»Es tut mir furchtbar leid, aber ich war im Urlaub – meine Mutter besuchen«, begann Laura Kunst aufgeregt, nachdem Albert geklingelt hatte. Ihm schlug ein Geruch von abgestandener Luft und Katzenkot entgegen. Wenige Augenblicke später sah er einen gestreiften Kater aufkreuzen, der mehrere Achten um Alberts Beine zog und fusseliges Haar an Säumen und Schuhen hinterließ.
Laura Kunst war klein, sehr klein. Vielleicht ein Meter fünfundvierzig. Sie reichte Albert bis zur Brust und war dabei auch noch etwas übergewichtig. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt, der von zwei grauen Stricknadeln gehalten wurde. Sie trug einen dunkelblauen, knöchellangen Rock und ein rosa T-Shirt mit einem Hello Kitty -Gesicht.
Im Wohnzimmer herrschte geordnetes Chaos. Alles stand voll. Die Fensterbänke, die Regale, der Esstisch, der Wohnzimmertisch, die Radiatoren, die Kommoden. Überall waren Mitbringsel aus verschiedenen Urlauben aufgestellt. Alles stand geordnet mit entsprechenden Urlaubsbildern an Ort und Stelle, und wenn Albert es nicht besser gewusst hätte, würde er annehmen, er stünde in einem Museum für Ramsch aus aller Welt.
Das Köpfchen einer Babykatze lugte unter dem Sofa hervor, sie schnüffelte an Alberts Schuh und zog sich umgehend zurück, als sich Albert neben einem Stapel Frauenzeitschriften auf das Sofa setzte.
»Ihre Mutter lebt in Thailand?«
»Ja, sie hat dort ihr Glück gefunden. Mit zweiundneunzig Jahren. Nicht schlecht, was? Ich versuche, sie regelmäßig dort zu besuchen. Allerdings die Entfernung … Nun ja, Sie wissen ja. Ein Katzensprung ist es nicht.«
Dieser furchtbare Gestank! »Sie sind sicher verunsichert, warum die Polizei bei Ihnen auftaucht.« Albert hatte bemerkt, dass sie am ganzen Körper leicht zitterte. »Sie müssen keine Bedenken haben. In Ordnung?«
»Okay. Möchten Sie etwas trinken oder essen?«
Rotwein oder Whisky bitte. »Nein danke. Ich möchte jetzt nichts.«
Albert lehnte sich nach vorn und stützte seine Arme auf die Knie. Frau Kunst saß ihm gegenüber in einem Sessel und streichelte ihren Kater, der auf ihrem Schoß langsam einschlummerte und schnurrte. Sie erinnerte ihn in dieser Pose an einen James Bond -Bösewicht.
»Sie haben sicher von den schrecklichen Morden gehört. Von der Ehefrau von Simon Fietz – der Erste, der ermordet wurde – haben wir Ihren Namen erhalten. Sie hätten für eine Freundin damals Recherchen angestellt. Über die Vergangenheit von Simon Fietz. Wo er aufwuchs und solche Dinge.«
Laura Kunst rutschte nervös hin und her, sodass ihr Rock schief angezogen wirkte.
»Wie gesagt, ich bin nicht hier, um Ihnen Datenschutzverletzung vorzuwerfen. Wenn Sie ganz ehrlich zu mir sind, wird das keiner erfahren.«
Mit Absicht streute Albert eine kleine Drohung mit ein.
»Also ja. Ich erinnere mich.«
»Sie müssen mir auf die Sprünge helfen. Mittlerweile haben wir drei Todesopfer zu beklagen, die live im Internet hingerichtet wurden. Nach unseren Recherchen waren die drei in Heimen oder bei Pflegeeltern untergebracht. Alle sind laut Geburtsurkunde in Nordhorn geboren. Ich muss wissen, ob es bei allen dreien vielleicht dasselbe Heim oder dieselbe Pflegefamilie war.«
»Alle sind in Nordhorn geboren, sagen Sie?«
»Zumindest steht das auf den Geburtsurkunden, ja. Von allen Opfern kennen wir die leiblichen Eltern nicht.«
»Sie wurden also anonym ausgesetzt«, schloss Laura Kunst daraus.
