»Sprechen Sie weiter«, forderte Albert Herrn Kemper auf.
»Sie werden in Ihrer Datenbank sicherlich Aufschlussreiches finden, wenn Sie dort den Namen Leoni Joost eingeben.«
Emine notierte sich den Namen in ihrem Handy, während Herr Kemper weiter berichtete: »So hieß Betti früher.«
»Sie hatte eine andere Identität?«, bohrte Albert überrascht nach. »Wieso wussten wir nichts davon?«
»Weil Sie alles rechtlich Erdenkliche getan hat, damit niemand den Namen Leoni Joost je wieder hört und sie damit in Verbindung bringt«, führte Herr Kemper aus. »Sie hat diesen Namen ganz bewusst abgelegt. Auch ich war wahnsinnig überrascht, als sie mir dies eines Tages eröffnete.«
»Und was war der Grund für den Namenswechsel? Was meinten Sie damit, sie sei vielleicht eine Mörderin?«, fragte Emine.
»Ich lernte Betti kennen, als sie hierhergezogen war. Das war vor etwa dreizehn Jahren. Wir verliebten uns ineinander und zogen auch ziemlich schnell zusammen. Wir bekamen unser erstes Kind, kauften dieses Haus und bekamen das zweite. Alles wirkte wie eine perfekte Beziehungslinie. Bilderbuchmäßig. In Wahrheit wusste ich, dass Betti Geheimnisse in sich trug. Ich dachte mir, hey, sie wird schon eines Tages damit rausrücken, wenn sie es möchte«, sage Jens Kemper.
»Inwiefern haben Sie das bemerkt, dass etwas nicht stimmig war?«, fragte Albert.
»Nun ja, erst einmal hat sie gar keine Familienangehörigen. Ihre Eltern sind verstorben, und Geschwister hatte sie keine. Zumindest waren das ihre Angaben. Als wir unser erstes Kind bekamen, war Betti … Sie war eigenartig geworden, sagen wir es mal so. Sie liebte ihre Kinder, keine Frage. Dennoch war eine eigenartige Distanz zu spüren.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Emine.
»Sie war schnell gereizt. Eines Nachts, als der Kleine wieder weinte, weil er Fieber hatte, sagte sie so etwas wie ›Ich wollte gar keine Kinder‹. Das habe ich ihr nicht übel genommen. Ich meine, jeder hat doch mal einen schlechten Tag. Und wenn man unter Schlafentzug leidet, weil ein Kind die Eltern auf Trab hält, kann so was schon mal fallen. Meine Güte, wir sind doch alles nur Menschen. Aber dennoch; sie veränderte sich zusehends. War nie ganz bei der Sache. Manchmal hatte sie gar kein Interesse daran, ihre Kinder aufwachsen zu sehen. Ich dachte, es wäre vielleicht eine Depression. Soll es doch geben, oder? Frauen, die nach der Schwangerschaft eine Wesensveränderung durchmachen. Ich ging davon aus, dass sich das alles eines Tages schon wieder legen würde. Vor allem, als unser zweites Kind, unsere Tochter, unterwegs war.«
Albert fühlte sich in das Gespräch mit Kamilla Fietz zurückversetzt.
»Ich weiß nicht mal, ob er Geschwister hat. Ich habe seine Eltern oder andere Familienmitglieder nie kennengelernt «, hatte sie gesagt »Ich weiß tief in mir drin, dass ich keine Kinder bekommen möchte «, so hatte sie ihren Mann zitiert.
