Es dauerte eine knappe Stunde, bis Dr. Schnittker und sein Assistent, Dr. Krahn, am Tatort eintrafen. Albert hatte sich bereits mit Dirk und Tarek zum Tatort begeben. Der Dieksee war weiträumig abgesperrt. Beamte der Schutzpolizei hatten gelbes Absperrband an umliegende Bäume befestigt. Kollegen der Hundestaffel fingen jetzt an, das Gebiet nach weiteren Spuren zu durchkämmen. Bisher allerdings ohne Ergebnis.
»Und wieso ist Emine jetzt nicht hier?«, fragte Dirk erneut, obwohl Albert seine erste Frage bereits gehört und bewusst ignoriert hatte.
»Ich habe dir die Frage gerade nicht beantwortet, und das hat einen Grund. Sie hat einen Termin, der dich nicht zu interessieren hat.«
»Obwohl wir eine Leiche …«
»Schluss jetzt!«, zischte Albert. »Wenn du nicht aufpasst und dich weiter überdienstlich für deine Kollegin interessierst, wird das ernsthafte Konsequenzen für dich haben.«
Albert war an Dirk bis auf wenige Zentimeter herangetreten, sodass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten.
Tarek hob beruhigend die Arme. »Fahren wir alle mal etwas runter. Dirk, Albert hat recht. Ich habe dir bereits gesagt, dass du aufpassen musst. Sexuelle Belästigung ist ein ernstes Thema. Albert, beruhig dich. So kenne ich dich ja gar nicht.«
»Letzte Warnung, sonst lasse ich dich an den Nordpol versetzen. Ich bin zwar ein unbeliebter Hase, aber ein geachteter. Ich habe bei fast jedem etwas gut. Merk dir das!« Albert ließ von Dirk ab und blickte über das Flatterband zum Gebüsch, wo die Konturen eines verbrannten Körpers erkennbar waren.
»Ich wollte doch bloß wissen, ob alles in Ordnung ist«, meinte Dirk kleinlaut.
»Doktor Schnittker ist da«, sagte Tarek und hob die Hand zum Gruß.
Der silberne Kombi hielt auf einem nahen Parkplatz und zwei Männer stiegen aus. Die drei Beamten kamen zu ihnen herüber und ließen sich weiße Overalls aushändigen.
»Irgendwie stecken wir da momentan zu oft drin«, meinte Tarek, um die Stimmung aufzuheitern.
»In der Tat, dennoch ist die Verhinderung der Spurenvernichtung essenziell«, entgegnete Dr. Schnittker berufsmonoton. »Haben Ihre Kollegen in Uniform den Tatort sauber hinterlassen?«, wollte er als Nächstes wissen.
»Nachdem sie die Leiche entdeckt haben, wurde der Bereich umgehend abgesperrt und jeder Spaziergänger weggeschickt. Wir lassen jetzt die Umgebung absuchen. Bis dahin ist keiner dem Fundort nahe gekommen«, sagte Dirk und blickte immer noch etwas unsicher zu Albert.
»Gut. Auf dem Acker des ersten Tatortes waren unzählige Fußspuren, die wir jetzt mit denen Ihrer Kollegen abgleichen müssen. Dilettantisches Verhalten war das. Und das Kranium von Herrn Fietz, den Schädel, haben Sie auch bisher nicht finden können. Nun gut, lassen Sie uns mal sehen, was wir hier haben.«
Nachdem alle bekleidet waren, gingen sie Dr. Schnittker hinterher. Eine uniformierte junge Frau hielt das Absperrband hoch, sodass sie darunter hindurchschlüpfen konnten. Der Anblick, der sich ihnen bot, war grotesk. Trotz Maske roch es schlagartig so, als hätte jemand Spareribs zu lange auf einem Grill gelassen.
Es war die Leiche einer Frau. Wieder ohne Kopf. Geschmolzene Haut hatte sich mit langen blonden Haarsträhnen – die vor der Abtrennung des Kopfes vermutlich um den Hals des Opfers lagen und nicht komplett verbrannt waren – verbunden, wie es Kerzenwachs mit Insekten tat, die der Flamme und dem Wachs zu nahe gekommen waren. Der Körper lag auf der Seite wie in Fötusstellung. Es waren Überreste von verbrannter Kleidung zu erkennen, die ebenfalls auf ein weibliches Opfer schließen ließen. Ein Damenschuh hatte sich durch die Hitze mit dem übrig gebliebenen Fuß verbunden. Der zweite lag etwas abseits und wurde durch ein gelbes Schild der Spurensicherung markiert. Fotos wurden geschossen. Dr. Schnittker rief einen der zwei Fototechniker zu sich und bat darum, Torso und Extremitäten abzulichten. Anschließend nahm er sein iPad, um die Tote zu filmen und eine Audioaufnahme anzufertigen.
