Kapitel 56

Der Film Contact mit Jodie Foster war vielleicht für manche schon ein älterer Streifen. 1997 war er in den Kinos erschienen. Dieser Film war für Albert irgendwie ein wichtiger Teil seines Alltags geworden. Also ließ er den Player von vorn starten, riss sich eine Tüte Chips auf und brachte es fertig, eine Stunde lang zu gucken, ohne dabei an Alkohol zu denken. Zweimal wählte er Emines Nummer, legte aber in derselben Sekunde wieder auf. Zeitgleich fiel ihm auf, dass er mehr an Emine als an seine Tochter dachte. Das wiederum steigerte sein schlechtes Gewissen ins Unermessliche, und grollend warf er einen Blick auf den Ring an seinem kleinen Finger, kratzte an der Narbe an seinem Ohr und sah zu dem Computer, der jetzt ohne Funktion auf seinem Schreibtisch neben der Eingangstür stand.

»Ein Bier, mehr nicht.«

Es wurden sieben.

 

Es roch verbrannt, und Albert wusste, was das bedeutete. Mit schweren Beinen, und mit einem großen Kloß im Hals, ging er über die asphaltierte Straße. Im Bankett standen seine Kollegen. Sie hatten bereits eine breite weiße Plane errichtet, damit schaulustige Autofahrer, die unregelmäßig vorbeifuhren, keinen Blick auf den Tatort werfen konnten.

Die Luft war kühl und der Himmel sternenklar. Hier draußen gab es kaum Lichtverschmutzung, sodass der Große Wagen kaum zu erkennen war, weil die leuchtschwachen Sterne dahinter plötzlich ebenfalls sichtbar waren und die Konturen des Sternbildes verwischten. Albert fand ihn trotzdem, weil er sich seit jeher für Sterne und den Weltraum interessierte. Verband man die beiden hinteren Sterne des Großen Wagen mit einer imaginären Linie und folgt dieser der siebenfachen Länge nach oben, richtete sich der Blick automatisch auf den Polarstern. Dieser gehörte zum Kleinen Wagen und wirkte nun so extrem hell, als wäre er in dieser Nacht um die doppelte Größe gewachsen. Doch heute beeindruckte Albert dieses Schauspiel nicht. Er zitterte am ganzen Leib und richtete den Blick wieder nach vorn.

»Albert, was machst du hier?«, fragte ihn sein Partner, Bartold Kesser.

»Ich muss es sehen«, flüsterte er.

Er spürte Hände auf seinen Schultern, die ihn festhielten, aber er drückte sie weg. Zwei uniformierte Kollegen standen vor der Plane, überlegten kurz, ob sie ihn aufhalten sollten, nahmen schlussendlich die Plane doch zur Seite, nachdem Bartold ihnen zugenickt hatte.

Dahinter lagen zwei Leichen.

Zwei Frauen.

Beide hatten schwerste Verbrennungen erlitten. Die Kleidung war teilweise verdampft, teilweise mit dem Fleisch zu einer schwarzen Masse verschmolzen. Nur die Gesichter der beiden Leichen waren unversehrt. Eine hatte braunes gelocktes Haar, die andere kurzes schwarzes. Beide lächelten sie Albert an, was diese grauenhafte Skurrilität noch absurder machte. Die Frau mit dem schwarzen Haar hatte einen leicht abgebrochenen Zahn. Die mit den Locken hatte plötzlich eine Kamera in der Hand.

Es waren Marie und Emine!

Ihr Lächeln verschwand, und plötzlich schrien die beiden mit aufgerissenen Mündern. Feuerflammen loderten aus ihren Kehlen, und ihr Haar brannte lichterloh …

 

Albert schreckte schweißgebadet aus seinem Albtraum. Sein Herz raste, und sein T-Shirt war komplett durchnässt. Er war auf dem Sofa eingeschlafen, und auf dem Schirm seines Fernsehers taumelte das Logo eines Bildschirmschoners von links nach rechts.

Er blickte auf die Uhr an der Wand.

4:58 Uhr.

Plötzlich hörte er ein ratterndes Geräusch.

Sein Handy rutschte vibrierend über den Couchtisch und wurde von einer leeren Bierflasche davon abgehalten, auf den Teppich zu fallen. Albert brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass er wieder wach war. Das Vibrieren hörte auf und fing wenige Momente später wieder an.

