Es klopfte und klingelte an seiner Tür. Albert fiel von seinem Sofa auf den Teppich und stieß die zwei Weingläser von dem kleinen Tisch, die umgehend neue Rotweinflecke im Stoff kreierten.
»Verdammte …«
Sein Mund war ausgetrocknet und sein Schädel schmerzte. Nachdem er sein eigenes Bett für Emine frisch bezogen hatte, um selbst auf dem Sofa zu übernachten, war sie auch bald schlafen gegangen. Albert hatte ihr angesehen, wie erschöpft sie war. Kein Wunder, sie hatte Traumatisches erlebt. Ihn selbst wunderte es nicht, dass ihn die Ereignisse um Emines Vater kaltließen. So war er eben, und es kümmerte ihn nicht, den Abfall entsorgt und Emine belogen zu haben, um sie zu beschützen. Als er sicher gewesen war, dass seine Partnerin schlief, hatte er sich zwei weitere Flaschen Wein gegönnt. Diesen Umstand bereute er nun. Die digitale Anzeige auf der Uhr seines Küchenofens zeigte 5:28 Uhr an. Schlaftrunken setzte er sich in Bewegung, wissend jedoch, dass hinter der Tür keine guten Nachrichten warten würden. Mit einem Ruck riss er sie auf und blickte in das Gesicht von Gretchen und Jakob, die beide im Schlafanzug dastanden. Hinter ihnen wiederum standen Alex und Tarek. Auch Tarek sah aus wie Albert, als hätte man ihn überfahren.
»Was ist denn hier für ein Aufstand?«, fragte Albert perplex.
»Tut uns leid, leider hast du deine Klingel nicht gehört. Deswegen haben wir deine Nachbarn wecken müssen«, sagte Tarek. »Wie wir hörten, ist Emine auch hier?«
Albert nickte. »Ja, Privatsache. Sprecht sie bitte nicht darauf an. Es hat sich alles gelegt. Allerdings sollte sie nicht allein sein. Und die Klingel habe ich ignoriert.«
Albert machte etwas Platz, damit die Anwesenden die Couch sahen, auf der er übernachtet hatte. Auf Gerüchte wollte er lieber verzichten.
»Gut, ich hau mich wieder aufs Ohr«, meinte Jakob.
Gretchen drückte Albert zwei Ibuprofen in die Hand und zwinkerte. »Wasch deine Lippen ab. Man sieht den Rotwein«, meinte sie und ging zurück in ihre Wohnung.
Unaufgefordert betraten Tarek und Alex seine Bleibe. Sie betrachteten die zwei Weingläser auf dem Boden, behielten ihre Meinung jedoch für sich. Es war kein Geheimnis, dass Polizisten eine gefährdete Spezies im Umgang mit Alkohol waren. Und Albert dachte nicht daran, sein Laster zu verbergen.
»Also«, begann er. »Was zum Teufel ist so wichtig?«
Emine hatte das erste Klingeln gehört. Es war die Klingel an der Eingangstür des Gebäudes. Der Ton, wenn man den Knopf direkt vor der Wohnung drückte, war ein anderer. Allerdings hatte sie im Halbschlaf gehofft, dass es die gegenüberliegende Wohnung war. Wenig später vernahm sie Geräusche im Treppenhaus, weil die Schlafzimmerwand dünn war. Sie meinte, Alberts und ihren Namen gehört zu haben. Es bewahrheitete sich dann, als jemand mit der Faust hektisch gegen Alberts Wohnungstür hämmerte und parallel auch hier klingelte. Emine biss sich auf die Unterlippe. Es war ihr hochpeinlich, bei ihrem Kollegen zu übernachten. Bei spiegelverkehrter Geschlechterverteilung hätte kein Mensch etwas Negatives gedacht. Als Frau hatte man einfach unfaire Nachteile in dieser Gesellschaft. Und es war ja nicht mal ansatzweise so, dass zwischen ihr und Albert etwas lief.
Um Gottes willen! Allein solche Gerüchte konnten ihr schon in Sachen Karriere zusetzen.
»Mist!«
Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und zog sich frische Sachen an, die sie gestern eingepackt hatte. Frischer Slip, den BH von gestern, Bluejeans, Hemd und Sneakers. Dann lauschte sie angestrengt an der Schlafzimmertür. Sie hörte Alberts Nachbarn sprechen, dann zunächst Tarek, später Albert, wie er sie wegen der Klingel anlog. Er hatte sie einfach nur im Schlaf nicht gehört. Albert machte keine Anstalten, sie zu rufen, was ihr ein Lächeln über die Lippen bereitete.
Alter, zaudriger Knochen.