»Erneut finden wir ein Opfer ohne Kranium und Unterkiefer vor. Das macht die Identifizierung schwerer. Ohne Zahnprofil und Fingerabdrücke, weil die Hände zu verbrannt sind, wird erst wieder eine DNA-Analyse zeigen müssen, ob wir es hier mit der Vermissten Bettina Kemper zu tun haben«, sagte Dr. Schnittker mehr zu sich selbst und seinem iPad, als zu den anderen. »Wir erkennen Verbrennungen dritten und vierten Grades der Cutis. Keine vollständigen und durchgehenden Brandmerkmale, wie wir sie hätten, wenn das Opfer etwa bei einem vollumfänglichen Hausbrand involviert gewesen wäre. Die Sehnen der Extremitäten wurden durch die Hitze verkümmert und zogen sich zusammen, sodass wir die übliche Fötusstellung vorfinden. Die nicht verbrannte Kleidung hat sich stellenweise mit dem Körperfett verbunden.«
»Fett? Die Frau war doch kein Stück übergewichtig«, meinte Tarek.
Dr. Schnittker wirkte irritiert, weil er in seiner Arbeit abgelenkt wurde. Er sammelte sich und schob sich mit einem Finger die Brille auf seiner Nase wieder hoch.
»Jeder Mensch hat Körperfett. Extremsportler vielleicht zwischen vier und sieben Prozent, aber dennoch. Eine normal schlanke bis dünne Frau hat immer noch zwischen zehn und fünfzehn Prozent Fettanteile. Völlig ausreichend, um wachsartig zu schmelzen und sich mit anderen Gegenständen wie Kleidung zu verbinden.« Er referierte dies etwas genervt.
»Wir müssen davon ausgehen, dass es sich bei der Toten um Bettina Kemper handelt, bis das Gegenteil bewiesen wird. Was ich nicht glaube«, meinte Albert. »Gibt es sonst eine Möglichkeit, herauszufinden, bis auf eine Analyse ihrer DNA, ob es sich um Frau Kemper handelt?«
»Der Ehemann hatte angegeben, dass sie einen breiten Ring mit einem falschen grünen Smaragd an der rechten Hand am Tag des Verschwindens getragen hatte. Am Zeigefinger«, meinte Dirk.
Albert sagte: »Ein Smaragd ist immer grün.«
Dr. Krahn umrundete die Leiche, wedelte ein paar Insekten vor seinem Gesicht weg und drehte die verbrannte Hand so, dass man sie besser sehen konnte. Ein breiter Ring am Zeigefinger mit einem grünen Stein, der von Ruß bedeckt war, kam zum Vorschein.
»Ich werde mit Emine zu ihrem Ehemann fahren. Sag den Kollegen in Kirchdorf, sie sollen ihm Bescheid geben. Die Familie darf es nicht aus der Presse erfahren, falls es nicht schon zu spät ist.« Albert blickte zu den Schaulustigen. Er verließ sodann den Tatort, wurde aber von Dr. Schnittker aufgehalten.
»Äh, Herr Zeiler, Moment mal. Sehen Sie mal hier.«
Albert ging die paar Schritte zurück und musste sich konzentrieren, um sich nicht aufgrund des Gestanks nach verbranntem Fleisch übergeben zu müssen. Auch Tarek und Dirk wollten eigentlich schnell gehen, um die Leichenuntersuchung den Experten zu überlassen.
»Was gibt es denn?«, wollte Albert wissen.
Dr. Schnittker zeigte auf den abgetrennten Hals. »Faserungen wie bei Simon Fietz. Nur deswegen habe ich Sie nicht aufgehalten.«
»Sondern?«
Der Gerichtsmediziner ließ sich von seinem Assistenten eine dünne Kunststoffpinzette geben und zog zwei metallene Gegenstände aus dem Hals. Eiter und rötliche Flüssigkeiten sickerten aus der Wunde. Albert schloss die Augen und übte sich in Selbstbeherrschung. Die Gegenstände hatten die Form von einem R und einem L.
