Kapitel 37

»Also ist es so gut wie unmöglich, dass die verbrannte Leiche nicht die von Bettina Kemper ist«, schlussfolgerte Emine.

Albert hatte ihr berichtet, wie sie die Leiche am Tatort entdeckt hatten.

»Natürlich warten wir die forensischen Ergebnisse von Doktor Schnittker ab. Er kann leider nicht ihr Zahnprofil mit dem der Toten vergleichen, weil der Kopf wieder fehlt. Es wird am Ende eine DNA-Analyse zeigen. Der Ring mit dem Smaragd ist hingegen schon sehr eindeutig. Wir wissen alle, dass sie es ist«, sagte er.

»Gut, dass dieses Mädchen die Tote so schnell gefunden hat. Vielleicht finden sich ja doch noch Beweise am Körper von Frau Kemper.«

Emine und Albert saßen auf seinem Sofa und hatten beide ein Glas Mineralwasser vor sich. Die restlichen Papierverpackungen ihres Essens lagen daneben. Emine war stumm geworden, nachdem sie von dem Mädchen gesprochen hatte. Der Schock, den sie durch die dramatischen Ereignisse mit ihrem Vater erlebt hatte, kam bei ihr immer wieder hoch. Unbeholfen rieb Albert mit seinem Fuß über den Rotweinfleck auf dem Flor. Dort hatte der mit GPS bestückte Ring seiner Tochter gelegen, nachdem sie ihn damit abgeworfen hatte.

»Wir sollten …«, sagte Albert.

»Wollen wir …«, begann Emine gleichzeitig. »Du zuerst.«

»Ich schenke mir jetzt etwas ein. Wenn wir diese Sache abgeschlossen haben, trinke ich weniger. Vielleicht auch nichts mehr. Jetzt brauche ich das einfach. Ich kann es mir nicht leisten, abstinent zu werden und geistig nicht auf der Höhe zu sein.«

Emine entgegnete: »Ich wollte dasselbe vorschlagen.«

Eine Minute später hatten sie jeder ein Glas Rotwein in der Hand, und Albert hatte Musik von Norah Jones auf seiner Anlage leise eingeschaltet. Sanft sang die Sängerin etwas über eine Überraschung, die sie im Leben erfahren hatte, aus dem Song Sunrise .

Überraschung. Ja, das konnte man wohl laut sagen. Die Entwicklungen ihrer beider Leben war in der Tat überraschend und überwältigend gewesen.

»Danke, Albert.«

Er nippte an seinem Glas und nickte. »Schon gut. Wir reden nie wieder darüber.«

»In Ordnung.«

Emine trank ihr Glas in einem Zug leer und forderte ihn auf nachzuschenken.

»Wir müssen morgen früh zu Jens Kemper, dem Ehemann des zweiten Opfers. Ich habe uns gegen zehn Uhr angekündigt. Die zwei Kinder können in der Zeit von der Großmutter betreut werden. Sie sind sechs und zehn Jahre alt.« Er schenkte sich ebenfalls nach. »Wie sollen die Kleinen jetzt ohne Mutter zurechtkommen?«, fragte er lediglich hypothetisch.

Eine Antwort erwartete er von Emine nicht, und sie sagte auch nichts dazu. Was sollte sie schon von sich geben? Dass die Kinder eines Tages schon damit würden leben können? Dass sie vielleicht daran zugrunde gingen und seelische Wracks wurden? Alles Spekulation.

»Ich werde morgen früh schon fit sein«, antwortete sie stattdessen und ließ sich nochmals nachschenken. »Was ist mit deiner Tochter passiert? Wieso hast du sie ausspioniert?«

Albert war darauf vorbereitet gewesen. Er hatte geahnt, dass jetzt der Zeitpunkt gegenseitiger Offenheit kam. Und das war auch okay. Zum ersten Mal wollte er sogar darüber reden. Über alles …

Er stand auf, stellte sein Glas auf den Tisch und ging zu seinem Schreibtisch neben der Eingangstür. Er schaltete den PC ein und öffnete das Überwachungsprogramm. Wie erwartet, waren die Bildschirme schwarz.

Connection issues stand auf jedem Fenster der Überwachung. Er schloss die Augen und ging in Gedanken durch, wovon er seit ewiger Zeit immer wieder träumte. Als würde dieser Traum seinen Tribut fordern. Ihn am Boden halten. Ihm keine Möglichkeit geben, aufzustehen.

Es roch verbrannt, und Albert wusste, was das bedeutete. Mit schweren Beinen, und mit einem großen Kloß im Hals, ging er über die asphaltierte Straße. Im Bankett standen seine Kollegen. Sie hatten bereits eine breite weiße Plane errichtet, damit schaulustige Autofahrer, die unregelmäßig vorbeifuhren, keinen Blick auf den Tatort werfen konnten.

