Kapitel 62

»Wir wissen nur, dass es derselbe Raum ist wie bei den anderen Ermordeten«, rief Michael Schreiber in sein Telefon.

Emine interessierte es überhaupt nicht, wer da dran war. Jetzt wollte plötzlich die halbe Welt mitspielen, nachdem klar war, dass dort im Internet ein Polizeibeamter geopfert werden sollte. Ausgerechnet der Hauptkommissar, der die Ermittlungen in diesem Fall leitete. Der Hauptkommissar, der schon vor Jahren von der Gesellschaft und seinen Freunden fallen gelassen wurde. Alle saßen sie im Ermittlungsraum, riefen wild durcheinander, sprachen mit Hinweisgebern, der Presse, um das Land aufzufordern, nicht an dieser Wahnsinnstat mitzuwirken. Selbst hochrangige Politiker traten live im TV auf, um die Bevölkerung davon abzuraten, sich dieses Video anzusehen. Das alles war natürlich vergebens, nahezu vermessen. Mehr Werbung konnte sich der Darknetkiller ja gar nicht wünschen. Neben dem gleichen Laufbanner wie bei den anderen Hinrichtungen auf dem Bildschirm konnten sie alle sehen, dass insgesamt 449.353 Menschen zusahen und die Zahl rasant stieg. Insgesamt waren schon siebzehntausend Euro gesammelt, dieses Mal jedoch stieg die Summe nicht so schnell an wie bei den anderen Opfern. Vielleicht wurde den Menschen bewusst, dass der leitende Ermittler der Soko Video nicht wirklich böse sein konnte, sondern der Darknetkiller seine Verfolger nur loswerden wollte. Doch sicher gab es auch Kreaturen, die einfach nur zusehen wollten, wie jemand starb. Denen es egal war, wer dort auf dem Bildschirm um sein Leben kämpfte.

All das ging in diesem Moment an Emine vorüber. Sie starrte einfach nur auf die Ermittlungstafel, sah sich die sinnlosen Hinweise des Darknetkillers an und brachte es nicht fertig, auf den Bildschirm zu blicken, der Albert in dieser Wanne zeigte. Gefesselt und unfähig, sich zu bewegen. Das Kabel, das in die Flüssigkeit führte, ließ keinen Zweifel daran, dass Albert nicht in Badewasser, sondern in einer brennbaren Flüssigkeit saß. Wahrscheinlich Benzin. Anderes kam kaum infrage. Woher sonst würde man so schnell so viel Brennbares erhalten als bei einer Tankstelle? Bestimmt hatte der Täter nicht dreihundert Spiritusflaschen eingekauft. So dumm war er nicht. Ein paar Kanister Benzin fielen niemandem auf.

»Emine, es ist nicht deine Schuld«, sagte Tarek, der seine Hand auf ihre Schulter legte. »Du darfst dir nichts vorwerfen. Niemand kann die Haftung für einen irren, geisteskranken Psychopathen übernehmen.«

Tarek hatte ihr deutlich angesehen, dass sie in Vorwürfen zu ertrinken drohte.

»Ich hätte mich mit ihm versöhnen müssen. Vielleicht hätte ich das verhindern können. Ich hätte einfach an das Scheißtelefon gehen sollen, als er mich angerufen hat! Scheiße!« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und wollte am liebsten schreien.

»Oberkommissarin Laub?«, rief ein junger Polizist von der Tür aus. »Da ist eine Frau, die nur mit Ihnen oder mit Hauptkommissar Zeiler sprechen will. Eine Frau Laura Kunst.«

»Hat sie gesagt, was sie jetzt will?«, fragte sie und durchquerte das unruhig wirkende Büro.

Der Polizist sagte: »Nein. Wie gesagt, sie will nur mit Ihnen oder Ihrem Partner … und … nur Sie sind ja jetzt hier …«

»Sagen Sie ihr, sie soll warten. Ich habe jetzt keine Zeit, das sieht man ja wohl!«

Der junge Mann nickte stumm und ging wieder.

»Wir haben jetzt eine komplette Ausgangssperre in Lingen. Der Bürgermeister, die Staatsanwaltschaft und das Justizministerium haben grünes Licht gegeben. Vor wenigen Minuten sind drei SEK-Teams aus Hannover gelandet. Sie koordinieren die Hausdurchsuchungen zusammen mit allen zur Verfügung stehenden Streifen- und Kriminalbeamten. Sie bauen ihr Hauptquartier in dem Seminarraum auf. Auch die Dienststellen aus Oldenburg, Münster, Osnabrück, Gronau und Steinfurt helfen uns bei der Suche nach Albert. Lingen und die nähere Umgebung wurden in hundertvierundvierzig Distrikte aufgeteilt. Das macht etwa eins Komma drei Quadratkilometer für jedes Team. Jedes Haus, jede Gartenlaube, jede Mülltonne wird durchsucht. Insgesamt beteiligen sich eintausendzweihundert Kolleginnen und Kollegen an der Suche. Findet Albert! Findet ihn!«, bellte Michael Schreiber sie alle an. »Sehen Sie nach, welchem Suchtrupp Sie angehören, und legen Sie los!«

Es gab ein allgemeines Aufrappeln und Stühle wurden verschoben.

»Wir sind in Gruppe L2, wir fangen in Holthausen an«, sagte Tarek. »Kommst du?«, fragte er Emine.

Ihr Atem ging schnell. Sie starrte auf die Tafel.