»Meine Frau wurde immer merkwürdiger. Irgendwann haben wir uns ganz übel gestritten. Da hat sie mir wie aus dem Nichts erzählt, dass sie in ihrem früheren Leben Leoni Joost hieß. Nach ihrer Antwort auf die Frage, warum sie ihren Namen geändert habe, wurde mir schlecht.« Er trommelte mit seinen Fingern unbewusst auf der Tischplatte. »Sie wurde vor Jahren verdächtigt, einen Brand gelegt zu haben. Dabei starben zwei kleine Jungen. Es war eine Scheune von einem Bauernhof. Sie stritt ab, es gewesen zu sein. Weil sie damals damit in Verbindung gebracht wurde, war ihr Name Leoni Joost befleckt, und im Umkreis von fünfzig Kilometer wusste jeder, dass sie von der Polizei verhört worden war. Der- oder diejenige, die das Feuer gelegt hatte, wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass die zwei Jungen auf dem Heuboden übernachtet hatten. Es war der Sohn und ein Freund der Bauernfamilie. Elf und zehn Jahre alt. Das Familienhaus lag direkt neben der Scheune. Als das Feuer erst einmal zu lodern begonnen hatte, wurde daraus in Minuten ein Inferno. Uralte trockene Holzplanken und Stroh. Die Kinder hatten keine Chance. Ich konnte damals nicht glauben, was ich da hörte. Aber Betti versicherte mir, dass sie damit nichts zu tun hatte.«
»Wieso wurde sie verdächtigt?«, wollte Emine wissen.
»Ein Zeuge hatte sie in der Nähe gesehen. Allerdings war es dunkel, und zwischen dem Zeugen und der Frau, die er gesehen haben will, lagen gute hundert Meter. Der Anwalt von Betti – Leoni, meine ich – zerlegte diese Aussage. Die Ermittlungen wurden eingestellt und sie wurde nicht angeklagt. Und wenn man nicht verurteilt wird, dürfen solche Daten nicht für alle Zeiten gespeichert werden. Ist ja auch gut so. Sonst wäre es ja möglich, dass der Staat einen immer Steine in den Weg legt, obwohl man unschuldig ist. Aus diesem Grund wissen Sie nichts von Bettinas vorherigem Leben.«
»Wissen Sie, ob sie in der Nacht wirklich dort war? In der Nähe des Brandes?«, erkundigte sich Albert.
»Nein, sie stritt dies ab. Der Zeuge kannte Leoni vom Sehen. Deswegen glaubte er, Leoni erkannt zu haben. Allerdings blonde Haare und weiblich, das trifft doch auf viele Menschen zu. Sie schwor mir, dass sie es nicht gewesen sei. Und sie endlich mit ihrem alten Leben abschließen wolle.«
Alberts Handy vibrierte. Es war eine SMS von Dirk Sauer.
»Glaubten Sie Ihrer Frau?«, fragte Emine ganz unvermittelt.
Jens Kemper zögerte, bevor er antwortete. »Ich wünschte, ich könnte es bejahen. Ich hatte immer einen Restzweifel. Ich dachte, ich kenne meine Frau. Doch mich beschlich der Gedanke, sie könnte nur unsere Kinder bekommen haben, um die zwei toten Jungen zu sühnen. Sie ließ sich daraufhin sofort die Gebärmutter entfernen, damit es keine weitere Schwangerschaft gibt. Sie hat das nicht einmal mit mir besprochen. Plötzlich war sie im Krankenhaus und ließ das mit sich machen. Ich wollte immer viele Kinder. Am liebsten vier oder fünf. Und auf einmal tat sie so etwas. Können Sie sich das vorstellen? Ich war baff, mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Und als wäre das nicht schon genug, fand ich eines Tages noch mehr über sie heraus.«
Albert warf einen weiteren Blick auf sein Handy und öffnete die Nachricht von Dirk.
Taucher haben nichts im Dieksee gefunden. Durchsuchung im Umkreis negativ. Aber ruf mich an!!! Wir haben eine 107!!!
107. Jeder Polizist wusste, was dieser Code bedeutete.
»Und was haben sie noch herausgefunden?«, forderte Emine Herrn Kemper auf weiterzusprechen.
107 bedeutete eine Leiche.
»Meine Frau wurde adoptiert.«