Kapitel 36

Emine schob sich zwei Pommes mit Mayo in den Mund, nachdem sie ihre Cheeseburger bereits verdrückt hatte. Albert war beeindruckt, wie viel diese junge Frau essen konnte. Er hatte sich für ein Big Mac Menü entschieden, während sich Emine zwei Portionen Pommes, zwei Cheeseburger, einen Homestyle Crispy Chicken sowie eine Cola und einen gezuckerten Kaffee gönnte. Mit ihren knapp eins siebzig sah sie wie eine junge Athletin aus, die kein Gramm zu viel hatte. Vielleicht hatte sie ja eine Schilddrüsenüberfunktion, mutmaßte Albert. Die beiden hatten sich entschieden, während der Fahrt und den Rest in Alberts Wohnung zu essen. McDonald’s war trotz der späten Uhrzeit völlig überfüllt gewesen, und darauf waren sie mental nicht vorbereitet. So hatte Albert den Drive-in angesteuert.

»Was war das?«, fragte Emine und hatte beinahe ihre Pommes auf ihrem Schoß herunterrutschen lassen.

Albert hatte es auch gesehen. Es war ein kurzes Aufblitzen am Rande seines rechten Scheinwerferkegels. Als sie genauer hinsahen, war nichts mehr zu sehen.

»Rehe. Damwild. Wildschweine. Ein Wolf? Es gibt hier mittlerweile so viele Tiere. Zwischen Elbergen und Lohne haben wir ja ständig Wildunfälle. Und auch diese Straße ist stark frequentiert, was die illegalen Überquerungen unserer Waldbewohner angeht.«

Umständlich biss er von seinem Big Mac ab, während er mit der anderen Hand sein Lenkrad unter Kontrolle zu behalten versuchte. Soße kleckste von seiner Hand auf das Lenkrad, auf seine Hose, auf seinen Schuh. Emine tat so, als hätte sie es nicht gesehen, konnte sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Genervt warf er den Rest seines Essens zurück in die neue braune Tüte, die vor Emines Füßen neben der alten braunen Tüte stand.

»Was ist das mit deinen zuckerhaltigen Getränken? Du haust dir Cola und Zuckerkaffee rein, wie andere Menschen Wasser trinken.«

»Mittlerweile ist dieses Gesprächsthema ja irgendwie witzig. Meine Gegenfrage kennst du: Warum trinkst du zu viel Alkohol«, sagte Emine.

»Weil es mir guttut! Ich mag es einfach, und ich bin kein Alkoholiker, Mensch!«

Er hatte irgendwie das Gefühl, dass ein Lügendetektor nun ausgeschlagen hätte, obwohl er doch felsenfest davon überzeugt war, eigentlich ein gesundes Verhältnis zum Alkohol zu haben. Eigentlich …

»Und ich trinke eben gern zuckerhaltige Getränke. Ich habe versucht, Kaffee schwarz zu trinken. Wochenlang habe ich mir das Zeug reingeschüttet. Immer in der Hoffnung, meine Geschmacksknospen werden sich schon daran gewöhnen. Pustekuchen. Es war immer widerlich. Zucker hält mich auf Trab. Außerdem habe ich Probleme mit meiner Schilddrüse. Wenn ich nicht genügend Energie nachliefere, verliere ich an Gewicht. Und das ist eben ein Problem, auch wenn viele Frauen bestimmt gern tauschen würden. Es ist sicher nicht schön, das kann ich dir sagen. Wenn Menschen dich angucken, als wärst du magersüchtig.«

Den Rest der Fahrt schwiegen sie, und Albert versuchte, unauffällig die klebrige Soße auf seiner Kleidung zu entfernen. Er machte es nur schlimmer.

 

Justus saß vor seinen drei Bildschirmen, und das schwarze Loch in seinem Magen meldete sich. Trinity tanzte vor ihm und hatte noch immer keinen Treffer gelandet.

»Magnete, Holzkugeln, Schwimmbecken. Was bin ich für ein Idiot.« Er zweifelte mittlerweile an sich selbst.

Auch der Film Monster AG auf einem der Bildschirme munterte ihn keinesfalls auf, obwohl seine alten Kinderfilme sonst eigentlich immer dafür sorgten, dass er sich gut fühlte.

»Knuffelmuffin, ich glaube, deine Pizzen sind da«, rief seine Granny von oben.

Pizzen. Mehrzahl. Justus, du bist ein alter Fettotter.