Es war Alex, der ihn anrief.

»Zeiler, ist denn?«, meldete er sich mit einem unvollständigen Satz.

»Albert. Wir haben etwas auf den Videos entdeckt!«

Um fünf Uhr achtzehn war Albert auf der Dienststelle und betrat den großen Konferenzraum. Es roch nach altem Kaffee und Elektrosmog. Er hatte sich zwei Kaugummi eingeworfen und hoffte, dass Alex nicht bemerkte, dass er getrunken hatte. Alex kam ihm mit einer Tasse Kaffee entgegen, die Albert dankend annahm.

»Was habt ihr gefunden?«

»Klara und Imke kennst du ja.« Er deutete auf die beiden IT-Expertinnen. Albert wurde jetzt erst bewusst, dass er sich nicht einmal richtig vorgestellt hatte. Doch für Höflichkeiten war jetzt keine Zeit.

»Ja«, log er, weil er die Namen zum ersten Mal hörte.

Die Frau namens Klara sagte: »Wir haben ein Programm geschrieben, das es uns ermöglicht, feinste Geräusche aus Videomaterial herauszufiltern, die unter normalen Umständen nicht zu hören sind.«

Die Frau namens Imke ergänzte: »Ton besteht bekanntlich aus Schallwellen. Wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, breitet sich Schall wellenförmig in der Umgebung aus. Technisch ist es möglich, Schall zu unterdrücken. Nämlich mittels eines Diffusors. Es zerstreut und zerbricht den Schall, sodass wir ihn nicht wahrnehmen können. Sie kennen das vielleicht aus Tonstudios, die Sie im Fernsehen gesehen haben. Diese Stoffmatten mit Spitzen und Senken, die an die Wände genagelt sind. Letztlich ist es im technischen Bereich das gleiche Prinzip.«

»Zerbricht man Schall, kann man ihn theoretisch wieder zusammensetzen und die elektrischen Signale wiederherstellen. Aufgrund des Brechmusters können wir sozusagen die Stoffmatten wiederherstellen und die Spitzen rekonstruieren«, sagte Klara.

»Wir haben die Töne der Mordvideos gehört«, warf Albert ein. »Was ist daran so interessant?«

»Wir haben nur das gehört, von dem der Darknetkiller wollte, dass wir es hören«, meinte Alex. »Er hat ganz bewusst darauf geachtet, Hintergrundgeräusche zu unterdrücken. Und jetzt haben wir etwas herausfiltern können. Ein Geräusch, außerhalb des Raumes.«

»Also wurden die Morde nicht unter der Erde verübt, sondern irgendwo anders. An einem Ort, wo wir eventuell durch Geräusche im Hintergrund den Aufenthaltsort herausfinden können?«, fragte Albert. Sein Herz schlug schneller.

»Theoretisch. Es ist keine Autobahn oder das Lachen von Kindern, die auf einem Spielplatz spielen«, meinte Imke.

»Oder ein vorbeifahrender Zug«, sagte Klara.

»Oder das Dröhnen von Schiffen, die durch den Dortmund-Ems-Kanal fahren«, warf Alex als Letzter ein.

Albert blickte die drei vor sich nacheinander an, die wiederum ihn erwartungsvoll ansahen. »Ja, nun kommt zur Sache, meine Güte! Habt ihr so ein Geräusch filtern können, oder was?«

»Nun ja, nicht so direkt«, meinte Alex kleinlaut.

Die Hoffnung, die sich soeben bei Albert breitgemacht hatte, schwand wieder.

»Wir haben ein sich wiederholendes Brummen filtern können.« Er gab den beiden Frauen ein Zeichen, die daraufhin zwei Lautsprecherboxen aufdrehten. Albert lehnte sich gegen den Tisch und starrte auf den Bildschirm eines Laptops. Ein Programm zeigte eine gerade Linie, die nach kurzer Zeit ausschlug, wieder gerade wurde und wieder ausschlug. Als der Wiedergabeplayer die Ausschläge erreichte, ertönte ein metallisches Rattern, das sich so anhörte, als wären mehrere Schichten Mauern zwischen dem Klang und dem Aufnahmegerät. Klara stoppte das Programm nach einigen Wiederholungen des Ratterns und Dröhnens.

