»Wiederhole das bitte noch einmal«, sagte Albert.
Er hatte das Büro von Dr. Schnittker verlassen und war zurück zu seinem Auto gegangen, ehe er Emine zurückrief.
»Ich stehe gerade in Wietmarschen. Ortsteil Lohne«, sagte sie.
»Und da ist eine Leiche?«
»Ja, ganz sicher die von Aaron Lischke. Die Extremitäten sind unverkennbar. Eine ältere Frau, die hier entlanggelaufen war, hat sie gefunden. Die Presse ist auch schon hier. Verdammt schnell, meine ich. Wir haben echt ein Maulwurfproblem, oder sie hören unseren Funk ab. Wie dem auch sei, am liebsten würden sie vermutlich bei den Ermittlungen mitmischen.«
»Keine schlechte Idee, wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können.« Albert stieg in seinen Wagen und wartete, bis sich sein Handy automatisch mit der Freisprechanlage verbunden hatte. »Beschreib mir, was du siehst.«
Er konnte regelrecht hören, wie sich Emine um die eigene Achse drehte und die Umgebung in Augenschein nahm.
»Hinter mir große Felder. Die Sicht auf den Fußballplatz des Ortes ist gut. Die Leiche befindet sich in entgegengesetzter Richtung. Hundertachtzig Grad. Hier haben wir einen Mischwald. Laub am Boden aus halb ausgefallenen Baumkronen. Hohes Gras auf den ersten drei Metern. Dann Holz und Geäst. Dornensträucher, die herabgedrückt wirken. Die Spurensicherung sollte alle stacheligen Blätter einsammeln.«
Wie aufs Stichwort lief Dr. Schnittker die Treppenstufen der Gerichtsmedizin hinab, um sich zum Tatort nach Lohne zu begeben. Albert erkannte, dass er in Eile war.
Emine fuhr fort. »Vielleicht hat der Täter Kleidungsfasern oder, noch besser, DNA daran hinterlassen. Hinter den Gebüschen liegen die Überreste eines Toten. Vermutlich Aaron Lischke. Von der vorbeiführenden Straße zwischen Feldern und Wald schwer zu erkennen. Eben gerade so, dass man sie letztlich dennoch findet. Der Körper ist komplett entkleidet. Keine Kleidungsstücke in der Nähe. Die Haut wirkt bläulich und wächsern. Der Kopf ist abgetrennt, aus der Wunde sickert ganz leicht ein Rinnsal Wasser. Wahrscheinlich ist die Luftröhre durch die Totenstarre verkrampft und der Oberkörper aufrecht gehalten worden. Ansonsten wäre das Wasser bereits vollkommen ausgelaufen. Kein Blut. War zu erwarten, schließlich haben wir ihn live ertrinken sehen und der Kopf wurde nicht hier entfernt. Da ist noch eine weitere äußerliche Verletzung. Eine abgetrennte Hand beziehungsweise ein abgetrennter Arm. Dieser hängt an einem dünnen grauen Band an einem Baum. Eine Kiefer, denke ich. Das Band ist in geschätzt zwei Meter Höhe um einen Ast gewickelt. Der Arm ist lateral von Ulna und Radius knapp vor der Hand durchtrennt und das Seil am restlichen Teil des Armstumpfes umbunden. Die Hand ist frei und nicht mit dem Seil umbunden. Sie macht eine Art Faust, jedoch nicht so stringent. Der Daumen liegt abgewinkelt in der Innenfläche der Hand. Die restlichen Finger liegen mit ihren Kuppen auf dem Daumen auf. Keine Blutspuren am Boden. Sie wurde nicht hier abgetrennt. Das ist erst einmal alles.«
Albert öffnete seine Augen, nachdem er ihr zugehört hatte. Er hatte durch die visuelle Nichtablenkung durch äußere Einflüsse praktisch das Gefühl gehabt, sich selbst am Tatort aufzuhalten.
»Zeugen?«, fragte er.
