Sie brauchten fast zweieinhalb Stunden bis nach Lingen zurück, weil sie aufgrund eines Unfalls auf der Bundesstraße im Stau standen. In dieser Zeit berichtete Albert von dem Toten in U-Haft und von seinem Telefonat mit Frau Fietz. Das Gespräch mit Dr. Schnittker erwähnte er nicht, weil er seine Vermutung vorerst für sich behalten wollte. Er war ein Einzelgänger, der niemandem mehr vertraute, auch wenn Emine für ihn mittlerweile eine Art Vertrauensperson geworden war wie schon lange niemand mehr.
»Und das hat sie jetzt erst erwähnt?«, fragte Emine aufgebracht. »Wie kann man so etwas denn verschweigen?«
»Sie ist eine trauernde Witwe. Sie hat ihren Mann verloren und möchte sein Andenken nicht zerstören. Ich war vorhin auch noch sehr sauer. Doch jetzt ist es mir wieder in Erinnerung gekommen. Als ich meine Frau verloren habe, und jemand hätte im Nachhinein Dinge aufgewühlt …«
Es hatte angefangen zu regnen, und der Scheibenwischer arbeitete im Rhythmus gegen das kalte Nass. Albert drehte die Heizung noch ein bisschen höher, weil es ihn auf einmal fröstelte.
»Okay. Belassen wir es dabei«, meinte Emine. »Es ist also denkbar, dass unser Mörder derjenige ist, der anonym Recherchen über Simon Fietz angestellt hat. Der jetzt davon ausging, dass Simon ein Kinderschänder war. Vermutlich hat der Mörder diese Informationen aus den damaligen Zeitungsartikeln? Und diese Laura Kunst vom Jugendamt. Wir sollten mal mit ihr sprechen, meinst du?«
»Das ist durchaus plausibel. Hundert Prozent Sicherheit haben wir natürlich nicht. Was wir wissen, ist, dass Bettina Kemper Pflegeeltern hatte und Simon Fietz in Kinderheimen und Pflegefamilien aufwuchs. Das ist die erste von zwei großen Verbindungen zwischen den beiden. Vielleicht gibt es noch Unterlagen über sie. Ein Kinderheim, das beide vielleicht kurzzeitig bewohnt hatten. Simon Fietz war zweiundvierzig Jahre alt, Bettina Kemper achtunddreißig. Es ist denkbar, dass sie sich in jungen Jahren begegnet sind«, erklärte Albert. »Und die zweite Verbindung ist die im besten Fall fragwürdige Vergangenheit. Kemper soll ein Feuer gelegt haben, bei dem zwei Kinder starben, und Fietz soll in Laos ein Kind aufgegriffen und dieses sexuell missbraucht haben – was sich aber im Nachhinein offensichtlich als falsch herausgestellt hat. Es ist denkbar, dass jemand davon ausging, beide wären auf ihre Weisen kriminell.«
»Kannst du dir das vorstellen? Das sind phänomenale Wendungen in dieser Ermittlung.« Sie lächelte dabei.
Leider bringt uns das noch nicht näher an den Darknetkiller, der Bettina Kemper und Simon Fietz umgebracht hat , dachte Albert.
»Es könnte also eine Art Gerechtigkeitsfeldzug sein, was wir hier vor uns haben. Jemand, der herausgefunden hat, was Simon Fietz und Bettina Kemper vermeintlich getan haben«, schloss Emine.
»Geduld, Frischling. Geduld. Ich glaube, wir haben erst an der Oberfläche gekratzt. Mein Bauchgefühl sagt mir, da steckt mehr dahinter, als das Auge sieht. Heute ist Sonntag, wir werden Laura Kunst also erst morgen im Jugendamt besuchen können. Ich werde gleich noch die anderen briefen, und anschließend sollten wir was essen gehen.«
»In Ordnung. Wir sollten auf jeden Fall auch die Angehörigen der zwei verbrannten Jungen ausfindig machen. Aktuell sehe ich dort die besten Chancen, den Täter der Videomorde zu verorten«, sagte Emine.
»Ja, da hast du recht. Dieser Spur sollten wir nachgehen.«
Emine spürte, dass Albert aber Zweifel an ebendieser hegte. »Du glaubst nicht daran?«
»Ich habe einfach das Gefühl, wir verschwenden damit unsere Zeit, auch wenn wir nicht drum herumkommen, diesen Ansatz zu verwerten.«
Sie bogen gerade auf den Parkplatz der Polizeiwache ab, als sie ein lauter Knall aus ihren Gedanken riss und die hintere Scheibe von Alberts Wagen zerbarst.