Kapitel 25

In der Gerichtsmedizin roch es stickig und muffig. Zumindest im Flur hinter dem Haupteingang. Von außen sah das Gebäude unscheinbar aus. Gelber Putz, der durch Abgase und das ewige Wetter blättrig und grau geworden war, eine braune solide Eichentür mit Fenstern und ein schwarzes Schindeldach, auf dem sich grünes Moos gebildet hatte. Im Innern stellte man dann fest, dass dies kein normales Etablissement war, sondern dass der Tod hier zu Hause war. Joachim Braunperle, der Staatsanwalt, wartete bereits auf Albert.

»Hallo, Albert. Wie geht es dir?«, fragte er.

»Hi, Joachim. Gut, und selbst? Ich wünschte, wir würden uns unter anderen Umständen sehen.«

»Wem sagst du das? Jetzt ist es, wie es ist. Ihr habt nicht zufällig einen Verdächtigen, für den ich einen Haftbefehl beim Gericht beantragen kann?«

Joachim Braunperle war ein alter Hase und jahrelanger Begleiter von Albert. Zusammen hatten sie schon viele abscheuliche Individuen ins Gefängnis gebracht. Er war nicht groß, jedoch auch nicht klein. Irgendetwas dazwischen, würde Albert meinen. Sein braunes krauses Haar wurde lichter und gräulich. Vermutlich lag es daran, dass der Staatsanwalt das Färben aufgegeben hatte. Sein Anzug wirkte etwas zu groß, außerdem hatte er ein kindliches Pflaster an seiner Hand. Er schielte deutlich, was ihn auf seinem Lebensweg möglicherweise zu einem der hartnäckigsten und klügsten Menschen gemacht hatte, die Albert kannte. Die Schule damals musste für Joachim die Hölle gewesen sein. Deswegen wusste er, wie man mit harten Bandagen kämpfte, Hindernisse aus dem Weg räumte und am Ende Karriere machte. Im Leben wurde einem nichts geschenkt.

»Leider nicht. Wir haben so gut wie nichts. Geschnitten?« Albert deutete auf seine Hand.

»Mein Jüngster. Hab mich an einer Schere geschnitten, und er bestand darauf, ein Dino-Pflaster aufkleben zu dürfen. Wie sieht es mit der Frau aus, die im Netz sterben musste? Tarek sagte, sie heißt Bettina Kemper?«

»Ja, Bettina Kemper aus Kirchdorf. Das ist in der Nähe …«

»Von Bremen. Kenne ich. Bin ein paarmal durchgefahren. Habe eine Ex-Frau in Nienburg.«

Albert räusperte sich. »Auf jeden Fall sind Kollegen aus Sulingen gleich hingefahren, als wir sie identifizieren konnten. Wir werden uns später mit dem Ehemann zusammensetzen, hoffe ich zumindest. Sie ist … war also verheiratet und hatte zwei Kinder. Das ist eine wirkliche Scheiße hier.«

Sie gingen zusammen weiter, um die Sache hinter sich zu bringen. Die Kühlkammern der Leichen waren im Keller untergebracht. Auf einer abfallenden Rampe wurden hier die Toten von einem Leichenwagen hergebracht, die schließlich durch die Gerichtsmediziner in Empfang genommen wurden. Hier unten waren Wände und Böden vollständig gefliest, und der muffige Geruch war Desinfektions- und Reinigungsmitteln gewichen. Hinter einer Doppeltür aus Edelstahl lagen die zwölf Kammern der Rechtsmedizin und die vier Tische – ebenfalls aus Edelstahl –, die für die Obduktion verwendet wurden. Albert registrierte, dass alle Kammern gefüllt sein mussten. Das erkannte er an den Informationskarten, die an den jeweiligen Klappen angebracht worden waren. Außerdem waren drei der vier Tische belegt. Jede Leiche war durch ein großes grünes Tuch abgedeckt. Bei einer Toten – zumindest glaubte Albert, dass es eine Frau war – ragten dunkle Haare unter dem Stoff hervor.