»Keine, bis auf die Dame, die den Toten gefunden hat. Sie hat nichts gesehen. Keinen Wagen, keinen anderen Menschen.«
»Wer ist noch da?«
»Insgesamt sechs Streifen, die weiträumig Absperrband anbringen, sowie Tarek und Dirk. Bis auf ein paar Jogger und Hundeausführer kommt hier sowieso kaum jemand her. Ein Pkw – und ich gehe davon aus, dass der Darknetkiller Lischke nicht hergetragen hat – könnte von zwei Richtungen dieses Gebiet erreichen. Norden und Süden. Allerdings gibt es auf dieser Straße mindestens vier Zuwege, die ich von hier aus sehen kann. Theoretisch könnte er auch durch den Wald gefahren sein. Glaube ich aber nicht, sonst hätten wir sicherlich saubere Profilabdrücke. Und bisher war unser Mann fehlerfrei.«
»Also keine Chance, dass er irgendwo gesehen oder, besser noch, gefilmt wurde.«
Emine lachte auf. »Hier sind Bauernhöfe in der Nähe. Keine Banken und Juweliere. Wenn überhaupt, haben die Leute hier Kameras in ihren Ställen, um das Vieh im Auge zu behalten. Durch den Ortskern wird er nicht gefahren sein. Dort sind Geschäfte, Lokale und Banken. Ein paar Versicherungsbüros und Massagesalons. Wir prüfen das dennoch und schauen mal, ob jemand einen Van gefilmt hat.«
»Zeitverschwendung. Er wird nicht erneut denselben Van benutzt haben, um Lischke zu transportieren. Und ganz sicher hat er sich nicht aufnehmen lassen. Aber ja, überprüft es. Wenn man uns später lynchen will, kann man nicht behaupten, wir hätten nicht alles versucht.«
Emine schwieg.
»Hör zu …«, begann Albert, wurde von ihr darauf gleich unterbrochen.
»Lass es. Ich habe kein Interesse mehr. Ich hab’s versucht und bin an dir gescheitert. Shit happens. Nach dieser Sache hier werde ich mich wieder versetzen lassen.«
Es klickte und die Leitung war tot.
Vier Stunden später verließ Albert den Tatort in Lohne. Er hatte sich ein eigenes Bild gemacht. Die bläuliche Leiche von Lischke, die abgeschlagene Hand, der abgetrennte Kopf. Bauernhöfe, die lediglich Kameras zur Stallüberwachung hatten. Mehrere Zufahrtswege zum Tatort, keine Reifenspuren im Wald. Eine Boutique hatte tatsächlich Kameras auf die Straße gerichtet und konnte brauchbare Kennzeichen liefern. Der Betreiber schickte Alex das gesamte Material, das die Kamera die letzten vierundzwanzig Stunden aufgenommen hatte. Die Aufnahmen würden mit dem Bundeszentralregister für Kfz-Kennzeichen verglichen werden, allerdings machte sich niemand auch nur annähernd Hoffnung. Die Beamten der Streifenpolizei klapperten die nähere Umgebung ab und befragten Anwohner, ob ihnen etwas aufgefallen sei. Niemand wollte etwas gesehen haben, was nicht verwunderlich war, lag der Tatort doch zu weit entfernt, um wirklich Aufsehen zu erregen.
Zwei weitere Stunden später saß das gesamte Team der Soko Video im Ermittlungsraum und trug die aktuellsten Neuigkeiten zusammen und füllte die Tafel. Der Livestream der Ermordung von Lischke, Zeugenaussagen, relevante Hinweise, dass Fietz und Kemper alias Joost Geschwister waren und wahrscheinlich nichts voneinander wussten, Heime und Pflegefamilien, die die Ermordeten durchlaufen haben, und sie legten die Hinweise nebeneinander, die ihnen der Darknetkiller hinterlassen hatte. Die Leichenteile von Fietz, die zu einem N angeordnet waren, das Papier im Körper von Kemper mit der nebulösen Notiz sowie die Röntgenschablonen und nun eine Fotoreihe der abgetrennten Hand von Lischke, die an dem Baum im Wald gehangen hatte, ehe sie von der Gerichtsmedizin losgebunden worden war.
