Kapitel 60

Etwas früher

 

»Mist!«, entfuhr es Albert, als Emine nicht ans Telefon ging. Er wählte die Nummer des Präsidiums, aber plötzlich erlosch sein Display und das Handy war tot. »Was ist das denn jetzt?« Egal was er auch versuchte, es ließ sich nicht mehr einschalten. Er warf es auf seine Anrichte und entschied sich, Gretchen ohne Verstärkung zu konfrontieren.

Vorsichtig öffnete er seine Wohnungstür. Im Flur schalteten sich die bewegungsgesteuerten Deckenlampen an. Es flimmerte kurzzeitig, dann war das Treppenhaus grell erleuchtet.

Kaltes weißes Licht.

Albert brauchte einen kurzen Augenblick, bis er sich daran gewöhnt hatte. Die Tür von Gretchens Wohnung war verschlossen. Natürlich. Vermutlich schlief sie. Wäre ihr Fernseher eingeschaltet gewesen, hätte er ihn gehört. Es kam kein Geräusch aus dem Innern ihrer Wohnung. Nur im Treppenhaus unter ihm meinte Albert, ganz kurz etwas gehört zu haben. Er warf einen raschen Blick über den stählernen Handlauf, aber erkannte nichts. Da war niemand. Sein Puls raste, und er wusste nicht wieso. Als ob Gretchen irgendetwas mit den Entführungen und Videos zu tun gehabt hätte. Sie würde ihn gleich auslachen und anschließend richtig wütend sein, dass Albert überhaupt geglaubt hatte, sie sei an diesen Morden irgendwie beteiligt gewesen.

Er klingelte an ihrer Wohnungstür.

Das Schellen ertönte.

Ansonsten kein Geräusch.

Er klingelte erneut und hörte wieder das Schellen im Wohnungsflur. Dann vernahm er Poltern, eine Tür – vermutlich die zum Schlafzimmer –, und gleich darauf das Schlurfen von Hausschuhen über Laminatboden. Vor der Tür machten die Schritte halt. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor Albert wieder Lebenszeichen hörte. Möglicherweise band Gretchen noch schnell ihren Bademantel richtig zu oder knotete ihre Haare zusammen.

Die Tür öffnete sich.

Gretchen sah ihn mit müden Augen an. Ihr Bademantel war locker zugeknotet, und ihre Haare fielen aus einem provisorischen Dutt langsam wieder auseinander.

»Albert! Was ist denn los? Alles in Ordnung?«

Erst sagte er nichts, weil ihm nicht so recht einfiel, was er hätte sagen können.

»Albert?« Sie ging einen Schritt auf ihn zu und erkannte seine Pistole in seiner Hand. »Was hat das zu bedeuten?«

Jetzt kam sich Albert lächerlich und peinlich vor. Stand er einfach mit einer geladenen Waffe vor ihrer Tür.

Was stimmt nicht mit mir? »Gretchen, keine Angst. Ich will dir eigentlich nichts tun.«

»Eigentlich?«, fauchte sie ihn an. »Da bin ich ja total erleichtert.«

»Es geht um die Gartenpumpe. Und um Game of Thrones

»Hast du gesoffen?« Sie blickte über seine Schulter, um in seine Wohnung zu blicken.

»Nein, habe ich nicht.«

»Dann steck das Ding in deiner Hand weg und komm rein.«

Sie drehte sich um und schlurfte müde in ihre Küche. Albert steckte seine Waffe in seinen Hosenbund und folgte ihr. Gretchens Wohnung war identisch mit seiner, nur war hier alles spiegelverkehrt.

»Klingelt der Kerl mich mit einer Waffe in der Hand aus dem Bett. Als wäre diese Welt nicht schon verrückt genug. Willst du auch einen Tee?«

»Nein danke.«

Sie holte eine Thermoskanne hervor und schüttelte diese. »Hab mir vorhin noch was gemacht. Sicher nicht?«

Albert lehnte wieder ab.