Er hatte ein Problem. Und zwar mit sich selbst. Als er diese Ermittlerin Emine Laub zu Gesicht bekommen hatte, war ihm fast schwindelig geworden. Er würde fast behaupten, er hätte sich in die Kriminalbeamtin verknallt. Mehr noch. Justus musste sich eingestehen, dass er sich spontan verliebt hatte. Das letzte Mal, als er dieses Kribbeln im Bauch gespürt hatte, war, als Blizz ihm ein Foto von ihr in ihrem BH geschickt hatte. Sie hatte kaum Brüste, aber dennoch waren sie die sexuell aufregendste Erfahrung gewesen, die er je persönlich gesammelt hatte. Blauer Büstenhalter, weiße, samtige Haut und rötliche Haare, die von oben in das Foto hereingefallen waren. Er wusste damals nicht, was er von sich zeigen sollte, da er einfach zu dick war. Blizz jedoch hatte das nichts ausgemacht. Sie wusste, dass er sich schämte, und sagte, er solle sich einfach melden, wenn er bereit sei, sich außerhalb des Web kennenzulernen. Das war das erste Mal, dass er wirklich abnehmen wollte. Aber wie es so ist, kam ihm immer wieder der Hunger dazwischen. Hunger war der einzige Begleiter, der ihm stets treu war. Und seine Granny machte es auch nicht einfacher, indem sie ihm immer wieder Leckereien kochte, backte und briet. Emine war nun der zweite Grund. Sollte die Welt doch zur Hölle fahren! Er würde jetzt abspecken. Und er wollte damit beginnen, den Pizzaboten zu bezahlen, ein letztes Mal mitten in seine Quattro Formaggi zu beißen und den Rest zu entsorgen.

»Komme, Granny«, rief er durch die geöffnete Tür den Treppenflur hinauf.

»Beeil dich«, schallte es zurück.

Merkwürdig. »Beeil dich« war nicht unbedingt im Wortschatz seiner Granny enthalten. Genauer gesagt, hatte er das noch nie von ihr gehört. Außerdem kamen seine Pizzaboten immer die Treppe herunter, weil er ihnen dafür Trinkgeld gab, dass er seinen breiten Leib nicht selbst hochquälen musste.

Justus erhob sich schwer aus seinem Stuhl, als Trinity plötzlich stehen blieb und eine Information auf dem Bildschirm auftauchte.

GAME OF THRONES, Staffel 4, Folge 6

 

»Was? Ich glaub’s nicht!«

Trinity war erfolgreich gewesen. Die Metadaten, die er aus dem gestreamten Mordvideo an Bettina Kemper abgefangen hatte, zeigten ihm, dass der Darknetkiller irgendwann einmal über seine Leitung eine Folge von Game of Thrones illegal erworben hatte. Irgendwelche Restbestände an Datenmüll hatte Trinity mit dem Livestream im Netz in Verbindung bringen können. Hierdurch würde es Justus gelingen, die Website des Downloads zu finden und so auch den Fußabdruck einer IP-Adresse zu generieren. Wenn er sich nicht irrte, konnte er in wenigen Stunden den Namen und die Adresse des Darknetkillers ausmachen.

Dann passierten drei Dinge fast zeitgleich.

Erstens stand plötzlich Granny in seiner Tür. »Jung, hier stimmt etwas nicht.«

Zweitens machte Justus‘ Herz beinahe einen Satz durch seine Rippen, als er bemerkte, dass ein fremder Mann hinter seiner Oma stand, der niemals ein Pizzabote war. Er trug dunkle Kleidung und hatte eine weiße Kunststoffmaske auf, die lediglich seine Augen preisgab. Irgendwie hatte Justus das Gefühl, dass sie ihm bekannt vorkamen.

Drittens schickte er mit flinken Fingern eine Nachricht über den Messengerdienst Telegram an Blizz, bevor der fremde Mann etwas bemerkte.

»Hallo, Justus«, sagte der Mann und hielt eine Sig Sauer P320 mit Schalldämpfer an den Kopf seiner Granny. Durch die Verlängerung des Laufes wirkte es fast so, als hätte er die Lanze eines Hochdruckreinigers in der Hand. Wenn der Mann die Waffe neben sich am Arm herabhängen lassen würde, würde die Spitze des Schalldämpfers sein Schienbein erreichen.

»Wer sind Sie?«

Er schlug seiner Granny mit der Waffe gegen den Hinterkopf, die daraufhin zur Seite kippte und vor Schmerz aufheulte. Justus urinierte sich in seine Hose.

»Ich stelle hier die Fragen. Du weißt genau, wer ich bin. Und du weißt auch, warum ich hier bin. Und wie ich sehe, komme ich gerade rechtzeitig.«

Er nickte zu dem Bildschirm, auf dem Trinity in schwarzen Buchstaben weiterhin Game of Thrones anzeigte.

»Ich habe der Polizei nichts gesagt«, meinte Justus.

Der Mann schoss seiner Granny in den linken Fuß. Durch die Schmerzen verlor sie das Bewusstsein. Vielleicht hatte sie auch einen Herzinfarkt erlitten. Alles drehte sich um Justus, und sein Körper weigerte sich zu glauben, was hier geschah. Er spürte, dass es nicht nur Urin war, was sein Körper vor Panik ausschied.

»Stell das ab. Und stell außerdem sicher, dass der Laptop bei der Polizei diesen Hinweis deiner Suchmaschine nicht repliziert. Anschließend kannst du deiner Omi einen Krankenwagen rufen. Sie sieht nicht gut aus. Ihre Zeit läuft ab.«

Justus wusste, dass das gelogen war. Aber er wollte nicht, dass seine Granny weitere Schusswunden erleiden musste, bis auf die letzte, die sicher folgen würde. Er tippte Kommandos in seinen PC und Trinity schaltete sich ab.