Die Luft war kühl und der Himmel sternenklar. Hier draußen gab es kaum Lichtverschmutzung, sodass der Große Wagen kaum zu erkennen war, weil die leuchtschwachen Sterne dahinter plötzlich ebenfalls sichtbar waren und die Konturen des Sternbildes verwischten. Albert fand ihn trotzdem, weil er sich seit jeher für Sterne und den Weltraum interessierte. Verband man die beiden hinteren Sterne des Großen Wagen mit einer imaginären Linie und folgt dieser der siebenfachen Länge nach oben, richtete sich der Blick automatisch auf den Polarstern. Dieser gehörte zum Kleinen Wagen und wirkte nun so extrem hell, als wäre er in dieser Nacht um die doppelte Größe gewachsen. Doch heute beeindruckte Albert dieses Schauspiel nicht. Er zitterte am ganzen Leib und richtete den Blick wieder nach vorn.

»Albert, was machst du hier?«, fragte ihn sein Partner, Bartold Kesser.

»Ich muss es sehen«, flüsterte er.

Er spürte Hände auf seinen Schultern, die ihn festhielten, aber er drückte sie weg. Zwei uniformierte Kollegen standen vor der Plane, überlegten kurz, ob sie ihn aufhalten sollten, nahmen schlussendlich die Plane doch zur Seite, nachdem Bartold ihnen zugenickt hatte.

Dahinter …

»Meine Frau wurde ermordet. Du weißt das ja.«

Albert stand mit dem Rücken zu Emine und blickte auf den Bildschirm vor sich. Er spürte, dass Emine ihn beobachtete.

»Ich habe sie an den Feuerteufel verloren. Sie war sein bisher letztes Opfer. Von den eingeritzten Kreuzen in die Stirn aller anderen getöteten Frauen hatte ich dir ja erzählt. Meine Frau hatte dieses Kreuz nicht.« Er drehte sich um, und Emine sah, wie ihm Tränen über die Wangen kullerten.

»Du glaubst, dass es dennoch der Feuerteufel war und nicht ein Trittbrettfahrer«, schloss Emine.

»Ganz recht. Das perfekte Alibi. Schließlich wusste der wahre Täter ja von den Kreuzen und hätte dies doch wieder so gehandhabt. Keinen Moment habe ich an einen Trittbrettfahrer geglaubt. Ich bin als Einziger drangeblieben, um dieses Schwein zu jagen. Politik, Presse und Kollegen hatten den Fall schon abgeschlossen. Das war dem Feuerteufel sicherlich ein Dorn im Auge, dass ich mich nicht geschlagen geben wollte. Also tötete er meine Frau und ließ dieses wichtige Detail weg. Er setzte ihr kein Kreuz auf die Stirn. Damit konnte er gleich mehrere Dinge praktischerweise erledigen. Er konnte noch einmal seinem Trieb nachgeben, warf den einzigen Ermittler völlig aus der Bahn, der ihm immer noch auf der Fährte war, und untermauerte bei Politik, Presse und Kollegen, dass der wahre Feuerteufel – der Mann aus Polen – bereits tot und dieser Fall abgeschlossen war. Er war frei und ich gebrochen.«

Emine stand auf und brachte ihm sein Glas Rotwein mit, das er mit beiden Händen umklammerte.

»Du erzähltest mir, dass der Feuerteufel bei den letzten beiden Frauen geschludert hat. Vielleicht, um sich schnappen zu lassen. Aber er hat diese Spuren mit Absicht gelegt. Um euch auf die Fährte des Mannes aus Polen zu bringen. Um ihm alles anzuhängen. Er wollte sich nicht fassen lassen. Er wollte, dass ihr aufhört. Dass ihr die Ermittlungen einstellt, weil ihr ihm zu nahe gekommen seid. Er hatte euch damit einen Sündenbock geliefert.«

Albert nickte. »Das ist genau meine Vermutung. Nur konnte ich nichts davon beweisen. Und alle waren letztlich froh, einen Sündenbock gefunden zu haben. Den Trittbrettfahrer, der meine Frau umgebracht hat, fasste man natürlich nie. Aber auch der Feuerteufel hatte nie wieder gemordet. Zumindest nicht so wie bisher. Und dieser Umstand gab allen recht, nur mir nicht. Bis heute weiß ich; er ist irgendwo da draußen.« Er deutete auf seinen Computer. »Ich hatte nur noch meine Tochter. Ich wusste, dass auch sie immer in Gefahr war, solange der Mörder ihrer Mutter noch auf freiem Fuß war. Hätte ich mich irgendwann entschlossen, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, hätte er sich Marie geholt. Hundertprozentig. Und so entschloss ich mich, meine Tochter zu beschützen, anstatt erneut auf die Jagd zu gehen.« Er hob seine rechte Hand. An seinem kleinen Finger trug er nun den Ring seiner Ehefrau. Den Ring, den seine Tochter ihm schmerzlich zurückgebracht hatte. »Ich wollte ihr nicht im Privatleben rumpfuschen.«

