Um acht Uhr teilte Albert der restlichen Gruppe mit, was Alex und sein Team herausbekommen hatten. Sie diskutierten lange, was das für ein Klang sein könnte, den sie wahrgenommen hatten.
Um zehn Uhr vierunddreißig hatte Tarek die Idee, dass das Rattern und Dröhnen von einem Überdruckventil in der Nähe des Ölkraftwerkes stammen könnte. Ein Telefonat später schilderte der diensthabende Werksleiter, dass Überdruckventile natürlich dröhnen und auch in der näheren Umgebung zu hören seien. Und ja, bei Tausenden Kilometern von Leitungen und unzähligen Möglichkeiten könne es auch vorkommen, dass eines der Kühlwassersysteme regelmäßig alle siebzig bis hundertdreißig Sekunden einen Druckausgleich vornimmt. Es sei ihm jedoch schleierhaft, wie ein Gebäude in der Nähe stehen könne, wo man Leute umbrachte. Schließlich würde es ganz sicher keine Baugenehmigung in der Nähe der Raffinerie dafür geben. Aus Sicherheitsgründen mussten Baumaßnahmen mehrere Kilometer Abstand halten. Alle waren sich einig, dass sie der Spur nachgehen sollten. Schließlich war es durchaus möglich, dass sich der Darknetkiller keine Baugenehmigung für sein Mordhaus geholt hatte. Vielleicht nutzte er ein leer stehendes Gebäude, das niemandem mehr gehörte.
Um elf Uhr einundvierzig suchten dreißig Polizisten, ein Hubschrauber und drei Überwachungsdrohnen das Gelände außerhalb des Ölwerks ab. Durch einen detaillierten Lageplan entsprechender Ventile konnten sie das Drei-Millionen-Quadratmeter-Areal eingrenzen und um dreizehn Uhr vierzehn feststellen, dass hier kein Mordhaus zu finden war. Ihr Fang bestand lediglich aus illegal entsorgtem Müll und einem toten Hund.
Um fünfzehn Uhr neunzehn stritt sich Albert mit Michael Schreiber und Joachim Braunperle darüber, ob und wozu der Innenminister von Niedersachsen ins genaue Lagebild der Ermittlungsarbeit Einsicht nehmen sollte. Albert gewann diesen Kampf für sich, weil er drohte hinzuschmeißen, wenn sich Politiker auf Kosten der Polizei vor medialem Druck absichern wollten und Staatsanwalt sowie Vorgesetzte nicht auf ihrer Seite standen.
Emine tigerte vor der Ermittlungstafel hin und her, die jetzt durch die Bebilderung des Tatortes von Aaron Lischke weiter gewachsen war. Sie sah sich die Bilder von Fietz an, die Leichenteile als N ausgelegt, die Notizen aus Kempers Körper, dann die abgehackte Hand und wieder von vorn.
»Irgendwas verbirgt sich hier.«
Tarek gesellte sich zu ihr, und beide diskutierten leise miteinander. Albert wollte sich erst zu ihnen begeben, ließ es letztlich doch bleiben. Lieber beobachtete er Alex und sein Team dabei, wie sie das Rattern und Dröhnen weiter auseinandernahmen.
Um siebzehn Uhr zweiundzwanzig meldete sich die Hundestaffel. Sie konnten den Kopf von Aaron Lischke nicht finden und brachen ihre Suche nun ab.
Um achtzehn Uhr dreiunddreißig vibrierte Alberts Handy in seiner Tasche. Er war bereits auf dem Flur, um das Präsidium zu verlassen. Umständlich kramte er das Smartphone hervor und drückte mit seinem Zeigefinger das grüne Symbol.
»Zeiler?«
»Guten Abend, Doktor Schnittker hier. Ich möchte betonen, dass ich viel zu wenig Gehalt bekomme für die Überstunden, die ich hier abreißen muss.«
Albert sagte nichts und schloss nur genervt die Augen. Er wäre aktuell wirklich in der Lage, diesen arroganten Gerichtsmediziner einen deftigen Schlag zu verpassen, wenn er die Möglichkeit dazu hätte.
»Sind Sie noch dran?«
»Bin ich.«
»Na schön. Also, ich habe die Probe von Veit Amel bekommen. Außerdem habe ich der Leiche von Aaron Lischke eine DNA-Probe entnommen. Meinen Bericht erhalten Sie morgen.«
»Sagen Sie’s«, forderte Albert.
»Es sind nur Schnelltests, die wir machen konnten. Eine Fehlerquote ist nicht ausgeschlossen. Aber ich glaube, die Tests sind korrekt. Alle vier sind Geschwister.«
»Ich hab’s gewusst«, meinte Albert mehr zu sich selbst.
»Ja, doch eine Sache haben Sie sicher nicht gewusst«, erwiderte Dr. Schnittker, und Albert konnte sein ausdrucksloses Gesicht förmlich sehen.
»Und was wäre das?«
Was Dr. Schnittker ihm mitteilte, war eine weitere Wendung in ihrem Fall.
Nur noch Imke saß vor dem Laptop. Alex schlief nebenan auf einem Sofa, Klara war ins Hotel gefahren. Dirk und Tarek waren ebenfalls bereits gegangen, um sich auszuruhen, während Emine, das Kinn auf ihre Fäuste aufgestützt, vor der Hinweistafel auf einem Stuhl saß, die Zeitlinien, Bilder, Hinweise und Zeugen musterte und einfach nur müde wirkte.
»Sie alle sind Geschwister«, sagte Albert.
Imke und Emine blickten auf.
»Jemand wusste also davon«, meinte Emine, stand auf und notierte die neue Info mit einem roten Stift.
»Ja, jemand wusste es. Und es gibt eine Überraschung.«
»Die da lautet?«
»Fietz, Kemper und Amel haben dieselben Eltern. Mutter und Vater sind identisch. Lischke teilt sich nur den Vater. Er war sozusagen ihr Halbbruder. Doktor Schnittker wird noch weitere Analysen vornehmen, um das zu untermauern, wir nehmen es jetzt mal als gegeben hin.«
»Und was nun?«, fragte sie.
»Jetzt machen wir Schluss. Morgen früh werden wir nach ähnlicher DNA im System suchen, die sich mit der Mutter von Lischke deckt. Vielleicht landen wir einen Treffer. Entsprechendes Material bekommen wir von Doktor Schnittker vor morgen sowieso nicht.«
Emine nickte. »Okay. Was macht das mit dir?«
»Was meinst du?«
»Die Toten sind alle Waisen. Das bist du doch ebenso.«
Albert stockte kurz. »Da habe ich nicht mal drüber nachgedacht. Es macht nichts mit mir. Es ändert nichts. Ich wurde nicht ausgesetzt und hatte eine gute Kindheit. Das weißt du.«
»Okay. Bis morgen«, beendete sie damit das Gespräch.
»Schönen Abend dir«, sagte Albert.
Emine nickte nur und stützte ihren Kopf wieder auf ihre Fäuste.