»Ganz recht. Können Sie mir sagen, wie eine Aussetzung von Neugeborenen in den meisten Fällen abläuft?«
»Nun, heute sicher anders als früher. Die meisten legten ihre Säuglinge damals zum Beispiel vor dem Jugendamt oder einer kirchlichen Einrichtung ab. Oder die Kinder werden, sollte eine Kindeswohlgefährdung vorliegen, direkt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes aus den Familien genommen. Bei Simon Fietz war es damals ein Kindergarten. Dieser befindet sich übrigens nach wie vor in der Bentheimer Straße in Nordhorn. Heute gibt es allerdings die Babyklappen. Diese wurden Anfang der Zweitausender in Betrieb genommen. Die erste in Hamburg, glaube ich. Sie werden gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Kritiker meinen, dadurch macht man es Eltern zu leicht, ihr Kind loszuwerden. Ich hingegen finde …«
»Kommt das oft vor? Dass Babys so abgelegt werden, meine ich«, unterbrach sie Albert, um wieder zum Thema zu kommen.
»Na ja, nicht so oft. Circa fünfzig Kinder werden jährlich deutschlandweit auf diesem Weg abgegeben. In Nordhorn haben wir im letzten Jahr zwei Babys in Babyklappen aufgefunden. Es gibt auch Jahre, da passiert nichts. Es ist ganz unterschiedlich. Zumindest kann ich sagen, dass es früher weder mehr noch weniger Neugeborene gab, die weggegeben wurden. Im Durchschnitt blieb es gleich. Babyklappe hin oder her.«
Albert nickte ernst. »Die armen Kleinen.«
»Ja, schon. Aber die Alternative wäre vermutlich der Tod gewesen. Man kann sich schwer in die Lage von Eltern – und vor allem Müttern – hineinversetzen. Wenn sie freiwillig ihr Baby abgeben, da muss schon was passieren.«
Albert nickte. Er konnte nicht klar bewerten, wie sich Mütter fühlen mussten. Welche Notlagen sie erleiden mussten, um solch eine grausame Entscheidung zu treffen. Vielleicht war grausam auch nicht das richtige Wort. Vielleicht war es für das Baby im Nachhinein auch eine Erlösung oder die echte Chance auf ein normales Leben.
»Wurden auch andere Kinder bei dem besagten Kindergarten abgegeben?«
»Das weiß ich so aus dem Kopf leider nicht.«
»Würden Sie mit mir in Ihr Büro fahren, um nachzusehen, ob auch die anderen beiden Opfer neben Simon abgelegt wurden?«
»Dazu brauchen wir nicht ins Büro«, sagte Laura triumphierend.
Sie gingen hintereinander auf den Flur und eine Treppe aus hellem Kiefernholz nach oben. Dicht gefolgt von dem Kater.
Lauras Büro war klein und vollgestellt. Es war quasi das Pendant zum Wohnzimmer. Nur waren es hier Manekineko-Winkekatzen, die die freien Flächen des Bürotisches und der Schränke einnahmen. In der Mitte des weißen IKEA-Bürotisches stand ein großer Bildschirm, der an einen Laptop angeschlossen war.
»Homeoffice«, meinte Laura nur.
Sie startete den Laptop, öffnete irgendwelche bunten Programme und tippte etwas in die Tasten.
»Sie speichern alle Daten ehemaliger Findlinge?«, fragte Albert.
»Ja. Aus guten Gründen. Es kann ja immer mal sein, dass sich ein Verwandter meldet, der sein Enkelkind, Kind, Geschwisterchen oder Cousin ausfindig machen möchte.«
Albert nickte stumm. »Suchen Sie bitte nach Simon Fietz.«
»Simon Fietz … Ah ja. Da. Amtlich festgestelltes Geburtsdatum war am 04. April 1979. Mutter und Vater unbekannt. Abgelegt vor einem Kindergarten in Nordhorn. War zunächst im Kinderheim Moses untergebracht. Das wurde 1992 geschlossen.«
»Wo war das Kinderheim Moses?«, fragte Albert.
»In Bad Bentheim.«
Er notierte sich dies Information in seinem Handy und meinte: »Fahren Sie fort.«
»Im Heim war er bis 1983, wurde später an eine Pflegefamilie abgegeben, die ihn 1989, da war er zehn Jahre alt, an die nächste Familie abgab. Simon lebte dort bis 1994.«
»Warum ist das passiert?«
»Der Mann verstarb an Krebs und die Pflegemutter konnte die Aufgaben nicht mehr allein bewältigen. Sie hatten, inklusive mit Simon Fietz, insgesamt vier Kinder betreut. Die Mutter ist nach dem Tod des Mannes nicht mehr gut mit den Kindern umgegangen. Deswegen der Wechsel in die zweite Familie. Oh, auch die sind mittlerweile verstorben. Autounfall.«
Verdammt!
