Kapitel 42

Emine gab die Informationen auf dem Weg zu Jens Kemper an Tarek weiter.

»Lenovo Legion Slim 7i, ist notiert«, meinte Tarek. »Ich werde einen Gerichtsbeschluss anfordern, der uns erlaubt, den Hersteller um Herausgabe aller Namen und Rechnungsadressen der Käufer zu bitten, die dieses Modell erworben haben. Wer weiß, vielleicht landen wir ja einen Treffer?«

Albert äußerte sich dahingehend, dass es wohl eher schlecht ausgehen würde. Wenn ihr Mann nicht einmal vorbestraft war, was sollten sie mit einer kilometerlangen Liste anfangen? Aber jeder Ermittlungsansatz war besser als keiner.

Die Fahrt verlief ohne weitere Vorkommnisse. Sie unterhielten sich über die Hinweise an und in den Leichen von Fietz und Kemper und diskutierten, was sie zu bedeuten haben könnten.

»Eine Sache ist klar; er möchte, dass wir ihn finden. Ihn stoppen. Sonst würden wir keine Botschaften erhalten«, meinte Emine.

»Ich stimme dir teilweise zu. Doch ob er gefasst werden will? Es ist womöglich der Ruhm. Die Aufmerksamkeit, die ihn anturnt.«

»Mag sein. Aber was soll das bedeuten? Dreißig Gründe, sieben Pferde und was weiß ich denn.«

»Dreißig Gründe, vierundvierzig Komma zwei Grad, sieben Pferde, zwanzig Päpste, fünfundfünfzig oder neun Särge. Das O im Oder großgeschrieben«, korrigierte sie Albert.

»Wie dem auch sei. Es ergibt keinen Sinn. Gar keinen Sinn! Auch dieses N und die Nummer zweiundfünfzig bei Simon Fietz. Wenn wir die Zahlen addieren, ergibt das zweihundertsiebzehn Komma zwei. Ergibt keinen Sinn!«

»Geduld, Frischling. Geduld. Es ist denkbar, dass uns diese Angaben auch einfach nur ablenken sollen. Sie haben vielleicht gar nichts zu sagen. Das gab’s schon mal. 2002 hatten wir in Hannover eine Täterin, die homosexuelle Menschen getötet hatte. Vier an der Zahl. Von hinten erschlagen mit einem Golfschläger. Als Botschaft hinterließ sie Joghurtspritzer auf den Körpern der Toten. Joghurt wird immer wieder von homophoben Gruppen als Anschlags- und Schmierereimittel verwendet, um Schwule zu verhöhnen. Man bewirft sie damit, weil es dem Ejakulat eines Mannes ähnelt.«

»Die Täterin in diesem Fall hatte von sich ablenken wollen«, schloss Emine daraus.

»Sehr richtig. Sie hat die Ermittlungsarbeiten mit Absicht in die falsche Richtung gelenkt. Hat nicht funktioniert. Es ist möglich, dass all diese Nachrichten reine Ablenkung sind.«

Sie erreichten das Ortsschild von Kirchdorf um 11:20 Uhr, wenn man der digitalen Anzeige in Alberts Wagen trauen konnte. Sie mussten nicht lange suchen, bis sie das Haus von Bettina und Jens Kemper gefunden hatten. In einer Seitenstraße stand ein Wagen eines überregionalen Fernsehsenders, der sicherlich hier war, um ein Bild des leidenden und trauernden Familienvaters aufzunehmen. Albert parkte sein Auto demonstrativ so, dass der Van des Senders keine Chance hatte, zu manövrieren oder wegzufahren. Etwas weiter vorn parkten zwei Streifenwagen, die darauf aufpassten, dass diese Geier nicht zu nahe an das Haus der Familie Kemper kamen. Der Reporter und sein Kameramann kamen gleich auf Albert und Emine zugestürmt. Dicht gefolgt von einem Beamten der Schutzpolizei.

»Was soll das? Wir müssen gleich fahren. Parken Sie Ihr Auto um!«, wütete der Reporter.

Er hatte nach hinten gegelte Haare mit einem Sidecut, trug einen silbernen Anzug und raue schwarze Wildlederschuhe. Seine Zähne blitzten weiß auf, als er sie anblaffte und ein überhebliches Lächeln aufsetzte. Albert zog seine Schuhsohle über einen feuchten Fleck Sand, der sich im Rinnsal der Straße gesammelt hatte, und trat den Reporter versehentlich auf die linke Fußspitze, als er an ihm vorbeiging. Dabei streifte er das weiße Schuhband des Fünfhundert-Euro-Schuhs.

