Emine hatte Justus vom Parkplatz fahren sehen und lief nun die Straße in Richtung Innenstadt hinunter, weil sie frische Luft und einen klaren Kopf brauchte. Sie überquerte die Bahnschienen, obwohl die Ampel auf Rot gestellt war, was ihr ein wartender Pkw-Fahrer mit einem lauten Hupen und einem Scheibenwischerwink quittierte. Sie hielt sich das Handy dichter ans Ohr und versuchte weiterhin, Albert zu erreichen. Er ging nicht an sein Handy. Dann vibrierte das kleine Gerät in ihren Händen kurz und zeigte an, dass sie eine Mail vom Gerichtsmediziner Dr. Schnittker erhalten hatte.
An: Kriminalhauptkommissar Albert Zeiler
Kriminaloberkommissar:in Emine Laub, Tarek Arikan, Alexander Covtic
Kriminalkommissar Dirk Sauer
Staatsanwalt Joachim Braunperle
Von: Dr. Titus Schnittker
Datum: 20. Oktober
Betr.: Blutgruppenbestimmung und DNA-Test
Anbei mein Abschlussbericht.
Grüße
Dr. Sch.
BLUTGRUPPE
Zur Bestimmung der Blutgruppe wurde der männlichen Leiche eine Probe entnommen und im Untersuchungslabor analysiert. Das Ergebnis der Blutgruppenbestimmung ergab B Rhesus negativ.
Die Leichenteile, insgesamt 24, aufgereiht als ein großes »N«, wurden durch die Lingener Kriminalpolizei, der zugehörigen Spurensicherung, mir (Dr. Schnittker) und meinem Assistenten Dr. Krahn fotodokumentiert und gesichert. Nach der ersten Voruntersuchung am Ablageort der Leiche konnten keine Fingerabdrücke oder Fremdspuren sichergestellt werden. Die Übergabe der Leichenteile in die Gerichtsmedizin wurde von mir beaufsichtigt und dokumentiert. Ich stelle damit fest, dass die Beweismittelkette eingehalten wurde. Der Hausarzt der Familie Fietz, Dr. ten Haaget, bestätigte die Blutgruppe B Rhesus negativ von Simon Fietz. Eine erste Verdachtsübereinstimmung der vermissten Person und des männlichen Toten war zu diesem Zeitpunkt gegeben.
TATWAFFE
Wie anfangs erwähnt, wurden am Ablageort der Leiche keine Fremdspuren sichergestellt. Dies beinhaltet auch die Tatwaffe. Nach mikroskopischer Untersuchung der Schnittstellen wurde festgestellt, dass es sich bei den Verletzungen um »Riss- und Reißfaserungen« handelt. Diese Verletzungen werden durch Ketten- und Sägeglieder verursacht (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Durch die Wunduntersuchungen konnte festgestellt werden, dass keinerlei Schmieröl nachweisbar war, sodass eine handelsübliche Motorkettensäge nicht in Betracht kommt. Ich gehe davon aus, dass die Gliedmaßen des Toten durch eine Kreissäge abgetrennt wurden. Bei diesem Tatwerkzeug handelt es ich nicht um die Tatwaffe. Es ist davon auszugehen, dass der Tod durch den Aufprall der Stahlkugel verursacht wurde. Entsprechendes Videomaterial liegt Ihnen vor. Da weder Stahlkugel noch Kopf sichergestellt wurden, bleibt es bei der Vermutung.
DNA-TEST
Im Untersuchungslabor wartet immer eine enorme Anzahl an Proben auf die DNA-Untersuchung, weshalb eine gewöhnliche Aufarbeitung und Abschlussuntersuchung mithin mehrere Monate dauern kann. Aufgrund der Abscheulichkeit und Brutalität des Verbrechens, einhergehend des öffentlichen Interesses, wurden die bereitgestellten Proben der Ehefrau von Simon Fietz (Kamilla Fietz) vorgezogen. Als Abgleichsproben wurden uns Haare und die Zahnbürste des Opfers zur Verfügung gestellt (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Das Ergebnis der Übereinstimmung lautet: > 99,99 % Wahrscheinlichkeit. Bei der Leiche handelt es sich um den Vermissten Simon Fietz.
TOXIKOLIGISCHE UNTERSUCHUNG
Negativ. Es wurden keine auffälligen Substanzen im Organismus nachgewiesen.
ÄUSSERLICHE MERKMALE
Die Leichenteile waren beim Fund bekleidet und durch hiesiges Sediment und Dreck verschmutzt (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Nach Sicherstellung der Kleidung und Reinigung der Haut konnten keine äußerlichen Verletzungen (Nadeleinstiche, Stichwunden, Schusswunden, Hämatome etc.) vorgefunden werden (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Es ist weiterhin davon auszugehen, dass der Tod durch Krafteinwirkung auf den Kopf eingetreten ist. Auf dem rechten Zehennagel des Opfers gab es allerdings eine markante Einritzung, die vermutlich mit einem scharfen Gegenstand vorgenommen wurde. Diese wurde post mortem, nach dem Tod, durch den oder die Täter*innen hinterlassen. Sie lautet: 52 (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Zusammen mit dem Vorfinden der Leichenteileanordnung (N) und der Einritzung auf dem Zehennagel (52) ergibt sich die Botschaft »N52« oder »52N«. Die Auffälligkeit der Leichenposition und der erst darauffolgenden genaueren Untersuchung des Körpers lässt für mich den Schluss zu, dass erstere Botschaft wahrscheinlicher ist.
Am heutigen Morgen wurde die Präsentation des oben genannten Berichts zusammen mit Kriminalhauptkommissar Albert Zeiler und Staatsanwalt Joachim Braunperle vorgenommen. Ich stelle damit fest, dass die Beweismittelkette eingehalten wurde.