»Was haben wir da?«, fragte er.
»Wenn ich raten müsste, haben wir es hier mit technischen Einstellparametern für eine Durchleuchtungsuntersuchung zu tun. Kurz gesagt: Rechts- und Linksschablonen, die bei einem Röntgenbild benutzt werden, um zum Beispiel die Aufnahmen einer Hand oder eines Knöchels zu unterscheiden. Die medizinischen Fachangestellten legen diese metallische Kennzeichnung neben das zu röntgende Areal und können auf dem Bild klarstellen, dass es sich um die rechte oder linke Seite handelt. Ist nach der vorgeschriebenen Röntgenverordnung Standard.«
»Hm«, machte Albert. »Was bedeutet das?«
»Ich weiß es nicht. Ich vermute mal, wir sollten den Körper röntgen. Ich kann erst mehr sagen, wenn wir in der Gerichtsmedizin angekommen sind. Es wird sicherlich etwas dauern, bis wir die Untersuchung hier abgeschlossen haben. Frühestens morgen wissen wir mehr.«
Tarek, Dirk und Albert gingen zum Parkplatz zurück. Tarek zündete sich eine Zigarette an und hielt ihnen die Schachtel hin. Beide verneinten.
»Einer bleibt hier. Beobachtet die Leute, die hier anhalten, um zu gaffen. Fotografiert auffällige Personen, wenn es sein muss. Vielleicht will sich der Täter ja blicken lassen. Hat es schon mal gegeben.«
»Ich übernehme das«, sagte Dirk, der jetzt hoffte, bei Albert wieder punkten zu können.
»Gut. Tarek, fahr zurück aufs Revier. Sieh mal nach, ob der Laptop von Justus angeschlagen hat.«
»Alex ist pausenlos im Ermittlungsraum. Er hätte sich sicher gemeldet. Aber klar, ich mache es.« Er rieb sich über die weiße Narbe in seinem Gesicht und wirkte unschlüssig. »Glaubst du wirklich, damit erreichen wir etwas?«, fragte Tarek skeptisch.
»Ich weiß es nicht. Bisher haben wir nichts. Nur zwei Tote, und ich befürchte, wir werden den Friedhof sich weiter füllen sehen, wenn wir nicht bald Handfestes finden. Da nehme ich alles, was ich bekommen kann.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich werde mich mit Emine treffen, sie briefen und gleich morgen früh mit ihr Bettinas Ehemann in Kirchdorf besuchen.«
»Du willst das selbst in die Hand nehmen und nicht den Kollegen vor Ort überlassen? Ich meine, sie werden dem Ehemann ja sowieso den Leichenfund seiner Frau melden«, fragte Tarek verblüfft.
»Genau. Ich will wissen, was die beiden Opfer gemein hatten. Und ich traue keiner Kollegin und keinem Kollegen, die ich nicht kenne. Ich muss aus erster Hand sehen, mit wem ich es zu tun habe. Die Beamten dort sollen mit einem Seelsorger schon ruhig hinfahren und ihm sagen, dass wir seine Frau gefunden haben. Zumindest sieht es danach aus. Nicht mehr lange und er wird es aus den Nachrichten erfahren. Die Aasgeier werden schon bald Wind davon bekommen. Das Gespräch führe ich dennoch morgen selbst mit dem Ehemann. Hinterfrage also meine Entscheidungen nicht«, sagte er gereizt. »Ruf mich an, wenn du etwas hast.«
Albert stieg in seinen Wagen, zog sein Handy aus der Tasche und wählte Emines Nummer.
»Hallo?«, meldete sie sich. Ihre Stimme zitterte.
»Ich komme zu dir. Geht es dir gut?«
»Nein.«
Albert schwieg.
»Komm bitte einfach her.«
»In Ordnung.«
»Es tut mir leid. Ich habe Scheiße gebaut.«
Sie legte auf, ohne seine Antwort überhaupt abzuwarten. Was hätte er sagen sollen? Was konnte denn plötzlich Schlimmes passiert sein, wo er doch gerade angefangen hatte, sie zu mögen?
Als Albert bei Emine angekommen war, wusste er, was sie gemeint hatte. Sie hatte etwas Furchtbares getan.