Albert tat das, damit sie Emine nicht sahen. Das wusste sie genau. Irgendwie gelangten die Besucher schließlich in die Wohnung. Kurz überlegte sie, so zu tun, als würde sie noch schlafen. Doch sie änderte sofort ihre Meinung, obwohl sie ihre Zähne nicht geputzt hatte. Sie wollte dabei sein, schließlich war sie Polizeibeamtin und etwas schien vorgefallen zu sein. Es war lächerlich, sich hier im Zimmer wie ein Kleinkind zu verstecken. Überdies würde es diesem Umstand nicht guttun, wenn sie ihren Kollegen das Denken überließ. Sie sollten sehen, dass Albert und sie ein rein berufliches Leben teilten.
War dem denn so? , dachte sie. Schließlich hatte er gestern mehr für sie getan als jeder andere Mensch – ausgenommen ihre eigene Mutter. Sie hatte keine anziehenden Gefühle für Albert, das war klar. Aber er war mehr als nur ein Kollege. Irgendwie eine Art Vaterfigur? Sie wischte die Gedanken weg und öffnete die Schlafzimmertür. Hoffentlich ist Dirk nicht dabei.
»Hallo, zusammen«, begrüßte sie Tarek und Alex, nachdem sie das Wohnzimmer betreten hatte. »Recht früh für einen Besuch.«
Sie waren so höflich und taten so, als wäre es völlig normal, dass sie sich um diese Uhrzeit bei Albert in der Wohnung aufhielt. Sie grüßten freundlich zurück und lehnten sich beide gegen den Küchentresen.
»Gut, dass du auch hier bist«, fing Tarek an. »Wir haben drei Ereignisse, die in den letzten Stunden passiert sind.«
Albert taumelte zu seiner Spüle, schluckte zwei Tabletten und trank direkt aus dem Wasserhahn. Emine hatte durchaus mitbekommen, dass Albert noch mehr getrunken hatte. Das Ploppen der Weinflaschen war deutlich zu hören gewesen.
»Wovon sprichst du?«, fragte Emine und hoffte, dass sie keinen Mundgeruch hatte. Sie legte ihren Kopf etwas schräg, damit sie keinem von ihnen direkt ins Gesicht atmete. Waren ihre Lippen ebenfalls so dunkelrot gefärbt wie die von Albert?
»Ich habe den ganzen Abend am Laptop von Justus verbracht. Immer in der Hoffnung, etwas würde sich schon tun. Na ja … Ich bin eingeschlafen«, sagte Alex. Es war ihm anzumerken, dass es ihm peinlich war. »Als ich aufwachte, war der Bildschirm schwarz. Tot. Es tat sich nichts. Ich konnte keinen Zugriff bekommen.«
»Verdammt«, meinte Emine. »Wir müssen Justus erreichen. Handynummer?«
»Wir haben keine von ihm bekommen«, meinte Alex. »Er wollte sie uns nicht geben. Was wir haben, ist seine Adresse. Also habe ich Tarek informiert, dass er die Anschrift aufsuchen soll. Ich wollte beim Laptop bleiben, falls er doch wieder funktioniert.«
Tarek fuhr fort. »Ich war gerade auf dem Weg, als ich über Funk hörte, dass ein Feuer in einem Wohnhaus in genau dem Ort ausgebrochen war, zu dem ich unterwegs war. Ich dachte, das kann kein Zufall sein. Also fragte ich in der Zentrale nach, wo genau es brannte. Und ratet mal.«
Albert hing immer noch unterm Wasserhahn und tauchte jetzt wieder auf. Sein T-Shirt war am Kragen nass, und seine Lippen hatten etwas Weinfarbe verloren.
»Nein«, meinte er.
»Doch«, betätigte Tarek. »Ich bin sofort hin, und der ganze Zirkus war schon da. Drei Wagen der Feuerwehr, Polizeistreifen, Rettungswagen. Das Gebäude stand lichterloh in Flammen.«
Keiner sagte mehr etwas. Ein paar Momente hing ein Schweigen über allen Köpfen wie ein Damoklesschwert.
»Das ist kein Zufall. Nie im Leben«, meinte Emine.
Alex und Tarek nickten. Albert hatte die Augen geschlossen und atmete schwer aus.
»Justus?«, fragte er.