»Zweiundfünfzig? Was soll das denn sein?«, fragte Emine sich selbst und googelte die Zahl.
Vielleicht würde sie ja etwas Markantes finden. Insgesamt hatte sie mehr als sieben Millionen Treffer. Die ersten vorgeschlagenen Seiten waren allesamt Gesetzestexte. Ansonsten gab es allerlei Wissenswertes zum Jahr 52. In Rom wurde eine Wasserversorgung eingeweiht, Lucius Salvius Otho Titianus wurde offenbar ordentlicher Konsul des Römischen Reichs und es gab unzählige Videos, die sich mit der 52 beschäftigten. Nichts davon war hilfreich. Sie steckte ihr Handy weg, um es kurz darauf wieder hervorzuholen.
»Verdammt«, sagte sie, als nach dem Wählen wieder nur Alberts Mailbox ansprang.
Sie bemerkte nicht, dass hinter ihr am Straßenrand ein BMW stehen blieb und jemand darin sie mit kalten Augen beobachtete.
Die Sonne blitzte zwischen den Wolken hindurch und Albert machte sich zum Parkplatz der Gerichtsmedizin auf. Daneben lag eine kleine, grell beleuchtende Bäckerei, die überhaupt nicht seinen Vorstellungen eines souveränen Unternehmens entsprach, allerdings hatte er Hunger und kaufte sich ein belegtes Brötchen mit Ei und Käse. Die Kassiererin lächelte ihn an und Albert war damit überfordert. Einerseits wollte er üben, fremde Menschen nicht seine missmutige Laune spüren zu lassen, andererseits fiel ihm das so schwer, dass er dafür zu viel Energie aufwenden musste und dieser Umstand seine Stimmung noch mehr drückte. Aus dieser Matrix an Gedankengängen entstand eine Schlechte-Laune-lächel-Grimasse, die nun wiederum die Verkäuferin irritierte.
Ein unangenehmer Vertragsabschluss eines Brötchenkaufs , dachte Albert und verließ zügig den Laden.
Vor seinem Auto biss er ein großes Stück ab und zückte sein Handy. Eine Mail von Dr. Schnittker wurde ihm angezeigt. Außerdem sechzehn Anrufe in Abwesenheit. Fünfmal Emine, elfmal seine Tochter.
»Scheiße. Sie weiß es.«
Sein Hunger war wie weggewischt. Er hatte zwei Mailboxnachrichten und hörte diese nun schleunigst ab.
»Ich bin auf dem Weg zu dir«, hörte er seine Tochter Marie sagen.
Klick, das war’s. Keine weiteren Worte, und die Tonlage ließ den Schluss zu, dass Justus seiner Tochter gesteckt haben musste, was er getan hatte. Ihm wurde schlecht und leicht schwindelig, weil er in der gesamten Zeit, in der er seine Tochter überwacht hatte, nie in Erwägung gezogen hatte, dass sie seine abstrakten Maßnahmen jemals herausfinden könnte.
Von Bremen nach Lingen. Etwa zwei Stunden Fahrzeit, vielleicht etwas mehr. Die Nachricht war dreißig Minuten alt.
»Ich bin erledigt.«
Er biss appetitlos von dem Brötchen ab und hörte sich die zweite Nachricht an. Sie kam von Emine. »Albert! Wieso gehst du denn nicht an dein Telefon, verdammt noch mal? Deine Tochter … Marie weiß Bescheid! Justus hat sie über deine Überwachungsmaßnahmen informiert. Was bist du nur für ein Idiot? Hast du mal etwas von Privatsphäre gehört? Willst du deine Tochter dazu bringen, jeglichen Kontakt mit dir abzubrechen? Ich verstehe, warum du glaubst, du tätest das Richtige. Dem ist nicht so! Du hast riesigen Bockmist gebaut. Wie konntest du nur? Am besten rufst du Marie vorab an und bittest um ein Gespräch, bevor sie von sich aus bei dir aufschlägt. Keine Ahnung, ob du hier noch etwas retten kannst. Jetzt ist Zeit, den Dingen ins Auge zu blicken. Verdammt, Albert! Am Ende darf ich das mit ausbaden, weil du noch weniger umgänglich bist. Mhm, Mann! Jetzt zum Fall. Zweiundfünfzig? Oder N zweiundfünfzig? Was heißt das? Ich habe keine wirkliche Idee. Jesaja zweiundfünfzig gibt es in der Bibel. Das sind letztlich nur wirre Texte, die keinerlei Bezug zu unseren Opfern haben. Simon Fietz hatte keinen Bezug zur Kirche. Auch war der Mord an sich nicht religiös ausgelegt. Du weißt schon, ein Pentagramm oder ein Kreuz oder sonst etwas. Ruf mich an, sobald du das hier … Oh. Ich …«
Klick.
»Was war das?«, raunzte Albert und war völlig überrascht, wie Emine das Gespräch plötzlich beendet hatte.
Er wählte ihre Nummer, doch leider nahm sie nicht ab. Er versuchte es ein paarmal, gab dann aber auf. Neben der Panik, die es sich wegen seiner Tochter in seinen Innereien bequem gemacht hatte, überkam ihn auch ein anderes Gefühl. Albert konnte es nicht genau definieren. Vermutlich war nichts und er stand lediglich vor einer Panikattacke, weil er seine Tochter endgültig vergrault hatte. Also fuhr er nach Hause, parkte seinen Wagen in der Garage, ging hinüber zur Weinhandlung, um sich sechs Flaschen Rotwein der Marke Kaiserstuhl – Freesia zu kaufen, und wartete in seiner Wohnung, bis Marie bei ihm auftauchte.
Und das dauerte nicht allzu lange.