»Momentan ist hier sehr viel los«, sagte Dr. Schnittker trocken, der sie erwartet und den Blick von Albert und Joachim bemerkt hatte. »Es gab einen Brand in einer Obdachlosenunterkunft. Schlimme Sache.« Bei ihm klang es so, als würde er über lästigen Autoverkehr sprechen.

»Verrückte Welt«, meinte Joachim.

Albert nickte nur.

»Wo ist Ihre neue Kollegin? Oder arbeiten Sie wieder allein?«

»Sie ist nicht hier«, blaffte Albert zurück und war selbst erschrocken, wie giftig er wirkte.

»Oh, haben wir heute einen schlechten Tag, ja? Geht mich ja nichts an, aber negative Energie sollte man tunlichst vermeiden. Ich weiß, wovon ich rede. Hier in der Gerichtsmedizin ist negative Energie ja quasi unumgänglich. Also lassen Sie doch Ihre bitte vor dem Hauseingang geparkt, in Ordnung?«

Dr. Schnittker hatte einen weißen Kittel an, und seinen Mund-Nasen-Schutz hatte er sich unter das Kinn gezogen. Seine Hände, die er nun zu einer Raute vor seinem Bauch gefaltet hatte, steckten in blauen Gummihandschuhen. Mit seiner kreisrunden schwarzen Brille erinnerte er Albert an einen Bösewicht aus einem Comic, den er vor vielen, vielen Jahren einmal gelesen hatte.

»Können wir uns jetzt bitte den wichtigen Dingen annehmen?«, forderte er den Gerichtsmediziner auf. »Welcher Tisch?«

»Der hier.« Dr. Schnittker ging zu dem letzten in der Reihe und schlug das Laken zurück. Albert hatte zwar schon viele Leichen gesehen, aber jedes Mal wurde ihm etwas schlecht dabei. Vor allem bei dem Bild, das er nun vor sich sah.

»Mein Gott«, hauchte er und schloss für einen Moment die Augen.

»Gott, und das sage ich immer, hat damit nichts zu tun. Wir reden hier von der Tat eines Menschen.«

»Immerhin hat Gott auch den Menschen erschaffen, der diese Tat begangen hat«, warf der Staatsanwalt ein.

»Er hat das Leben erschaffen. Die Fortpflanzung und das Gute. Sicherlich auch die Fehler in uns. Bei dem Bösen allerdings, da hat jemand anderes seine Finger im Spiel.«

»Doktor, sind Sie jetzt plötzlich ein Mann Gottes geworden?«, fragte der Staatsanwalt.

»Nein. Nicht wirklich. Ich respektiere lediglich, dass andere Menschen religiös sind. Und wenn Sie den guten alten Herrn ins Feld führen, muss ich zumindest annehmen, dass Sie gläubig sind. Es war also eine Form des Respekts, den ich in diese Konversation eingebracht habe. Negative Energie und so. Ich sagte es ja bereits. Wir haben genügend davon hier.«

Die Leiche von Simon Fietz lag auf dem silbernen Metalltisch. Die Kleidung war entfernt worden und lag in einem durchsichtigen medizinischen Plastikbeutel am Fußende des Tisches. Die Haut des Toten war blau-braun und sah nicht mehr natürlich aus. Lehm und Erde waren abgewaschen worden, nur die Kleidung wies noch Dreck auf. Das Makaberste war weiterhin: Der Körper war in viele Segmente zerschnitten.

»Ist es ganz sicher Simon Fietz?«

»Definitiv, ja. Die Blutgruppe des Toten ist B Rhesus negativ. Diese haben nur zwei Prozent der Deutschen. Ist also unheimlich selten.«

»Weiß ich, ich habe sie auch«, meinte Albert.

»Wirklich? Zwei nicht verwandte Menschen in einem Raum mit dieser Blutgruppe sind äußerst selten. Aber wir leben ja nicht im Jahre 1987, davor gab es nämlich noch keine DNA-Tests, die vor Gericht zugelassen wurden, sondern wir leben im Heute. Die DNA ist identisch. Dank der Proben, die uns seine Ehefrau übergeben hat, konnten wir die Wahrscheinlichkeit auf über neunundneunzig Komma neun neun Prozent festlegen. Die Fehlerquote ist hierbei so gering, dass sie bei eins zu dreißig Milliarden liegt. So viele Menschen gibt es nicht mal auf der Welt. Also ja, es ist ganz sicher Simon Fietz.«

Albert nickte und umrundete den Tisch im Uhrzeigersinn.