»Die Feuerwehr benötigte zwei Stunden, bis der Brand gelöscht werden konnte. Weil das Haus einsturzgefährdet ist, durfte ich nicht hinein. Aber zwei von der Feuerwehr schon. Sie haben im Keller die Überreste von zwei Toten gefunden. Einer davon ziemlich breit gebaut. Trotz der Verbrennungen war das wohl zu erkennen. Die erste Vermutung war, dass die Elektronik im Keller Feuer gefangen hätte. Da standen wohl zig verkohlte Überreste an Technikgeräten. Es tauchte außerdem ein Pizzalieferant auf, der von dem Brand erfahren hatte. Er hatte Essen an diese Adresse geliefert und so etwas wie Funkenschlag im Hausinnern wahrgenommen. Zumindest glaubt er jetzt, dass es Funken waren. Vorher dachte er, es sei eine defekte Lampe, die einfach nur geflackert hätte. Es kann also sein, dass die Großmutter und Justus tatsächlich unverschuldet dem Brand zum Opfer gefallen sind. Aber ich glaube es nicht.«
»Das waren also die ersten zwei Dinge. Laptop defekt, Justus vermutlich ermordet«, stellte Albert monoton fest. »Was ist Nummer drei?«
Tarek zog sein Handy hervor. »Der Bericht von Doktor Schnittker ist gekommen. Ihr müsstet ihn auch haben. Dirk ist direkt zur Gerichtsmedizin gefahren. Doktor Schnittker hatte versucht, dich, Albert, zu erreichen. Da es ihm nicht gelungen war, hat er sich an Joachim Braunperle gewandt, der sich an mich, und ich habe Dirk hingeschickt. Doktor Schnittker hat die ganze Nacht mit der Autopsie von Bettina Kemper verbracht und war sehr ungehalten, dass der Kommissionsleiter nicht zu erreichen war. Ihr kennt ihn ja. Sei’s drum. Haltet euch fest.«
Er gab Albert und Emine sein Handy.
An: Kriminalhauptkommissar Albert Zeiler
Kriminaloberkommissar:in Emine Laub, Tarek Arikan, Alexander Covtic
Kriminalkommissar Dirk Sauer
Staatsanwalt Joachim Braunperle
Von: Dr. Titus Schnittker
Datum: 21. Oktober
Betr.: Blutgruppenbestimmung der 2. Leiche und Operationsabgleich des linken Sprunggelenkes
Anbei mein Abschlussbericht.
Grüße
Dr. Sch.
BLUTGRUPPE
Zur Bestimmung der Blutgruppe wurde der weiblichen Leiche eine Probe entnommen (die wir trotz der schweren Verbrennungen entnehmen konnten) und im Untersuchungslabor analysiert. Das Ergebnis der Blutgruppenbestimmung ergab A Rhesus negativ (Hinweis: nicht identische Blutgruppe mit dem ersten Opfer, Simon Fietz). Die Leiche selbst wurde durch die Lingener Kriminalpolizei, der zugehörigen Spurensicherung, von mir (Dr. Schnittker) und meinem Assistenten Dr. Krahn fotodokumentiert und gesichert. Nach der ersten Voruntersuchung am Ablageort der Leiche konnten keine Fremdspuren sichergestellt werden. Der Kopf der Leiche wurde vor Ort nicht sichergestellt und blieb – nach ausgiebiger Suche, (Anm. der Spurensicherung) – nicht auffindbar. Die übrige Leiche wies schwerste Verbrennung am gesamten Körperbereich auf. Ausgelöst durch starke Hitzeeinwirkung mit Wärmestrahlern (siehe Video). Es wurde kein Brandbeschleuniger verwendet. Die Übergabe der Leiche in die Gerichtsmedizin wurde von mir beaufsichtigt und dokumentiert. Ich stelle damit fest, dass die Beweismittelkette eingehalten wurde. Der Hausarzt der Familie Kemper, Dr. Kruse-Elemeyer, bestätigte die Blutgruppe A Rhesus negativ von Bettina Kemper. Eine erste Verdachtsübereinstimmung der vermissten Person und der weiblichen Toten war zu diesem Zeitpunkt gegeben.
TATWAFFE
Wie anfangs erwähnt, wurden am Ablageort der Leiche keine Fremdspuren sichergestellt. Dies beinhaltet auch die Tatwaffe. Nach mikroskopischer Untersuchung der Schnittstelle an Zervix (Hals) und Rumpf wurde festgestellt, dass es sich bei den Verletzungen um »Riss- und Reißfaserungen« handelt. Dies wurde bereits bei der ersten Leiche (Simon Fietz) forensisch festgestellt. Diese Verletzungen werden durch Ketten- und Sägeglieder verursacht (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Durch die Wunduntersuchungen konnte festgestellt werden, dass keinerlei Schmieröl nachgewiesen wurde, sodass eine handelsübliche Motorkettensäge nicht in Betracht kommt. Wir können davon ausgehen, dass dieselbe oder eine ähnliche Säge wie beim ersten Opfer benutzt wurde (Kreissäge). Bei diesem Tatwerkzeug handelt es sich nicht um die Tatwaffe. Es ist davon auszugehen, dass der Tod durch schwere Verbrennungen mit multiplem Organversagen eingetreten ist. Entsprechendes Videomaterial liegt Ihnen vor.
