wohnung verließen. Sie mussten unterwegs dreimal anhalten, weil Justus so aussah, als würde er gleich ersticken. Drei Becher Kaffee mit viel Zucker hatten sicher nicht geholfen, ihm den Weg zu seinem Auto zu erleichtern.
»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte sich Tarek.
»Wir werden sehen. Ich fahre mit Justus und euch ins Präsidium«, antwortete Emine und sagte, dass sie schon mal vorfahren könnten.
Sie zuckten mit den Schultern, taten aber, wie ihnen geheißen. Dirk zwinkerte ihr noch einmal zu, was Tarek ihm ein paar Schritte entfernt mit einem Nackenschlag quittierte.
»Soll ich mit ihm sprechen?«, fragte Albert leise, sodass Justus es nicht hörte, der endlich zu ihnen aufschloss.
»Ich komme schon zurecht. Du wirst am Ende noch zugeben müssen, dass dir etwas an mir liegt, wenn du nicht aufpasst.«
»Mhm, bestimmt«, meinte Albert, lächelte dabei ganz kurz.
Emine hatte ihn noch nie so lächeln sehen, und kurzzeitig ging ihr irgendwie das Herz auf. Sie musste aufpassen, dass ihr dieser grantige alte Sack nachher nicht zu sehr ans Herz wuchs.
»Du hast deinen Laptop im Auto, sagst du?«, fragte Albert an Justus gewandt.
»Im Kofferraum, ja. Ich brauche nur Zugang zum WLAN, und dann kann ich versuchen, mit Trinity loszulegen.«
»Stimmt etwas nicht?«, wollte Albert wissen, als Justus keine Anstalten machte, weiterzugehen.
»Na ja«, begann er. »Ich … Also. Es ist so. Ich kann euch irgendwie gut leiden. Ihr wirkt sympathisch. Alle beide. Ich war mir nicht sicher, wer ihr seid und ob ihr mir überhaupt zuhören würdet. Das Leben vor dem Bildschirm war nicht immer sehr gönnerhaft mit mir. Ich meine, ich hab nicht sehr viele Freunde oder Bekanntschaften. Ich weiß, kaum zu glauben, aber so ist es nun mal.«
Albert und Emine blickten beide verlegen, was Justus nur amüsierte.
»Leute, ich bin übergewichtig, und zwischen meinen Klamotten finden sich Chips von letzter Woche. Ich bin nicht hübsch, jedoch auch nicht dumm. Mir ist schon klar, dass ich nicht der Umgang bin, den man sich wünscht. Andererseits gelten in Japan übergewichtige Männer als attraktiv. Vielleicht sollte ich …«
»Justus, komm zum Punkt. Was willst du uns sagen?«, hakte Emine nach.
Er blickte zwischen den beiden hin und her.
»Es geht um Albert. Ich weiß nicht …«
»Schon gut. Was du mir sagen willst, kannst du auch vor meiner Partnerin sagen.«
Meiner Partnerin . Offensichtlich hatte sie gerade einen Lauf.
»Na schön. Ich weiß, dass du deiner Tochter nachspionierst.«
»Bitte was?«, entglitt es Emine, und Albert wurde rot.
Hätte er geahnt, dass Justus darauf hinauswollte, hätte er Emine nicht zuhören lassen.
»Was? Nein, also … Wie kommst du denn darauf?«, stotterte sich Albert zurecht.
»Muss ich das jetzt wirklich erklären? Ich war auf deinem Computer unterwegs. Ich wollte keinem Cop helfen, der sich heimlich Pornos mit Minderjährigen oder so etwas Ähnliches ansieht. Deswegen habe ich mir deine Festplatte vorgenommen. Ich fand erst nichts Aufregendes, aber dann doch. Etwas, das nicht nur illegal, sondern auch ganz schön pervers ist.«
Jetzt wurde Emine auch klar, warum Albert vorhin so merkwürdig reagiert hatte, nachdem Justus erklärt hatte, wie er über Maries E-Mail-Adresse an Albert herangekommen war.
