Emine riss die Tür ihres Wagens auf und rannte zu der Haustür, die sie schon mehrfach durchquert hatte.
Alberts Wohnung.
Unten vor dem und im Gebäude standen Beamte in Uniform sowie Ermittler der Spurensuche, die Material nach oben trugen. Wie sie erfahren hatte, waren ein Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug bereits mit eingeschalteten Sirenen abgefahren. Überall blinkte es blau durch das Sammelsurium der Polizeiautos. Schaulustige standen hier und dort verstreut, zückten Handys und tratschten miteinander. Tarek hatte ihr nur in kurzen Auszügen erzählt, was sie bisher wussten.
Emine nahm immer drei Stufen auf einmal, rannte an Jakob, dem Mitbewohner in diesem Haus, vorbei, der sie nur blass anstarrte. Er stand im Bademantel auf dem Flur und gab offensichtlich gerade eine Aussage zu Protokoll. Oben angekommen, erkannte sie die offene Wohnungstür von Albert und die von Gretchen. Fotos wurden gemacht, und Dr. Schnittker stand im weißen Overall in der Tür. Er blickte sie nur traurig an, sagte jedoch nichts. Im Innern von Gretchens Wohnung fotografierte ein Mann der Spurensicherung eine Blutlache, die sich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Knallrote, klebrige Flüssigkeit.
Emine fragte Dr. Schnittker: »Was wissen Sie bisher?«
Er tippte etwas in sein iPad ein und blickte über den Rand seiner Brille zu ihr. »Die Nachbarin, Gretchen Lorenz, wurde angeschossen.« Er deutete mit einer Hand auf eine Thermoskanne am Boden. Die Kanne wies eine Delle auf, und offensichtlich war Tee aus ihr ausgelaufen, was die zweite Lache an brauner Flüssigkeit erklärte, die sich neben dem Blut aufgetan hatte.
»Zwei Schüsse aus nächster Nähe. Schalldämpfer. Bestimmt mit der Waffe, die auch für den Tod von Justus Nunhismeyer und seiner Großmutter verantwortlich ist. Der Schütze hat vom Flur aus geschossen. In etwa dort, wo Sie stehen. Schmauchspuren am Boden und am Türrahmen. Das erste Projektil traf sie in die Wange, das zweite wurde von der Thermoskanne abgelenkt und drang in ihre Brust ein. Hätte sie ihren Tee nicht vor sich gehalten, hätte der Schuss ihr Herz nicht verfehlt. Der Notarzt sagte – wenn die arme Frau denn überhaupt überlebt –, dass der zweite Schuss sie definitiv umgebracht hätte. Zumindest schätzt er so die Situation ein, und ich auch. Ob das erste Projektil Hirnschäden verursacht hat, wissen wir noch nicht. Es gab keine Austrittswunde. Wie gesagt, vermutlich ein Schalldämpfer mit Unterschallmunition. Sonst hätten sicherlich die Personen im Nebengebäude noch den Knall gehört.«
»Es ist also nur das Blut der Nachbarin?«, fragte Emine.
»Ein Schnelltest ergab null negativ. Ihr Kollege, Herr Zeiler, hat B negativ. Seines ist also definitiv nicht dabei.«
Emine spürte Erleichterung in sich aufkeimen.
»Wer hat die Polizei gerufen?«
»Der Nachbar von unten. Jakob Reckling. Er hörte auffällige Geräusche im Flur, war sich zunächst unsicher und schlief weiter. Irgendwann später ging er dann doch nach oben und fand seine Nachbarin in ihrer Blutlache vor. Von Albert keine Spur. Er rief den Krankenwagen, die riefen die Polizei, die riefen mich.«
Jemand verlangte nach Dr. Schnittker, und er eilte in die Wohnung. Emine verschaffte sich einen Überblick von Alberts Wohnung gegenüber und stellte fest, dass seine Dienstwaffe fehlte, sein Holster jedoch neben seiner Jacke und seinem Handy auf dem Tresen lag. Sie ging die Treppe wieder hinab und blieb bei Jakob Reckling stehen, der immer noch blass und mitgenommen aussah. Bei ihm waren zwei Kolleginnen, die in ihre Notizblöcke schrieben.
»Hallo«, sagte er, als er Emine erkannte.
»Was haben Sie genau mitbekommen?«, fragte sie ohne Umwege.
»Ich habe den Polizeibeamten schon gesagt, dass ich eigentlich nichts mitbekommen habe. Ich schlief bereits, wurde kurz wach, hörte Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte, und schlief weiter. Später bin ich wieder aufgewacht, weil irgendetwas in mir sagte, hier stimmt was nicht. Also bin ich hoch, fand Gretchen und … O Gott. Gretchen und Albert. Warum sie?« Er wandte sich ab und unterdrückte ein Schluchzen. Emine wusste, dass es jetzt keinen Sinn mehr hatte, ihn zu bedrängen. Also ging sie wieder nach draußen in die kalte Luft und merkte erst jetzt, dass sie keine Jacke dabeihatte.
»Wo kann er sein?«, wollte sie von Tarek wissen, der eine Zigarette rauchte und mit den Schultern zuckte.
»Sein Wagen steht in der Garage, das Handy liegt oben. Wir können ihn also nicht orten.«
In diesem Moment kam Dirk mit zwei Kollegen der Streifenpolizei auf sie zu und sagte etwas, was Emine dazu zwang, sich zu übergeben.
»www.pay2.kill.to ist wieder online. Seit zehn Minuten.« Er drehte das Handy herum, und alle sahen, dass Albert gefesselt in einer Badewanne saß und in die Kamera blickte.