»Also: Sag mir jetzt, was ich verbrochen habe, dass du mitten in der Nacht vor meiner Tür stehst, mir einen Scheißschreck einjagst und deine Pistole dabeihast!«

»Wir sind bei unseren Ermittlungen auf etwas gestoßen. Wir wissen, dass der Darknetkiller illegal Game of Thrones -Folgen downgeloadet hat. Wir wissen jetzt auch, dass beim Folterhaus, wo er seine Opfer letztlich umbringt, eine Gartenpumpe in der Nähe stehen muss. Wir konnten entsprechendes Tonmaterial aus den Videoaufnahmen herausfiltern.«

Gretchen blickte ihn ausdruckslos an, dann dämmerte es ihr.

»Ich habe ›Ein Lannister begleicht stets seine Schuld‹ zu dir gesagt, und schwups bin ich die Ausgeburt des Teufels?«, fauchte sie ihn an. »Hast du wirklich nichts getrunken?«, wiederholte sie ihre Frage.

Albert kam sich so dumm vor. Dennoch war da ein Teil in ihm, der ihm sagte, er sei nicht dumm. Als wäre da eine innere Stimme, die ihn anschrie, aber er konnte sie nicht verstehen. Sie nicht richtig deuten. Was er jedoch verstand, war, es war nicht Gretchen, die er suchte.

Plötzlich schellte wieder ihre Türklingel.

»Erwartest du Besuch?«

»Dann hätte ich wohl kaum schon geschlafen.« Sie starrte auf ihr Handy, das auf der Anrichte lag, und zog die Augenbrauen hoch. »Komisch.«

»Was ist denn?«

»Mein Handy ist ausgeschaltet. Ich bekomme es nicht an.« Sie ging zur Wohnungstür und wollte diese gerade öffnen.

Alberts Magen drehte sich vor Schreck, und er rief noch: »Warte!«

Doch es war zu spät. Gretchen hatte die Tür aufgezogen und blickte in den Lauf eines Schalldämpfers. Durch die Verlängerung des Laufes wirkte es fast so, als hätte der Schütze die Lanze eines Hochdruckreinigers in der Hand.

Zwei Schüsse.

Einen ins Gesicht.

Einen in den Oberkörper. Vermutlich das Herz.

Gretchen fiel einfach nach hinten um und schlug auf dem Rücken liegend auf. Ihre Thermoskanne flog in hohem Bogen durch die Luft und verteilte dabei Tee, der aus ihr auslief. Noch bevor Albert seine Dienstwaffe aus seiner Hose ziehen konnte, peitschte ein dritter Schuss durch den Raum und traf ihn.

Wie erstarrt blieb Albert an Ort und Stelle stehen. Er spürte, wie Blut von seinem Ohr an seinem Hals hinabsickerte.

»Ich treffe immer. Jetzt hab ich die Narbe an deinem Ohr getroffen. Wenn ich will, schieß ich dir die Augen aus. Also hol jetzt ganz langsam mit der linken Hand und mit zwei Fingern deine Waffe aus deinem Hosenbund.«

»Du«, sagte Albert. Jetzt wurde es ihm klar. Jetzt wusste er, was er falsch eingeschätzt hatte. Dass Gretchen gelogen hatte, als sie ihm damals von der Pumpe erzählt hatte. Dass er in Bettina Kempers Haus jemanden auf dem Foto erkannt hatte, als sie mit ihrem Ehemann Jens in den Bergen Wandern gewesen war. Es waren nicht vier Geschwister, sondern fünf.

»Du«, sagte Albert erneut.

»Ja, ich. Und du warst so blind.«

»Wie hast du das mit unseren Handys gemacht?«

»Albert, du musst doch mittlerweile wissen, dass ich mich mit Technik verdammt gut auskenne. Nicht nur du kannst Wohnungen und Gespräche überwachen. Deine eigene Tochter? Ganz schön pervers, findest du nicht? Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, du dämlicher Säufer. Als mir klar wurde, dass du nun über die Gartenpumpe Bescheid weißt, habe ich entschieden, meine Pläne zu ändern. Leider hast du Gretchen mit hineingezogen. Ihr Pech. Eure Handys zu blockieren war ein Kinderspiel.«

»Was willst du?«

Der Mann lächelte ihn mit gebleckten Zähnen an. »Ein Video drehen, Albert. Ein Video drehen. Und du wirst der Star sein.«