»Sie Arschloch!«, beschwerte sich der Reporter und versuchte, den Dreck mit den Fingern abzuwischen.

»Babbel halten!«, raunzte Albert zurück. »Sie stehen mit Ihrer Dreckskarre auf öffentlichem Grund.« Er zeigte auf die zwei Räder des Vans, die auf dem Grünstreifen zwischen zwei Bäumen standen. »Das hier ist eine Spielstraße, Parken ist hier also verboten. Sollten Sie versuchen, diesen Ort zu verlassen, bevor wir Ihre Daten für den Bußgeldbescheid und wegen Beamtenbeleidigung aufnehmen konnten, werde ich Ihnen außerdem eine Anzeige wegen unerlaubten Verlassens um die Ohren hauen, die sich gewaschen hat.« Albert sah den Beamten an, der reglos im Hintergrund verharrte. »Sollten die Herren versuchen abzuhauen, schießen Sie ihnen in die Reifen.«

Emine und Albert ließen die verdutzten Männer zurück und ignorierten die Rufe des Reporters, er würde sich offiziell beschweren und dafür sorgen, dass sie von der Rechtsabteilung des Senders hören würden. Albert kratzte sich lediglich mit seinem Mittelfinger den Hinterkopf.

Das Haus der Familie Kemper lag hinter dichten Tannen und Sträuchern verborgen. Es war komplett weiß verputzt, wirkte modern und neu. Über der Eingangstür war ein großer Balkon angebracht, auf dem sich Terrassenmöbel aus Rattan befanden, die größtenteils von einer grauen Regenplane abgedeckt waren. Der Fußweg, der sich durch den wild bewachsenen, dennoch ordentlich wirkenden Vorgarten des Grundstücks schlängelte, war durch ein mannshohes Tor versperrt. Dahinter stand ein Mann mit eingefallenem Gesicht, schmuddeliger Kleidung, die frisch gewaschen sicherlich teuer und stilvoll aussah. Er hatte blaue Augenringe, leicht fettiges Haar und zusammengepresste Lippen. In seiner rechten Hand hielt er ein Glas Whisky, das noch fingerbreit gefüllt war. Diesen Rest kippte er in einem Zug hinunter und verzog dabei das Gesicht. Dann lehnte er sich zur Seite, angelte eine Fernbedienung aus seiner Tasche und drückte einen Knopf, woraufhin sich das Tor langsam öffnete.

»Herr Kemper?«, fragte Emine, obwohl sie die Antwort kannte.

»Der bin ich«, meinte der Mann.

»Das ist Albert Zeiler, Kriminalhauptkommissar, und ich bin Emine Laub, Kriminaloberkommissarin aus Lingen. Wir hatten uns durch die Kollegen ankündigen lassen.«

»Ja, ich weiß, wer Sie sind. Anderen Besuch erwarte ich heute nicht. Kommen Sie rein.« Er machte einen Schritt zur Seite und ließ sie gewähren. Anschließend schloss sich das Tor wieder hinter ihnen. Jens Kemper ging voraus und öffnete die Haustür mit einem Schlüssel, wobei er eine Nuance zu lang benötigte. »Tut mir leid, ich bin nicht ganz auf der Höhe«, erklärte er. »Sie können sich ja vorstellen, warum das so ist.«

»Selbstverständlich«, meinte Albert.

Sie betraten einen geräumigen Flur, an dessen linker Seite eine breite und offene Treppe in die obere Etage führte. Die Wände waren gespickt mit Familienfotos. Einschulung der Kinder, Hochzeit, Urlaube, Familienfeste, Partys mit Freunden, Kommunion, Weihnachtsfeste, Geburtstagstorten, alles war dabei.

»Meine Frau … Sie liebte es, unser Leben zu fotografieren und zu dokumentieren.« Herr Kemper stützte sich an einer Wand ab und schloss die Augen. »Was mach ich jetzt bloß?«

»Vielleicht sollten wir uns hinsetzen?«, fragte Emine sanft.