»Hm«, machte Albert. »Wie heißt die noch lebende Frau der ersten Familie, wo lebt sie und wie alt ist sie heute?«
»Krista Schlesing. Heute vierundsiebzig Jahre alt. Wohnt in Rostock.«
Er notierte sich den Namen. Daneben schrieb er Als Täterin wahrscheinlich ausgeschlossen .
»Versuchen Sie es mit Leoni Joost.«
Wieder tippte Laura in ihre Tasten und ein Bild baute sich auf.
»Da, Leoni Joost. Amtlich festgestelltes Geburtsdatum ist der 16. Juli 1983. Mutter und Vater unbekannt. Abgegeben – Herrjemine – wieder vor dem Kindergarten in Nordhorn. Sie wurde dort um zwei Uhr zwanzig in der Nacht gefunden und war stark dehydriert. Sie wurde ins Kinderheim St. Ludwig nach Bentheim vermittelt. Das gibt es heute noch. Kam mit zwei Jahren in eine Pflegefamilie. Blieb dort bis zum ihrem achtzehnten Geburtstag und dann … Merkwürdig. Nichts mehr. Kein weiterer Eintrag.«
»Das liegt daran, dass Leoni ihren Namen zu Bettina geändert hat. Hat ihr altes Leben hinter sich gelassen. Sie ist die zweite Tote. Was können Sie mir zu der Pflegefamilie sagen?«
»Vorbildlich. Haben bis 2003 mehrere Kinder von uns vermittelt bekommen. Bei jeder Überprüfung gab es keine Beanstandungen. Sie heißen Joshua und Inga Berends. Sind heute in Rente und leben in einem Pflegeheim bei Kassel.«
Albert notierte sich die Namen und vermerkte Als Täter wahrscheinlich ausgeschlossen . »Gut, hier ein weiterer Name. Aaron Lischke.«
Sie tippte auf ihrer Tastatur und wurde fündig. »Hier. Aaron Lischke. Amtlich festgestelltes Geburtsdatum ist der 03. Februar 1981. Mutter und Vater unbekannt.« Sie pfiff durch ihre Zähne. »Er wurde in Lingen vor dem Bahnhof gefunden. In der Nähe der Gleise. Wurde in ein Heim gegeben. Erst ins Kinderheim Pinkafeld in Frankfurt, danach ins Kinderheim Maria Josefinum in Norderstedt, später noch Landeserziehungsheim Fröttingen bei Mainz. Als Letztes ins Jugendheim Evangelische Stiftung der Gräfin Rupe. Das ist in Göttingen. Kam ganz schön rum, der arme Junge. Er war einer dieser Fälle, die von Kindesbeinen an nur eine Art Boshaftigkeit in sich hatten. Hat sich laut unseren Unterlagen immer wieder Regelverstöße erlaubt. Nach seinem achtzehnten Geburtstag kam er ins betreute Wohnen. Hier wurde er auch nach vier Monaten verbannt. Keine weiteren Einträge.«
»Alle drei hatten also überhaupt keine Berührungspunkte, außer dass sie als Neugeborene in Nordhorn und Lingen abgelegt wurden.«
»So scheint es, ja.«
»Gab es zwischen 1975 und 1985 weitere ausgesetzte Kinder?«
»1977 gab es ein weiteres beim Freibad in Nordhorn. Das ist aber tot aufgefunden worden. Also nur die drei, wie es scheint. Aber die vorliegenden Daten sind alt und mittlerweile mehr schlecht als recht digitalisiert. Ich brauche mehr Zeit, um ihre Frage zu … Nein, Moment, da habe ich einen weiteren Eintrag. 1994 wurde in Nordhorn ein Kind am Vechtesee gefunden. Der Name lautet Stefanie Röddering. Sie ist 2011 an einer Überdosis gestorben und lebte vorher in verschiedenen Kinderheimen, mit sechzehn dann im betreuten Wohnen.«
Alberte stöhnte. Er hätte wetten können, dass er durch eine Überschneidung einen Tatverdächtigen oder eine Tatverdächtige hätte aufspüren können. In seinen Notizen standen jetzt aber bloß drei Rentner, wobei zwei davon vorbildliche Arbeit an Kindern gezeigt hatten, deren Denkmal er nicht anrühren wollte, nur weil er keinen anderen Einfall hatte.
»Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht mehr helfen konnte«, sagte Laura.
»Sie haben mir sehr geholfen.« Albert schickte seine Ergebnisse in die gemeinsame digitale Ermittlungsakte der Sonderkommission. »Ich will sie nicht länger aufhalten.«
»Es war nett, Besuch zu haben«, sagte Laura. »Ich war ja am Anfang etwas besorgt …«
»Wie gesagt. Ich habe nicht vor, Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, weil sie einer alten Freundin mal Auskünfte gegeben haben.«
»Nein, ja. Also, ich war auch deswegen besorgt. Aber als Sie angerufen haben, um mit mir zu sprechen, dachte ich, es geht um diesen Einbruch. Dass ich nicht sicher sei oder so etwas.«
»Einbruch?« Albert war völlig perplex.
Laura nickte aufgeregt. »Hätte mich auch gewundert, woher die Polizei davon wusste. Hab ja schließlich keine Anzeige erstattet.«
»Frau Kunst, bitte. Etwas deutlicher, wenn es möglich ist.«
Sie wirkte etwas erschrocken, weil Albert sie plötzlich lauter als zuvor ansprach.
»Ja … Also, ich kam vor vier Monaten nach Hause und habe gesehen, dass das Fenster hinten geöffnet war. Also ganz weit auf. Und ich war mir so sicher, dass ich es auf Kipp gestellt hatte. Außerdem waren da diese Sandkrümel auf der Treppe. Ich hatte am Morgen alles abgesaugt. Sie wissen schon, diese Tiere haaren, als wäre man in einem Friseursalon. Dieser Dreck am Boden kam bestimmt von Schuhsohlen. Da bin ich mir sicher.«
»Wurde etwas entwendet?«
»Das ist es ja! Nichts. Es fehlte nichts. Nicht dass ich viel hätte. Doch das bisschen Schmuck war noch da. Auch meine fünfhundert Euro, die unter der Matratze liegen, waren noch da. Ich bin mir ganz sicher, hier war jemand im Haus. Entweder hat er nicht gefunden, wonach er suchte, oder der Einbrecher hat es sich anders überlegt.«
Nicht sehr wahrscheinlich , dachte Albert.
»Frau Kunst, kann man nachsehen, wer als Letztes die digitalen Akten von Simon Fietz, Bettina Kemper alias Leoni Joost und Aaron Lischke aufgerufen hat?«
»Natürlich.« Sie ging wieder um ihren Schreibtisch, fing an zu tippen und zu klicken und weitete ihre Augen. »Oh! Also das kann ja nicht sein.«
»Was ist los?«
»Der letzte Zugriff auf alle drei Akten – heute ausgenommen – erfolgte vor etwas mehr als vier Monaten. An dem Tag, als hier eingebrochen wurde!«
»Er hat also Ihren Computer benutzt?«, fragte Albert, und seine Nackenhaare stellten sich auf. »Kann man nachvollziehen, ob derjenige Zugriff auf andere Namen hatte?«
Laura zitterte wieder am ganzen Körper und tippte erneut.
»Er hat anscheinend nur nach diesen Kindern und einem weiteren Kind gesucht. Wie gesagt, die Daten hier sind schwer zu überblicken. Und ich sehe, dass mit meiner Kennung ein Datensatz gelöscht wurde. Ich kann jedoch nicht sagen, welcher.«
»Es wurde etwas gelöscht? Was meinen Sie mit Datensatz? Und wer ist das andere Kind?«
»Warten Sie kurz. Hier wurde das Deckblatt der digitalen Akte verschoben. Aber ich kann auf anderem Weg herausfinden, um welches Kind es sich handelt. Und zu den gelöschten Daten: schwer zu sagen. Das kann alles Mögliche sein. Digitalisierte Post, Urkunden von damals oder einfach nur eine fehlerhaft angelegte Akte.«
»Kann man das wiederherstellen?«
»Ich weiß es nicht. Da müsste ich unsere IT-Leute fragen. Ich kann das von hier aus nicht machen.«
»Tun Sie das«, sagte Albert. »Melden Sie sich bei mir oder meiner Kollegin, Frau Emine Laub. Verstehen Sie das? Wir brauchen ganz dringend diese Information, was dort gelöscht wurde.«
»Verstehe«, sagte sie. Dann hellten sich ihre Gesichtszüge auf. »Aha! Ich habe das Deckblatt des letzten Kindes wiedergefunden. Mit allen wichtigen Informationen.«
»Geben Sie mir den Namen!«