Alberts Aufmerksamkeit galt wieder komplett Jens Kemper.
»Adoptiert, sagen Sie?«
»Ja, ihre leiblichen Eltern hat sie nie kennengelernt. Über ihre Stiefeltern erzählte sie nicht sonderlich viel. Es waren nette Leute, irgendwo in der Nähe von Bonn, aber eine feste Bindung war wohl nie entstanden. Mit achtzehn Jahren ist sie weggezogen und hat den Kontakt mehr oder weniger abgebrochen. Mehr hat sie mir nicht darüber erzählt.«
Albert beschlich ein kaum fassbares Gefühl in der Magengegend. Ein nervöses Zucken und die Sicherheit, ein entscheidendes Puzzleteil in die Finger bekommen zu haben.
»Entschuldigt mich kurz«, sagte er und ließ Emine mit Herrn Kemper zurück. Er trat aus der Haustür heraus und wählte die Nummer von Dr. Schnittker. Das Gespräch dauerte keine zwei Minuten, aber er wurde los, was er loswerden wollte. Albert hatte wie aus dem Nichts einen Verdacht. Und er war sich sicher, er würde damit recht behalten.
Nachdem er aufgelegt hatte, zuckte er zusammen, weil auf einmal sein Handy klingelte, als er noch vor dem Haus der Kempers stand und über seinen Einfall nachdachte. Er wischte mit dem Daumen über die grüne Taste.
»Hallo, Albert. Hier ist Joachim Braunperle. Ich wollte nur wissen, wie die Ermittlungen …«
Albert drückte ihn weg, weil er jetzt keine Lust hatte, dem Staatsanwalt Rede und Antwort zu stehen. Ebenso wie Michael Schreiber dachte auch er bloß an seine Karriere.
Er suchte in dem Telefonbuch seines Handys nach der Nummer von Dirk und drückte die Wahltaste.
»Hallo, Albert. Sorry, wenn ich mit meiner Nachricht bei der Befragung gestört habe.«
»Alles gut. Hast du nicht. Was ist passiert?«
»Leider keine Spuren gefunden. Das weißt du ja bereits. Die 107 ist Jan Dorsten.«
»Was zum Teufel ist passiert?«
»Er hat sich in seiner Zelle aufgehängt. Mit dem Überbezug der Matratze.«
»Verdammte Scheiße! Wieso wurde er denn nicht überwacht?«
»Keine Ahnung. Die Jungs in der JVA haben Mist gebaut. Eigentlich sollte alle zwanzig Minuten ein Beamter nach ihm sehen. Die sind unterbesetzt wie alle Behörden des Staatsapparats. Es wird eine Ermittlung geben und gut. Ich trauere nicht um diesen Trottel.«
Albert schwieg eine ganze Weile, bis Dirk wieder das Wort ergriff.
»Du denkst, es war kein Suizid. Stimmt’s?«
Ja, genau das dachte er. Jan Dorsten hat vor aller Welt bestimmt weiter lautstark hinausposaunt, dass er der Killer sei. Es gab genug Idioten, die ihm das abkaufen würden, obwohl er zu dumm war, um ein Fenster zu öffnen. Fakt war, dass sich die Presse vor Freude überschlagen würde, wenn sie von einem Toten in Untersuchungshaft Wind bekämen.
»Egal was ich denke. Das ist einfach eine Sauerei, die wir nicht brauchen. Druck bekommen wir sowieso schon von allen Seiten. Ein toter Irrer, getötet von einem Mithäftling, oder schlimmer noch, von einem Beamten der JVA hilft uns nicht und verschlingt nur Ressourcen. Danke, dass du mich informiert hast.« Er legte auf und wählte die Nummer von Kamilla Fietz. Mit der freien Hand drehte er aufgeregt an dem Ring seiner Tochter, den er immer noch an seinem kleinen Finger trug.
»Hallo?«, meldete sich eine verängstige Frauenstimme.
»Hallo, Frau Fietz. Hier spricht Albert Zeiler, Kriminalpolizei. Sie erinnern sich bestimmt.«
»Natürlich. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe noch eine Frage zu Ihrem Mann, die Sie mir vielleicht beantworten können.«
»Ich höre.«
»Ist es denkbar, dass Simon Fietz seine leiblichen Eltern nicht kannte? Weil er vielleicht adoptiert wurde?«
Am anderen Ende der Leitung zögerte Frau Fietz.
»Ich bitte Sie. Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es mir«, forderte er sie mit Nachdruck auf.