»Wir haben gerade den vorläufigen Bericht der Gerichtsmedizin zu den Leichen von Justus und seiner Großmutter bekommen. Doktor Schnittker hatte die Untersuchung in Oldenburg machen lassen«, sagte Tarek. Er blickte dabei auf sein Handy und scrollte offensichtlich durch eine Textdatei. »Sie waren bereits vor dem Brand tot. Erschossen. Beide jeweils eine Kugel in den Kopf und in die Brust. Die Großmutter zudem einen Schuss in den linken Fuß. Vermutlich wurde sie gefoltert, damit Justus kooperativ ist. Sie konnten die Projektile sichern. Neun-Millimeter-Patronen. Sie sind sogar so gut erhalten, dass die Kriminaltechnik glaubt, sie müssen mit einem aufgesetzten Schalldämpfer abgefeuert worden sein. Riefenspuren und Beschädigungen der Projektile zeigen das eindeutig. Sonst wären die Geschosse durch die Körper hindurchgeflogen. Teilmantelgeschoss im Unterschallbereich, damit das Abfeuern noch leiser ist. Diese Geschosse nutzen Spezialeinheiten der Bundeswehr, wenn sie im Einsatz sind. Um Ziele lautlos auszuschalten. Schwer, diese Dinger zu beschaffen. Allerdings bekommt man im Darknet ja so gut wie alles, wie wir gelernt haben.«
Albert rief den Bericht an einem Laptop auf dem Tisch vor sich auf. Er überflog die Darstellungen und nickte. »Also war Justus zu nahe dran. Wie wir es vermutet haben. Verdammte Scheiße.«
»Das Aufblitzen, das der Pizzabote gesehen hat. Das waren die Schüsse. Wegen des Schalldämpfers und der Spezialmunition hat er nichts gehört. Gut, dass er nicht weiter geklingelt hat. Sonst wäre er jetzt vielleicht auch tot«, ergänzte Emine.
»Und bei den Computern und Festplatten war nichts zu retten?«, fragte Tarek an Alex gewandt.
Der saß weiterhin in der Ecke mit den Spezialistinnen für IT und blickte kurz auf. »Nichts. Er hat vorher alles mit einem Magneten zerstört, und der Brand hat sein Übriges getan. Sorry, da können wir gar nichts retten.«
»Was von den Kennzeichen der Kamera aus Lohne?«, wollte Emine wissen.
Alex wechselte kurz den Rechner und tippte. Dann schüttelte er den Kopf. »Kein Kennzeichen im System, das auffällig wäre. Nichts Geklautes, nichts Auffälliges. Auch keine Zulassung für einen Van oder Kennzeichen, die an dem falschen Fahrzeug befestigt waren. Es sind noch nicht alle durch. Ich bleibe dran.« Er drehte sich wieder weg und vertiefte sich in ein Gespräch mit den beiden Frauen.
»Und jetzt?«, fragte Dirk, der mit verschränkten Armen auf einem Bürostuhl saß. »Die Hinweise sind Schrott. Damit können wir nichts anfangen.«
»Ruf bei dem Schutzhaus an und bitte Veit Amel darum, uns einen DNA-Abstrich zu geben. Die Kollegen sollen diesen danach umgehend mit Sonderrechten zu Doktor Schnittker fahren. Er untersucht dahingehend auch die Leiche von Lischke. Ich wette, auch sie sind miteinander verwandt. Bohrt weiter in der Vergangenheit der Ermordeten nach. Es muss eine Verbindung geben. Sprecht mit den Familien, Nachbarn, Kollegen. Ich weiß, das haben wir alles schon gemacht. Macht es erneut und erneut, wenn es sein muss. Nehmt euch die Mails vor, seht nach, was sie für Pornos geguckt haben, was sie wann und wo am liebsten gegessen und ob sie sich zu sonderbaren Zeiten nicht zu Hause aufgehalten haben. Wir brauchen endlich Resultate, sonst können wir hier bald einpacken«, sagte Albert gereizt.
Zu Hause angekommen, begegnete er Gretchen auf dem Flur, die aus Jakobs Wohnung herausgetreten war.
»Oh, Albert. Du bist es. Hast mich erschreckt. Ich war gerade …« Sie deutete auf die Tür hinter sich. »Na, jedenfalls ist wieder alles in Ordnung.«
Sie gingen nebeneinander die Treppenstufen hinauf und Albert war irritiert.
Er sagte: »Ich verstehe das nicht. War denn etwas nicht in Ordnung?«
Sie blieb stehen und lächelte knapp. »Doch, alles gut. Ich bin müde. Und übrigens; hier sind deine zwanzig Euro, die du mir geliehen hast.« Sie drückte ihm zwei Zehner in die Hand und lächelte. »Ein Lannister begleicht stets seine Schuld.«
»Ein was?«
»Vergiss es. Gute Nacht, Albert.« Sie küsste ihn auf die Wange und verschwand in ihre Wohnung.
Gretchens Verrücktheit ging ihm mittlerweile auf die Nerven.