Herr Kemper öffnete die Augen und nickte bestätigend. »Ja, natürlich. Wo sind meine Manieren? Hier entlang.«

Er führte sie weiter den Flur hinauf, bis sie eine doppelseitige Schiebetür aus Walnussholz erreichten, die sich einfach in beide Richtungen aufschieben ließ. Albert blieb kurz vor einem Bild stehen, das Jens und Bettina Kemper im Urlaub zeigte. Vermutlich waren es die Alpen, da im Hintergrund riesige Berge mit Schneekuppen zu sehen waren. Es waren jedoch nicht die Berge oder die schöne Aussicht, was ihn kurz stoppen ließ, sondern Bettina Kemper selbst, die ihm merkwürdig vertraut auf diesem Bild vorkam, obwohl er sie nie getroffen hatte. Auf dem Foto war sie im Vordergrund, ihr Mann direkt dahinter. Sie gingen eine steile Treppe aus Holz und Geröllbrocken hinauf, während ein Unbekannter das Foto geschossen hatte. Sie trug einen schwarzen Rucksack, kurze Shorts und ein oranges T-Shirt, an dessen Ausschnitt sich ein Schweißkranz gebildet hatte. In der rechten Hand hielt sie eine Trinkflasche. Angestrengt lächelnd blickte sie in die Kamera. Ihr Mann hatte einen identischen Rucksack auf, trug eine schwarze kurze Hose und ein weißes T-Shirt, das vermutlich durch eine lange Wanderung verdreckt war. Merkwürdigerweise wirkte er jetzt ähnlich schmuddelig und erschöpft wie auf dem Foto. Nur waren es damals völlig andere Umstände gewesen. Zehrte heute der Verlust an seiner Lebensenergie, war es damals die vermutlich lange und anstrengende Bergwanderung.

Albert hatte sich an einen Gedanken geklammert, an eine Erinnerung, die so flüchtig wie Tau im Morgengrauen wieder verschwunden war. Er entglitt ihm, ehe er etwas mit seinen Gedanken anfangen konnte.

»Wandern. Das liebte meine Betti. Wir waren damals in Südtirol. Das war noch vor unserem ersten Kind.«

»Ein schönes Foto«, meinte Albert.

Er wollte noch ein wenig Zeit gewinnen, um seine Erinnerung wiederzuerlangen, doch das geschah nicht. Herr Kemper ging den beiden in ein großzügiges Wohnzimmer voraus, das ebenfalls leicht verkommen wirkte. Kissen lagen kreuz und quer, zusammen mit einer unordentlichen Decke, auf dem Sofa verteilt. Die Stühle am Esstisch waren nicht akkurat an die Platte herangeschoben, sondern standen allesamt etwas schräg. Auf dem Boden gab es hier und dort Klecksflecke, die Albert als Schnapsüberreste identifizierte. Die offene Küche war von hier aus einzusehen, und auf den Abstellflächen sammelten sich Teller und Tassen.

»Die Kinder sind heute bei meiner Schwester. Ich habe keinen guten Tag. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich seit«, er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und griff zu der Flasche Whisky, die zu zwei Drittel bereits geleert war, »dem Tod meiner Frau keinen guten Tag mehr habe.« Er schenkte sich nach und sah die Beamten an. »Wollen Sie auch einen?«

»Nein danke«, sagten beide gleichzeitig.

»Na gut. So muss ich nicht teilen.«

Die beiden Kriminalbeamten setzten sich Jens Kemper gegenüber und warteten, bis er sein Glas in zwei Zügen ausgetrunken hatte.

»Bah, lecker. Also, wie kann ich jetzt helfen, dass Sie den Mörder meiner Frau dingfest machen?«

Albert sagte: »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Wir tappen im Dunkeln. Sie haben sicherlich gehört, dass Ihre Frau nicht die erste Person war, die getötet wurde.«

»Tz, natürlich. Simon Soundso. Ich bin betrunken und trauere, bin nicht blind und taub.«

»Kannten Sie oder Ihre Frau Simon Fietz? Vielleicht von einer Feierlichkeit, einem Geburtstag, beruflich oder von sonst irgendeiner anderen Gelegenheit her?«, fragte Albert.