Sie seufzte. »Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, dass Simon nie über seine Vergangenheit gesprochen hat. Meine Schwester und mein Bruder wollten jedoch wissen, mit wem ich es zu tun habe. Eine Freundin meiner Schwester arbeitet beim Jugendamt. Und über sie konnten meine Geschwister herausfinden, dass Simon in einem Heim und später bei Pflegefamilien aufgewachsen ist.«
»Warum haben Sie uns das nicht gleich erzählt?«
Albert spürte, dass Frau Fietz verunsichert war.
»Ich habe es nicht für wichtig erachtet. Außerdem habe ich sozusagen in der Vergangenheit meines Mannes herumgestochert, ohne ihn darüber zu informieren. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Ich finde nicht, dass es Sie oder die Polizei etwas anginge«, sagte sie. »Ist es denn wichtig?«, legte sie nach.
»Es ist durchaus möglich, dass diese Information richtungsentscheidend ist.« Albert knirschte mit den Zähnen, weil Wut in ihm aufstieg. »Bitte seien Sie jetzt nur noch ehrlich zu mir, okay? Es geht buchstäblich um Leben und Tod, wenn Sie mir Weiteres verschweigen.«
»Okay«, sagte Frau Fietz leise.
»Sie haben uns erzählt, dass Sie und Ihr Mann eine gute Ehe geführt haben.«
»Richtig, und das ist die Wahrheit.«
»Das glaube ich Ihnen ja auch. Aber gibt es irgendetwas in seiner Vergangenheit, vielleicht auch, bevor Sie verheiratet waren, was Sie uns verschweigen? Ich frage konkreter: Hat Ihr Mann eventuell eine Straftat begangen, für die er nie belangt wurde?«
Nur ein Rauschen in der Leitung war zu hören. Dann atmete Frau Fietz lange aus, als wäre sie erschöpft.
»Sie dürfen meinen Mann nicht in den Schmutz ziehen«, flüsterte Kamilla Fietz.
»Das haben wir nicht vor. Wir versuchen, den Mörder Ihres Mannes zu finden.«
»Also gut. Ich weiß nicht, ob da etwas dran ist. Aber mein Mann hat vor unserer Ehe alle zwei Jahre einen Urlaub für sich ganz allein gebucht. Er nannte diese Urlaube seine kleinen Auszeiten. Ist ja auch nichts bei. Es gibt viele Menschen, die regelmäßig allein …«
»Frau Fietz, bitte. Ist schon in Ordnung. Erzählen Sie mir das Wichtigste.«
»Er flog regelmäßig nach Laos. Wir waren auch schon mal zusammen in Thailand und Kambodscha. Laos war das Ziel, das er früher immer allein angesteuert hatte. Der Ort, den er auswählte, war immer derselbe. Ein kleines Dorf namens Ban Sop.«
»Und was war daran so merkwürdig?«
Wieder dieses kurze Zögern, als kämpfte Kamilla Fietz mit einem inneren Dämon.
»Auch wenn es vielleicht okay ist, dass jemand mal allein Urlaub macht … Ich hatte immer das Gefühl, als belastete Simon irgendetwas daran. Zunächst behielt ich meine Gedanken für mich. Eines Tages jedoch schlug ich vor, ob wir nicht mal zusammen nach Ban Sop fliegen wollen. Das lehnte mein Mann total ab. Er war beinahe in Rage, als ich auch nur davon anfing, über einen eventuellen Urlaub in der Region zu sprechen. Dadurch wurde mir klar, dass Simon mir ganz sicher etwas verschweigen musste. Also forderte ich ihn auf, mir endlich die Wahrheit zu sagen. Warum er so radikal ablehnend reagierte und warum er von jetzt auf gleich aufgehört hatte, zu seinem liebsten Urlaubsziel zu reisen. Erst wiegelte er ab, doch als ich ihn vor die Wahl stellte, mir die Wahrheit zu erzählen oder dass ich ansonsten über unsere Beziehung nachdenken müsste, berichtete er mir endlich von seiner Vergangenheit.« Sie legte eine kurze Pause ein, die Albert ihr gewährte, ohne nachzubohren. »Ein paar Jahre bevor wir uns kennengelernt haben, wurde Simon in Thailand verhaftet.«
»Verhaftet?«, entglitt es Albert.