»Was meint er damit? Nachspionieren? Hat sie einen GPS-Tracker an ihrem Auto, oder worum geht es genau?«, bohrte Emine weiter.
»Schlimmer noch. Er hat Kameras in ihrer Wohnung installiert. Und er überwacht ihre Bewegungen, also ihre körperlichen Bewegungen per GPS. Wie stellst du das an? Mit einer Halskette? Ich glaube nicht, dass sie von dir einen Chip verpasst bekommen hat, den Marie unter ihrer Haut trägt.«
»Ich schulde euch dazu gar keine Erklärung, verdammt noch mal! Und erwähne ihren Namen nicht. Wir kennen uns überhaupt nicht, und ich sollte dich auf der Stelle festnehmen! Es geht euch nichts an, was ich wann, wie und warum tue!«
Emine wusste natürlich, warum Albert so etwas machen würde. Er hatte seine Frau verloren. Er würde es niemals zulassen, dass auch noch seiner einzigen Tochter etwas passieren würde.
»Ihr fahrt jetzt zum Revier und macht diesen Scheißsuchmaschinendingsbumskram, und ich fahre zur Gerichtsmedizin!«, schnauzte er.
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Albert um und lief zu seiner Garage. All die kleinen Fortschritte, die Emine soeben noch gespürt hatte, waren wie weggeweht. Jetzt lag wieder Zorn und Verschlossenheit über der Seele ihres Partners.
Verdammt!
»Okay, wir telefonieren …«, rief Emine hinter ihm her, aber die Seitentür der Garage knallte bereits mit voller Wucht ins Schloss.
»Er beobachtet also seine Tochter?«, fragte Emine, als sie beim Revier angekommen waren.
Sie war vorweggefahren und hatte darauf geachtet, dass der rote Skoda an ihr dranblieb. Nach wenigen Minuten hatten sie den Parkplatz der Polizeiinspektion erreicht.
»Ja, schon. Ich kann nicht genau sagen, wann und was er sich ansieht. Jedenfalls gibt es drei Kameras. Küche, Flur und Wohnzimmer. Bad und Schlafzimmer waren wahrscheinlich auch ihm wohl zu viel«, meinte Justus und kratzte sich an seinem Unterarm. »Ich kann mir vorstellen, warum er das getan hat.«
»Ach ja? Und was vermutest du?«, wollte Emine wissen.
»Na ja, ich meine, ich bin ziemlich gut im Recherchieren. Sagte ich ja schon. Und natürlich habe ich schnell herausgefunden, dass Albert Zeilers Frau Opfer des Feuerteufels geworden ist. Er war Teil der Sondergruppe von damals. Wenn ich es richtig verstehe, wurde der Kerl nie gefasst, der ihr das angetan hat. Oder es war ein Nachahmer, weil ja dieser Mann aus Polen umgelegt wurde und eigentlich als Haupttäter galt. Albert hatte das aber nie wirklich geglaubt, oder? Wie auch immer – er ist vorsichtig, was Marie angeht. Verstehe ich wohl«, sagte er.
Justus öffnete den Kofferraum, holte seinen Laptop heraus und beide gingen sie ins Gebäude. Alex Covtic erwartete sie, weil Emine ihn während der Fahrt bereits angerufen hatte. Sie setzten sich in ein leeres Büro – Justus durfte natürlich nicht in den Raum mit den Ermittlungsdetails –, und ihr neuer Privatermittler schloss seinen Laptop an eine Steckdose an.
»So sieht sie aus. Trinity«, meinte er und klappte den Rechner auf. »Das Programm läuft bereits. Ich habe kurzzeitig einen der vier Heizer ausschalten können, als ich das letzte Mal einen Treffer erzielt habe. Doch ich wurde gleich wieder herausgeworfen, als mich der Darknetkiller bemerkt hatte. Seitdem sucht Trinity weiter. Als Suchbarometer habe ich die abgespeicherten Frames der zwei Videos. Ist nicht viel, ich weiß. Eine Sozialversicherungsnummer oder ein vollständiger Name wäre natürlich besser. Ist aber nicht zu ändern. Das Datenprofil oder die identische Auflösung der Kamera könnte einen Treffer geben. Vielleicht findet sie etwas, vielleicht nicht. Einen Versuch ist es wert.«
Ein mattes gelbes Hauptfenster wurde sichtbar. Während der Suchprozess im Gang war, tanzte eine kleine Frau mit Lederkleidung, Sonnenbrille und gegelten Haaren einen Kasatschok. Die Arme vor der Brust verschränkt in der Hocke im Zweivierteltakt. Besser als eine normale Sanduhr, fand Justus.
