Das Luminous Mumbai hatte natürlich noch nicht geöffnet. Es war ein mittelgroßes Lokal mit zwei breiten Fensterfronten links und rechts und eine dunkelblaue Eichenholztür dazwischen. Das Neonschild mit dem Eigennamen über dem Eingang war ausgeschaltet, würde aber hellrot leuchten und Aufmerksamkeit erregen, wenn es angelassen wurde. Durch die Fenster erkannte Erik Sitzgelegenheiten, die sich nach hinten in den Laden ausbreiteten. Am Ende führten zwei Stufen auf ein Podest, auf dem sich die Theke mit Hunderten Schnapsflaschen sowie die Küche dahinter befanden. Braune Stühle waren umgedreht auf die Tischplatten gestellt worden und würden erst später wieder ihre angestammten Plätze einnehmen, nachdem durchgewischt oder zumindest gefegt worden war. Die Speisekarte hatte nichts zu bieten, was Gäste in solch einem Lokal nicht auch erwartet hätten. Massenhaft Reisgerichte mit ausgefeilten Namen, die an Indien und exotische Gewürze erinnern sollten. Verschiedene Sorten Teigwaren, Biryani, Tandoori Chicken, Butter Paneer Masala, Punchmail Bhaji und außerdem Biere, Cider und Guinness vom Fass. Die Speisekarte für Nachtisch war ellenlang. Das Luminous Mumbai war ein beliebter Anlaufpunkt und so gut wie jeden Abend ausgebucht. Die Bewertungen im Netz waren allesamt positiv, und überraschenderweise wurden hier jegliche Sportarten von Football über Champions League bis hin zu Darts gezeigt.
Erik war natürlich nicht hier, um die Speisekarte oder Getränke zu testen. Er war wegen eines Mannes hier, der mit einem Staubsauger soeben aus der Küche am hinteren Ende kam. Augenscheinlich waren dort auch irgendwo das Büro des Managers und die Abstellkammer für Putzmittel verortet. Der Kerl wirkte leicht südländisch und ziemlich dünn. Mit langen Extremitäten, an dessen Enden Füße und Hände wackelten, erinnerte diese Gestalt fast an eine Horrorfigur aus einem Gruselfilm. Er zog gerade das Kabel aus dem Hinterteil des Staubsaugers, als er plötzlich Erik bemerkte, der leicht gegen die Fensterscheibe klopfte. Ohne etwas zu sagen, formulierte der Kerl mit seinem Mund »Wir haben geschlossen«. Erik lächelte zuckersüß und klopfte erneut gegen die Scheibe. Der Kerl mit den langen Armen und Beinen stieß entnervt ein Ächzen aus, setzte sich aber in Bewegung, um die Tür aufzuschließen und einen Spaltbreit zu öffnen.
»Wir haben geschlossen. Öffnen erst um siebzehn Uhr.«
»Tut mir leid, ich bin kein Gast und will auch nicht lange stören. Sind Sie der Geschäftsführer?«
Erik wusste ganz genau, dass er nicht der Geschäftsführer war. Das war ein Mann namens Ruben Gold, der ganz und gar nicht aus Indien stammte.
»Nein, bin ich nicht«, sagte der Kerl. »Ich arbeite hier bloß. Der Geschäftsführer heißt Gold und ist erst später hier. Wenn Sie also was von ihm wollen …«
»Nein, nein, schon gut. Es ist so, ich habe eine Bestellung mit zehn Fässern Bier in meinem Bulli. Mein Chef meinte, der Geschäftsführer wüsste Bescheid.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter zu dem geparkten Wagen.
»Davon weiß ich nichts. Mir wurde nicht gesagt, dass heute eine Lieferung mit so viel Bier kommt. Außerdem arbeiten wir mit dem örtlichen Getränkehändler. Kann mir kaum vorstellen, dass das so richtig ist.«
»Das ist ja ärgerlich.« Erik lächelte dabei nett und tat so, als wüsste er nicht, was er nun machen sollte.
»Okay, ich rufe Gold an und …«
»Könnten Sie vielleicht erst einen Blick darauf werfen? Ich habe jetzt etwas Sorge, dass ich den falschen Laden mit dem falschen Bier beliefert habe. Ich bin neu in diesem Job, und na ja, ich würde ungern Staub aufwirbeln.« Erik blickte ihn an, zuckte unbeholfen mit den Schultern. »Verstehen Sie meine Sorge?«
»Wir haben Guinness, Veltins, Bud, Cider, was gar kein Bier ist, Carlsberg, Heineken und Boston Lager.«
Erik zuckte wieder mit den Schultern. Der Schlacks pustete entnervt Luft aus. »Okay, gut, gucken wir mal, was Sie haben.« Er drückte die Tür komplett auf und ging zu dem weißen Van. »Ich hoffe wirklich, dass Sie keinen Ärger bekommen, aber ich kann Ihnen auch jetzt nichts abnehmen, was wir nicht ausschenken. Wo ist denn der Lieferschein?«
»Ich verstehe das. Sehr nett von Ihnen. Der ist im Wagen«, antwortete Erik. Er öffnete die rückseitige Tür und stieß eine der beiden Seiten nach außen auf. Der Typ aus dem Laden staunte nicht schlecht, als er seinen Namen auf einem Schild las, das sich aufrecht mittig in dem Wagen befand und auf dem stand:
Hi Aaron. Die Devise lautet: Ruhig bleiben!
Ich habe einen Revolver auf dich gerichtet.
Der Mann namens Aaron sah sich panisch zu Erik um und bemerkte, dass die Mündung einer Handfeuerwaffe auf ihn gerichtet war. Er blickte zurück zu dem Schild und las auch die restliche Botschaft.
Sicher fragst du dich, was das soll. Das werde ich dir erklären. Steig jetzt ein oder ich schieß dir ins Herz.
»Was?«, fragte Aaron.
»Einsteigen«, befahl Erik, der jetzt überhaupt nicht mehr nett wirkte. »Steht doch da!« Er wedelte nachdrücklich mit seinem Revolver hin und her, bis sein Gegenüber gehorchte.
Er war gerade eingestiegen, als Erik hinterherkam und ihn mit einem Elektroschocker, den er aus seiner Jackentasche hervorzog, außer Gefecht setzte. Aaron fiel wie ein nasser Sack zu Boden und zuckte noch ein paarmal, ehe er das Bewusstsein verlor. Erik spürte in sich diese tiefe Befriedigung, die er sein Leben lang versucht hatte zu verdrängen. Mittlerweile jedoch ließ er die Gefühle zu. Der stetige Kampf hatte ihn geschlaucht und erschöpft zurückgelassen. Jetzt jedoch, wo er Menschen quälen und ermorden konnte, luden sich seine Akkus wieder auf. Wenn sie dann jedoch vollends aufgeladen waren, musste er wieder ein anderes Leben führen. Er wollte auf keinen Fall ins Gefängnis, nutzte seine Gabe jedoch dafür, um das Richtige zu tun. Nicht viele Menschen hatten die Eigenschaften, das zu tun, was getan werden musste. Erik spürte jedoch, und war sich ganz sicher, dass es weitere Männer und auch Frauen wie ihn gab.
»Nach dir muss ich vielleicht nur noch einmal töten.«
Mit diesen Worten schloss er die Tür des Wagens und setzte sich ans Steuer.