»Ja. Ganz genau. Ich war ebenfalls geschockt. Simon wurde auf dem Weg zum Flughafen in einem Reisebus von Beamten der örtlichen Polizeidienststelle in Gewahrsam genommen. Unter solch einem Tamtam, dass alle anderen Gäste das natürlich mitbekommen haben.«
»Was war der Vorwurf?«
»Ganz fürchterlich. Mein Mann soll ein Kind sexuell missbraucht haben.«
Jetzt war es Albert, der schwieg und schwer ausatmete.
Kamilla Fietz ergriff wieder das Wort. »Er saß vierundvierzig Tage in Untersuchungshaft. Weil die anderen Urlaubsreisenden die Verhaftung mitbekommen hatten, wurde in Deutschland in lokalen Zeitungen darüber berichtet. Er verlor seinen damaligen Job … Ich muss ja nicht ins Detail gehen. Es muss für ihn ein Albtraum gewesen sein. Zumindest bis zu dem Tag, an dem er von jetzt auf gleich freigelassen wurde. Die Ermittler in Thailand hatten ihn entlasten können. Der eigentliche Täter war ein Australier, der verhaftet und per DNA-Analyse eindeutig als Täter überführt werden konnte. Simon bekam eine Entlassungsurkunde, die er in Thailand der Deutschen Botschaft vorlegen konnte. Sie organisierten ihm einen Flug nach Hause, weil die Behörden vor Ort seinen Pass eingezogen hatten. Der Horror war aber noch nicht gleich vorbei. Die lokalen Medien hatten nur über seine Verhaftung berichtet, doch nicht über seine Entlastung.«
»In Deutschland hat man doch das Recht auf Gegendarstellung«, warf Albert ein. Was unsinnig war, da Simon Fietz nicht mehr lebte und diese Sache Jahre in der Vergangenheit lag.
»Das habe ich meinem Mann auch gesagt, Aber er wollte nichts mehr davon wissen. Er war damals umgezogen, und das Kapitel des Kindesmissbrauchs war für ihn geschlossen. Und weil es für ihn geschlossen war, habe ich Ihnen nichts von diesen Umständen erzählt. Er war unschuldig. Punkt.«
Also hat jemand vielleicht den Verdacht, Simon Fietz könnte ein Verbrecher gewesen sein, obwohl das nicht zutraf , dachte Albert.
»Es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Ich dachte wirklich, es sei unwichtig. Und dass Simon ein guter Mensch war, der es nicht verdient hat, nach seinem Tod auch noch in der Öffentlichkeit unter Generalverdacht zu stehen, für Straftaten, die er niemals begangen hatte«, sagte Frau Fietz.
»Ich verstehe Ihre Situation. Bitte seien Sie trotzdem nie wieder unehrlich zu mir. Zwei Fragen noch. Gibt es eine Geburtsurkunde von Ihrem Mann?«
»Natürlich. Die ist in Nordhorn ausgestellt worden. Er wurde als Säugling vor einem Kindergarten abgelegt. Das war in Nordhorn, weswegen man annahm, dass er auch dort in der Nähe geboren wurde.«
Albert bat sie darum, ihm ein Bild der Urkunde zu schicken.
»Und meine letzte Frage: Wie heißt die Freundin Ihrer Schwester beim Jugendamt? Keine Sorge, sie wird keinerlei Ärger bekommen. Wir müssen nur mit ihr sprechen.«
»Ihr Name lautet Laura Kunst.«
Albert bedankte sich und legte auf. Emine und Herr Kemper erschienen in der Haustür. Sie hatte ein Dokument in ihren Händen.
»Die Geburtsurkunde von Bettina Kemper alias Leoni Joost.« Sie hatte seinen prüfenden Blick erkannt. »Herr Kemper war so nett und hat sie in den Unterlagen seiner Frau gefunden. Ich weiß jetzt, wo sie geboren wurde.«
»Sag nichts. Lass mich raten: in Nordhorn?«, meinte Albert.
»Woher weißt du das denn?«
»Wie ich soeben erfahren habe, wurde auch Simon Fietz dort geboren. Ich hatte gerade seine Frau am Telefon. Und es gibt noch mehr. Aber wir müssen jetzt los.«
Albert wollte nicht, dass Jens Kemper Teil ihrer ausführenden Ermittlungen wurde. Wie er feststellte, hatte sich der Witwer auch wieder ein Glas Whisky eingeschenkt.
»Kippen Sie das Zeug weg. Es hilft nicht. Danke für Ihre Hilfe.«
Mit diesen Worten verließen die Kommissare das Grundstück der Familie Kemper und gingen zurück zu ihrem Wagen.
In Lingen wurde just in diesem Moment ein Mann in einen Raum geführt, den er nicht mehr lebend verlassen sollte.