»Bitte lassen Sie uns am Leben. Wir haben Ihnen kein Leid zugefügt. Meine Oma ist eine wundervolle alte Frau. Ich bitte Sie«, flehte Justus und setzte sich auf seinen Stuhl.

»Solche Typen wie du sind immer vorbereitet, falls hier die Polizei reinschneien sollte. Zerstöre deine Festplatten!«

Justus tat gar nicht erst so, als wüsste er nicht, was der Mann mit der Pistole meinte. Er riss einen Wandschrank auf und holte ein Neodym, einen besonders starken Magneten, heraus. Damit fuhr er über die Außenseite seines Towers. Umgehend flackerten die Bildschirme auf, und alle Daten, die jemals auf seinen Festplatten waren, gingen unwiderruflich verloren.

Der Mann hielt seiner Oma die Waffe an den Bauch. »Ein Schuss in den Magen ist die vielleicht schmerzhafteste Methode, zu sterben. Zumindest habe ich das mal gelesen. Ich sehe es sofort, wenn du mich anlügst. Das ist eine Gabe, die ich von meinem Alten erhalten habe. Bist du dir ganz sicher, dass der Laptop bei der Polizei keine Daten über mich empfangen hat?«

Er blickte Justus tief in die Augen und nahm jede Regung seiner Gesichtszüge wahr.

»Ich schwöre es bei Gott, bei allem, was ich bin und jemals war. Was meine Granny für mich ist und was ich jemals sein wollte. Trinity ist abgeschaltet, und wenn die Daten nicht über meinen Server laufen, ist der Laptop bei der Polizei wertlos.«

Der Mann glaubte ihm und ließ die Waffe sinken.

»Was haben Sie jetzt mit uns vor?«, fragte Justus.

Erik hielt Justus fest im Blick. Auf dem Boden an die Wand gelehnt saß seine Großmutter und verlor viel Blut. Vielleicht lag es daran, dass er eine Arterie getroffen hatte, oder es lag daran, dass die alte Dame blutverdünnende Medikamente einnehmen musste, was jetzt dazu führte, dass es nicht mehr gerann.

»Was haben Sie jetzt mit uns vor?«, fragte Justus erneut.

Erik warf noch einen Blick auf die Bildschirme des Computers. Sie flackerten, und er war sich sicher, da Justus ihn nicht belogen hatte. Alle Datensätze waren gelöscht. Er hob die Pistole, schoss Justus ins Herz und in die Stirn, drehte sich zur Seite und schoss der Großmutter ebenfalls ins Herz und in die Stirn.

Der Schalldämpfer und die Unterschallmunition sorgten dafür, dass niemand die Schüsse hören konnte, auch wenn es hier im Keller zwischen den Wänden laut wirkte.

Wie aus dem Nichts vernahm Erik das Zuschlagen einer Autotür.

 

Erik eilte die Treppe hinauf und sah einen Pizzaboten, der drei Kartons in den Händen hielt. Der Motor des Wagens lief im Leerlauf, und Abgasschwaden kräuselten sich in die Luft.

Nicht gut , dachte Erik. Hat der Kerl die Schüsse gesehen?

Das Aufblitzen des Mündungsfeuers hatte den Flur viermal kurz erhellt. Damit hätte auch jemand draußen auf der Straße die Lichtblitze sehen können.

Er konnte den Lieferanten nicht einfach ermorden, weil sein Verschwinden in der Pizzeria bald auffallen würde. Also würden sie nachsehen, wo die letzte Bestellung hingegangen war, und anschließend würde es hier nur so von Cops wimmeln.

Das wäre wirklich nicht gut!

Der Pizzabote stand vor der Tür und klingelte. Dann noch mal und ein weiteres Mal. Erik beobachtete ihn ein paar Treppenstufen tiefer durch den Glaseinsatz der Haustür. Es war im Flur nach wie vor finster, und er wusste, dass man ihn von außen nicht würde sehen können. Der Pizzabote griff zu seinem Handy.

Das Handy von Justus!

Auf keinen Fall durfte der Kerl vor der Tür den Klingelton hören. Erik hetzte so leise es ging die Treppenstufen hinab, sprang zu Justus‘ Leichnam und holte dessen Handy aus seiner Tasche. Es war gesperrt, und Erik hatte somit nicht die Möglichkeit, den Ton auszustellen. Also drehte er mit viel Kraft den Toten auf die Seite und platzierte das Handy darunter. Keine Sekunde zu spät. Der Klingelton kam erstickt unter Justus hervor, war vor der Haustür jedoch nicht zu hören. Erik ging wieder ein paar Stufen im Flur hinauf und zielte mit seiner Pistole auf den Lieferanten. Dieser schüttelte kurz genervt den Kopf, stellte die Kartons vor der Tür ab, warf eine Rechnung durch den Briefschlitz und verschwand.

Glück gehabt.