DNA-TEST
Eine DNA-Analyse war zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Ich warte auf entsprechendes Vergleichsmaterial. Die enorme Auslastung des Untersuchungslabors wird die Untersuchung um einige Tage verzögern. Eine vorrangige Behandlung ist nicht nötig. Ich gehe im weiteren Verlauf dieses Berichtes darauf ein.
TOXIKOLOGISCHE UNTERSUCHUNG
Negativ. Es wurden keine auffälligen Substanzen im Organismus nachgewiesen. Die Fehlerquote hierbei ist allerdings enorm, da der Organismus auch bis in die Tiefe sehr stark verbrannt ist. Möglich, dass toxische oder medikamentöse Mittel nicht mehr nachgewiesen werden können.
ÄUSSERLICHE MERKMALE
Die Leichenteile waren beim Fund schwer verbrannt und mit der Kleidung verschmolzen (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Am rechten Zeigefinger der rechten Hand fanden wir einen markanten Smaragdring, der von den Angehörigen gegebenenfalls identifiziert werden kann. Im Zervix (Hals) fanden wir eine Rechts- und Linksschablone, wie sie bei Röntgenaufnahmen benutzt werden. Aufgrund dieses Fundes haben wir den gesamten Körper einer Durchleuchtungsuntersuchung unterzogen. Hierdurch konnten wir in der Vagina eine Glasampulle identifizieren. Diese Ampulle wurde vermutlich dem lebenden Opfer vaginal eingeführt, da das Gefäß Verbrennungen aufweist. Nach der Entnahme und Öffnung fanden wir ein gut erhaltenes Papierstück, das folgende Notizen (computergeschrieben) aufweist (s. auch beiliegende Fotoreihe):
Fingerabdrücke oder andere forensisch verwertbare Spuren wurden nicht festgestellt. Das Papier besteht aus herkömmlichem Allzweckdruckerpapier, wie es in jedem Geschäft für Computerzubehör zu erwerben ist (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Die Maße des Papieres liegen bei 8 x 6 Zentimeter, da es händisch zerkleinert wurde (Rissspuren an den Rändern).
Bei der Röntgenaufnahme stellten wir außerdem fest, dass am linken Sprunggelenk eine Operation mit Osteosynthesematerial durchgeführt wurde. Das obere Sprunggelenk ist durch drei Zugschrauben, der Innenknöchel mit einer Zugschraube fixiert, da eine Fraktur vorgelegen hat. Nach Durchsicht der Krankenakte des Hausarztes stellten wir fest, dass bei dem Opfer vor sieben Monaten eine entsprechende Operation aufgrund eines einfachen Spiralbruchs (Sportverletzung) durchgeführt wurde. Die Röntgenbilder konnten wir miteinander vergleichen. Es liegt eine 100-prozentige Übereinstimmung vor. Auch die Schrauben sind durch Seriennummern gekennzeichnet (siehe auch beigefügte Fotoreihe). Bei der Verstorbenen handelt es sich definitiv um Frau Bettina Kemper (eine DNA-Analyse wird dennoch erfolgen).
Am heutigen Morgen wurde die Präsentation des oben genannten Berichts zusammen mit Kriminalkommissar Dirk Sauer und Staatsanwalt Joachim Braunperle vorgenommen. Ich stelle damit fest, dass die Beweismittelkette eingehalten wurde.
»Was zum Teufel soll der Zettel bedeuten?«, fragte Albert laut. »Dreißig Gründe, vierundvierzig Komma zwei Grad, sieben Pferde, zwanzig Päpste, fünfundfünfzig Oder neun Särge. Ergibt das für irgendjemanden Sinn?«
Alle schüttelten den Kopf.
»Okay.« Albert stöhnte, da ihn eine Kopfschmerzwelle durchzog. »Alex, hol dir Hilfe von wem auch immer, aber sieh zu, dass du den Laptop wieder zum Laufen bekommst. Außerdem kümmere dich darum, dass die technischen Überreste aus Justus‘ Wohnung zu uns geschafft werden. Vielleicht kannst du etwas davon retten. Tarek, koordiniere die Suche nach dem Kopf von Frau Kemper. Wir müssen den gesamten Dieksee und die Umgebung weitreichend absuchen. Kann ja sein, dass wir dieses Mal doch etwas finden. Dirk soll unsere Medienabteilung kontaktieren. Aufruf per Zeitung, Radio, Facebook und Instagram. Wer war in den letzten vierundzwanzig Stunden in der Nähe des Sees? Hat jemand etwas gesehen? Ein Auto mit auswärtigem Kennzeichen, eine merkwürdige Gestalt, eine auffällige Person, einen Lieferwagen oder sonst irgendetwas, was jemandem spanisch vorkam. Treffen in einer Stunde im Büro. Und jetzt raus hier.«