Jens Kemper schüttelte vehement den Kopf. »Nein, ich habe alles tausendmal durchgedacht. Wir hatten nicht mal die Spur an Kontakten zu diesem Mann. Überhaupt kenne ich niemanden aus Lingen. Betti sicher auch nicht, das wüsste ich sonst. Es gab auch keine Feinde oder so«, er hob die Zeige- und Mittelfinger zu Anführungszeichen, »und auch keine sonstigen Verwerfungen im privaten oder beruflichen Bereich. Ich meine, Betti war Steuerfachangestellte. Keine Geheimagentin.«

»War Ihre Frau in irgendeiner Zeit vor ihrem Tod verändert?«

»Was meinen Sie?«

»War sie aufgeregt, wirkte sie erschöpft, abwesend, hat sie Eigenschaften an den Tag gelegt, die Sie sonst nicht von ihr kannten?«

Jens Kemper schenkte sich ein weiteres Glas nach und atmete schwer dabei.

»Ich … Also ehrlich gesagt, nein. Sie war ganz normal.«

Bei dem Wort »normal« schloss er die Augen und richtete seinen Kopf zur Seite.

»Hat Ihre Frau vielleicht ein Tagebuch oder so etwas in der Art geführt? Gibt es eine Freundin, die vielleicht Dinge weiß … na ja … die Sie nicht wissen?«, bohrte Albert behutsam weiter.

»Wir waren zwar viel unterwegs, und meine Frau hat auch viele Menschen gekannt, allein schon durch unsere Kinder, aber es ist nicht so, dass da diese eine Freundin wäre, die alles über Bettina weiß, was ich nicht weiß.« Er nahm einen Schluck und knallte das Glas auf den Tisch.

»Sie sagen uns nicht ganz die Wahrheit.« Emine meldete sich das erste Mal zu Wort.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Herr Kemper.

»Sie können uns nicht in die Augen sehen. Sie weichen aus. Wenn Sie Ihre Frau als normal bezeichnen, klingt es so, als wäre dies das falsche Adjektiv. Als würden Sie lieber ein anderes Wort verwenden. Draußen im Flur hängen Dutzende Fotos an der Wand. Da sind unzählige Menschen abgelichtet, aber Ihre Frau soll keine richtige Freundin gehabt haben? Sie würden unserer Ermittlungsarbeit einen Bärendienst erweisen, wenn Sie hier nicht ganz und gar ehrlich zu uns sind«, sagte sie

Der leere Boden des Whiskyglases wirkte für Jens Kemper auf einmal sehr interessant. Er starrte mehrere Momente tief hinein und führte in seinem Inneren einen Kampf mit sich selbst. Albert und Emine erkannten das, weshalb sie ihn bei diesem Duell nicht störten.

Jens Kemper lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, sodass seine Tränensäcke in die Länge gezogen wurden. »Ich kann doch nicht schlecht über meine Frau reden, wenn sie … Wenn sie gestorben ist. Was wäre ich denn für ein Vorbild für unsere Kinder?«, sagte er schluchzend. Dann verlor er komplett die Fassung und vergrub sein Gesicht vollends in beide Hände, um bitterlich zu weinen.

Das dauerte etwa zwei Minuten, bis die größte Welle vorbei war. Emine war in der Zwischenzeit aufgestanden und hatte ein Tuch aus einer Spenderbox gezogen, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Sie reichte es Herrn Kemper, der sich seine Nase putzte und seine Augen abtupfte.

»Jede Kleinigkeit kann uns hier helfen. Sei es noch so unwahrscheinlich. Und wenn sich herausstellt, dass gewisse Informationen nichts mit dieser Sache zu tun haben, bleibt alles unter Verschluss. Da können Sie sich auf Frau Laub und mich verlassen.« Albert legte dem Witwer über den Tisch hinweg die Hand auf die Schulter. »Sie haben mein Wort.«

Jens Kemper nickte und schob sein Whiskyglas zur Seite, stand auf, nahm die fast leere Flasche und warf sie in einen Mülleimer in der Küche. Anschließend schlurfte er zurück und ließ sich auf seinem alten Platz nieder.

»Ich kann meinen Kindern wohl kaum zumuten, mich weiterhin zu besaufen, während sie selbst um ihre Mutter trauern und ihren Vater mehr denn je benötigen.«

Albert hatte das Gefühl, Emine würde ihn ansehen, was sie vermutlich in Gedanken auch tat. Er ignorierte den Stich in seiner Magengegend und achtete nicht darauf, dass er unterbewusst gern das Aroma des rauchigen Getränks aufgesogen hatte.

Jens Kemper atmete ein paarmal tief ein und aus, um dann beiden Ermittlern ernst ins Gesicht zu blicken.

»Meine Frau hatte Geheimnisse. Eines davon war, dass sie vielleicht eine Mörderin war.«