»Du wolltest deine Tochter einfach nur beschützen.« Emine beließ es dabei. Sie hatte keine Wertung für das Geschehene. Es war ihr klar, was in Albert vorgegangen war. Außerdem wusste sie nicht, was sie an seiner statt getan hätte. Es war ganz bestimmt nicht richtig gewesen, der eigenen Tochter nachzuspionieren. Es war auch ganz bestimmt nicht falsch, sie beschützen zu wollen. Wüsste Marie, was ihren Vater dazu bewegt hatte, wäre sie vielleicht in der Lage, ihm zu verzeihen. Aber durch den eigenen Verlust der Mutter waren auch Maries Sinne getrübt gewesen.

Wie hätte ich reagiert, wenn meine Mutter mir nachspioniert hätte, um mich vor meinem Vater zu beschützen? Diese Frage konnte sie sich irgendwie nicht richtig beantworten. Also würde sie auch kein Urteil über ihren Partner fällen.

Albert nickte und ging zurück zum Sofa. Er schenkte ihnen beiden nochmals nach und öffnete eine neue Flasche.

Scheiß auf morgen. Scheiß auf das Leben. Sollen sie mich doch rausschmeißen. Sollen sie den Darknetkiller selbst jagen, wenn sie meinen, sie könnten es besser , dachte er.

»Gibt es Verwandtschaft, die deine Tochter außer dir noch hat? Beziehungsweise die du hast? Oder steht ihr völlig allein da?«, wollte Emine wissen.

»Sie hat noch Kontakt zu ihren Großeltern. Die Eltern ihrer Mutter. Mit mir allerdings wollen sie nicht mehr reden. Da ist seit Jahren nichts mehr. Meine Pflegeeltern sind vor ein paar Jahren verstorben.«

Emine hob überrascht die Augenbrauen.

»Ja, ich kenne meine leiblichen Eltern nicht. Sie sind bei einer Wanderung ums Leben gekommen. Ich wurde adoptiert. Soll es geben.« Unbewusst griff er sich an die breite Narbe über seinem Ohr.

Emine blickte skeptisch, weil sie diese Geste falsch interpretierte.

»Nein, ich hatte wundervolle Eltern. Mir fehlte es an nichts. Keine große Sache also. Die Narbe habe ich mir beim Spielen zugezogen. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich kaum daran. Meine Adoptiveltern hätten mir nie auch nur ein Haar gekrümmt.«

»Das ist schön. Bei den meisten läuft es nicht so gut, denke ich«, meinte sie.

»Da wirst du vermutlich recht haben.«

Alberts Handy klingelte und kündigte eine Textnachricht an. Er wischte unbeholfen mit seinem Daumen darüber und schloss erschöpft die Augen.

»Was ist los?«, wollte Emine wissen.

»Peter Kleiton. Hat mir geschrieben, dass Carolin nun im Krankenhaus ist. Hat einen Schock erlitten und bleibt zur Beobachtung dort. War wohl alles etwas viel für das junge Ding.« Albert schaltete sein Handy leise und goss erneut Wein nach. Heute wollte er für einen kurzen Moment die schlimmen Dinge einfach vergessen. Nur für einen Moment. Was sollte daran so falsch sein?

 

Etwas später versuchte Alex Albert zu erreichen, weil Justus‘ Laptop einen schwarzen Bildschirm zeigte, neben dem er irgendwann eingeschlafen war. Es sprang immer nur die Mailbox an.

»Mailbox. Nachricht hinterlassen. Tschüss.« So lautete die Ansage von Albert. Alex fluchte und hinterließ mehrere Sprachnachrichten, dass er sich melden solle. Dann wählte er die Nummer von Emine, aber auch sie hatte ihr Handy offensichtlich auf Stumm gestellt.

Und während Alex überlegte, ob er einfach zu Albert fahren sollte, überlegte der Mann, der sich Erik nannte, wie und wann er sein nächstes Opfer abpasste. Mit flinken Fingern suchte er die Website einer Bar in Paderborn namens Luminous Mumbai auf. Er notierte sich die Öffnungszeiten in seinem Gedächtnis und setzte sich in seinen Sessel. Alles nahm seinen geplanten Lauf.