»Was? Das ist alles?« Albert bereute die Worte, aber die Müdigkeit in ihm machte ihn zu einem noch unerträglicheren Wesen. »Ich meine … Leute, gute Arbeit. Ich bin begeistert, dass ihr etwas Neues gefunden habt. Taucht dieses Geräusch in allen drei Videos auf?«

»Teils, teils«, entgegnete Klara. »Wir haben sie bei den einzelnen Videos in unterschiedlichen Mustern entdeckt.«

»Das Interessante ist, dass dieses Geräusch wohl nur am Tag zu hören ist. Genauer gesagt, ab sieben Uhr morgens. Was auch immer es ist. Fietz’ Video ging um vier Uhr zweiundzwanzig in der Nacht online. Er verstarb um sieben Uhr achtunddreißig durch die Eisenkugel. Exakt um sieben Uhr erfassten wir den Ton erstmalig. Dieser wiederholte sich darauf alle siebzig bis hundertdreißig Sekunden, bis das Video abgeschaltet wurde«, sagte Imke.

»Die Aufzeichnung bei Kemper begann um vierzehn Uhr am Mittag«, fuhr Klara fort. »Um exakt vierzehn Uhr dreißig konnten wir den Ton wieder alle siebzig bis hundertdreißig Sekunden wahrnehmen. Lischkes Video gleicht wieder dem von Fietz. Es begann um sechs Uhr fünfunddreißig am Morgen, um sieben Uhr erfassten wir das Geräusch alle siebzig bis hundertdreißig Sekunden, um sieben Uhr zwanzig endete das Video, nachdem Lischke ertrunken war.«

»Was vermuten wir also?«

»Vielleicht eine Zeitschaltuhr«, sagte Alex. »Wir haben die ganze Nacht diskutiert. Wir wissen durch Berechnung der Lichtverhältnisse, der Wand- und Deckenabstände zum Boden, durch die genauen Körpergrößen der Opfer als Referenz und die Winkeleinstellung der Kamera, dass alle drei Opfer hundertprozentig in ein und demselben Raum gefoltert und getötet wurden. Wir gehen davon aus, dass sich das Gebäude an der Oberfläche befindet. Durch komplizierte Computeranalysen konnten wir errechnen, dass ein Teil des Lichtes natürlich sein muss.«

»Also ein Fenster?«

»Genau. Ein Fenster. Vermutlich durch einen Vorhang verdeckt. Das Gebäude steht an der Oberfläche, hat sicherlich eine eigene Stromversorgung und einen Anschluss ans Internet. Möglicherweise illegal angezapft, was bei dem Darknetkiller und seinem Know-how nur natürlich wäre. Wenn das Gebäude also nicht unter der Erde liegt, muss dieses Dröhnen und Klappern von einer Art Maschine kommen, die alle siebzig Sekunden anspringt.«

»Ein Stromgenerator?«

»Wir drei haben das ausgeschlossen. Wir haben Geräusche von unterschiedlichen Generatoren durch das Programm von Imke und Klara laufen lassen. Frequenz- und Resonanzanalyse zeigen, dass es kein Generator war. Wir haben simuliert, dass wir maximal zwei gemauerte Wände zwischen Ton und Aufnahmegerät – die Kamera – haben. Durch eure Informantin Blizz wissen wir, dass das Laptopmodell ein Lenovo Legion Slim 7 ist.«

Klara sagte: »Dadurch kennen wir die genaue Software und Taktung des Endgerätes. Kurz gesagt: Es ist kein Generator, kein Kühlschrank, keine Truhe, keine Umwälzpumpe für eine Heizung, kein Straßenverkehr, kein Aquarium, keine Filteranlage, keine startenden Flugzeuge, kein Schiff.«

»Ist es möglich, das Geräusch noch weiter zu analysieren? Vielleicht so, dass wir ein deutlicheres Muster erhalten, um den Kreis einzuengen?« fragte Albert.

»Wir sind dran«, bestätigte Alex. »Aber garantieren … Das können wir natürlich nicht.«

»Gute Arbeit. Wirklich, ich bin beeindruckt«, meinte Albert nun ehrlich. »Meldet euch.«