»Ist Trinity an den Film Matrix angelehnt?«, wollte Alex wissen.
»Gut erkannt«, bestätigte Justus.
Danach begannen sie eine Diskussion darüber, ob eine Suchmaschine im Darknet wirklich funktionierte oder nicht. Selbst für Emine war dieses Fachgespräch ein paar Nummern zu hoch. Also besorgte sie drei Dosen Cola aus dem Automaten, der im Flur stand. Als sie wieder in das Büro kam, blickten die beiden gebannt auf den Bildschirm. Aber es tat sich weiterhin nichts. Justus zuckte mit den Schultern und nahm dankend das Zuckergetränk an.
»Ich lasse euch meinen Laptop hier. Er ist gespiegelt. Ihr könnt damit nichts anfangen und seht nur den Suchverlauf von Trinity. Jeder unbefugte Zugriff würde bedeuten, dass sich der Laptop ausschaltet und ein Virus alles löscht, was sich jemals auf der Festplatte befunden hat. Also Finger weg!«, meinte er an Alex gewandt. »Ich steuere also das Ganze aus meinem Reich zu Hause.«
»Und wie lange wird das Ganze dauern?«, fragte Emine. »Irgendeine Prognose?«
Justus sagte: »Keinen blassen Schimmer. Ehrlich nicht. Es kann jede Sekunde so weit sein, vielleicht dauert es auch Monate. Es ist eine Betaversion. Und es geht immerhin ums Darknet. Wir wissen ja nicht einmal, was wir finden. Also nagelt mich bitte nicht drauf fest.«
»Wenn Trinity etwas findet, was würde das sein?«
»Im besten Fall die IP-Adresse des Absenders der Videos. Vielleicht die Signaturnummer der Kamera, die Zuleitung des Stromverteilers und damit die Adresse von diesem Wichser. Eventuell den Netzanbieter, den er nutzt. Es ist auch möglich, dass wir eine bestimmte Kupferleitung oder ein Glasfaserkabel ausfindig machen. Vielleicht auch gar nichts. Warten wir es ab.«
Justus trank seine Cola aus und warf die leere Dose in den Mülleimer des Büros. »Und jetzt habe ich noch zwei Dinge.«
»Die da wären?«, fragte Emine.
»Erstens möchte ich, dass der Polizeichef, oder wer auch immer zuständig ist, mir garantiert, dass Granny und ich Schutz erhalten, sollte Trinity erfolgreich sein. Anschließend ist nämlich die halbe kriminelle Welt hinter mir her. Ich habe außerdem das Patent auf diese Suchmaschine und muss nie wieder befürchten, dass Ermittlungen gegen mich laufen.«
»Sollten wir durch deine Hilfe erfolgreich sein, werden wir mit dem Staatsanwalt alles in die Wege leiten. Du bekommst eine neue Identität und der Deal steht. Alles Weitere besprichst du mit deinem Rechtsanwalt, den du dir parallel besorgen solltest. Was ist die zweite Sache?«
»Punkt zwei ist etwas heikler. Albert wird schrecklich sauer sein. Aber ich habe seiner Tochter per Mail mitgeteilt, dass er sie beobachtet. Sorry, ich kann das nicht so weiterlaufen lassen. Ich hatte zu viel Schiss, dass er mich erschießt, wenn ich es ihm erzähle. Das wirst also du tun müssen, bevor seine Tochter hier aufschlägt und ihn umbringt.«
Emine schloss die Augen und seufzte. »Scheiße!«