»Vierundzwanzig einzelne Teile. Füße, Unterschenkel, Oberschenkel, Torso, Geschlechtsteile, Finger, Hände, Unterarm, Oberarm. Mit dem Kopf sind es fünfundzwanzig abgetrennte Körperteile. Den haben Sie jedoch leider nicht gefunden.« Dr. Schnittker hatte bemerkt, dass Albert gezählt hatte.

»Und wie hat er die einzelnen Teile abgetrennt?«, fragte Joachim.

»Nun, nach den Spuren der Wunden zu beurteilen, würde ich ganz sicher von einer Säge ausgehen. Eine Kreissäge, um genauer zu sein. Das Muskelgewebe ist zerfasert und gerissen. Das geschieht nur durch Sägebewegungen. Wenn kleine, scharfkantige Zacken mit hoher Geschwindigkeit durch Materie fahren. Ein scharfes Messer oder den Hieb einer Axt – und wir hätten ein anderes Ergebnis. Hier an der Armbeuge, da haben wir die Vena Cephalica und den langen Speichenmuskel.«

Dr. Schnittker holte ein Foto aus einer Akte, die hinter dem Metalltisch auf einer Arbeitsfläche lag. Eine Nahaufnahme zeigte Albert, dass das Gewebe zerfranst und zerrissen war.

»Meinen Bericht dazu gebe ich Ihnen gleich mit und sende ihn auch per Datenträgeraustausch. Die Beweismittelkette ist somit intakt.«

»Gibt es Spuren an den Wunden? Können Sie sagen, welches Modell der Säge es war? Gab es Dreck in den Wunden, der uns weiterhelfen könnte?«

»Ja, nein und ja-nein. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es eine Kreissäge gewesen sein muss. Eine Kettensäge wäre noch gröber gewesen. Zudem hätten wir Kettenöl in den Sägewunden finden müssen. Hier haben wir leider nichts. Zumindest nichts Außergewöhnliches. Ein bisschen Sediment und Mineralkörner. Gewöhnlicher Sand also. Daraus können wir nicht erkennen, wo die Leiche zerstückelt wurde. Dieses spezielle Sediment kommt überall auf der Nordhalbkugel vor. Wäre es jetzt Vulkangestein, ja, das hätte es uns geholfen, die Geografie des Tatortes einzugrenzen.«

»Und er war nicht mehr am Leben, richtig?«, fragte Albert.

»Richtig. Die Trennwunden an den Schnittstellen zeigten kaum Blutungen. Der Herzschlag hatte also bereits ausgesetzt.«

»Wenigstens blieb ihm das erspart. Gibt es sonst irgendetwas, was uns helfen kann?«

»Also, die Todesursache ist natürlich die Gewalteinwirkung auf den Kopf des Opfers. Die Stahlkugel. Medizinisch kann ich das aktuell nicht bestätigen, da der Kopf fehlt. Direkte Spuren, die ansonsten zum Tod hätten führen können, sind am Körper nicht aufzufinden. Keine Einstichwunden oder andere Verletzungen, bis auf die offensichtlichen. Das toxikologische Gutachten hat ergeben, dass seine Harnwerte etwas erhöht waren. Sonst gab es keinerlei Unregelmäßigkeiten. Als Patient hätte ich ihm geraten, weniger Fleisch zu essen. Ansonsten schien er fit gewesen zu sein. Es ist da nur eine Sache, die Sie interessieren wird.«

»Und welche wäre das?«

Dr. Schnittker winkte ihn mit zwei gummierten Fingern zum linken Fuß des Toten. Er drehte den Fuß mehr ins Licht. Dann sah Albert, was er sehen sollte, und konnte es kaum glauben.