Die verbrannte Leiche von Bettina Kemper mit der Nachricht in ihrem Körper. Dreißig Gründe, vierundvierzig Komma zwei Grad, sieben Pferde, zwanzig Päpste, fünfundfünfzig Oder neun Särge, Simon Fietz’ Körperteile, die zu einem N ausgelegt worden waren und die Zahl zweiundfünfzig auf dem Zeh eingeritzt. Die abgetrennte Hand von Aaron Lischke in dem Wald. Diese bildete eine Art Faust, aber nicht so stringent. Der Daumen lag abgewinkelt in der Innenfläche der Hand. Die restlichen Finger lagen mit ihren Kuppen auf dem Daumen auf.

»Emine? Ich weiß, vielleicht wird das Video nicht in Lingen aufgenommen. Dennoch: Irgendetwas müssen wir unternehmen«, bohrte Tarek nach.

Gründe, Grad, die Hand, Pferde, Päpste, Särge, das N.

Sie griff zu ihrem Handy und googelte das Fingeralphabet. Sie fand, wonach sie suchte.

Gründe, Grad, Pferde, Päpste, Särge, das N, die Hand.

»Die Hand«, sagte Emine.

»Was meinst du?«, fragte Tarek.

»Die Hand. Das ist ja kein Zufall, wie sie dort hing. Sieh mal!« Sie reichte ihm das Handy. »Das Fingeralphabet! Verstehst du? Buchstabe E. Die Hand ist wie ein E ausgerichtet!«

Tarek sah zu der Tafel, wieder aufs Handy und zurück zur Tafel. Und plötzlich wusste er, was Emine entdeckt hatte.

Den Durchbruch!

»Gründe, Grad, Pferde, Päpste, Särge, das N, und ein E.« Sie sagte dies so selbstverständlich, doch Michael Schreiber, Alex und Dirk sowie die anderen Beamten im Raum sahen sie nur fragend an.

»Die Anfangsbuchstaben der Substantive! Dann der Körper von Fietz, ein N! Die Hand von Lischke, ein E! Die Worte Gründe, Grad, Pferde, Päpste, Särge spielen gar keine Rolle. Die Anfangsbuchstaben dieser Worte stehen als Hinweis für das ›Global Positioning System‹. GPS. Es sind Koordinaten, versteht ihr das? Zusammen mit den Zahlen zweiundfünfzig auf dem Zeh von Fietz und den Zahlen dreißig, vierundvierzig Komma zwei, sieben, zwanzig, fünfundfünfzig, neun bei Kemper haben wir einen Ort, eine Adresse!«

Alex schaltete am schnellsten und tippte auf seinem Laptop.

»Sexagesimalsystem. Das Gradnetz der Erde. Okay!«, sagte er.

»Kann das einer übersetzen?«, forderte Michael.

»Jeder kennt die Erdkarte mit Längen- und Breitengraden«, sagte Emine. »Jede Linie steht für ein Grad. Ein Grad ist in eine Minute, eine Minute ist wiederum in sechzig Sekunden unterteilt.«

»Nehmen wir die Zahlen, das N sowie das E, also Nord und East – in deutscher Sprache Ost –, haben wir Koordinaten! Die zweiundfünfzig haben wir zuerst bei Fietz gefunden, damit müssten wir anfangen. Dann die Zahlen aus Kempers Körper in entsprechend möglicher Reihenfolge, sodass Grad, Minuten und Sekunden in der richtigen Reihenfolge abgedeckt sind. Fünfundfünfzig oder neun Särge. Das Oder als Punkt gedeutet? Schließlich ist das O großgeschrieben. Das erklärt warum. Würde passen! Zum Schluss die Hand von Lischke, die ein E darstellen soll, also Osten.« Alex hatte die Koordinaten in die Suchzeile getippt und las sie vor. »52°30’44.2«N 7°20’55.9«E. Voila!«, sagte Alex.

Sie beugten sich alle über seinen Laptop und sahen, wo die Karte die rote Markierung setzte.

»Es war die ganze Zeit vor unserer Nase«, stellte Tarek fest.

 

Emine saß neben Tarek im Auto. Beide hatten sie schusssichere Westen an und folgten dem schwarzen Einsatzwagen des SEK über die Bundesstraße, auf der kein einziger Pkw oder Lkw fuhr. Sie benötigten keine drei Minuten, bis sie die Adresse der Koordinaten erreichten. Dutzende Streifenwagen bremsten scharf ab und blockierten die Zuwege. Erst dachten sie, sie wären an der falschen Stelle. Sie sahen nur Bäume und Sträucher.

»Da!«, rief Tarek.

Sie sprangen aus ihrem Wagen, und auch Emine konnte jetzt sehen, was er meinte. Hinter braunen und gelben Blättern der Bäume erkannte sie ein rotes Dach. Es gehörte zu einem alten Haus, das seit Jahren von der Natur zurückerobert wurde. Klinker und Rinnen waren von Geäst, Wurzeln und Kletterpflanzen durchzogen. Je näher sie dem Gebäude kamen, umso deutlich wurden die Umrisse und Details. Die Haustür bestand aus massivem Holz, war jedoch an der Vorderseite gesprungen und mit Moos bedeckt. Die Fensterscheiben waren über die Jahre trübe geworden. Das ganze Gelände war von einem rostigen Bauzaun umgeben. Kaum zu sehen, weil hohe Ranken und Gräser ihn vereinnahmten.

Die SEK-Beamten schnitten das Metall mit einem Bolzenschneider durch und rissen es ein. Links und rechts neben der Eingangstür reihten sie sich dann mit ihren Waffen im Anschlag auf. Ein Mann ließ die Holztür aus dem Rahmen sprengen, indem er einen Rammbock dagegenkrachen ließ. Ein zweiter warf eine Blendgranate in den nun offenen Eingang, und zwei weitere Beamte stürmten mit Gewehren und kugelsicherem Schild das Haus.

»POLIZEI! AUF DEN BODEN!«, wurde gebrüllt.

Weitere Blendgranaten knallten, und Lichtkegel von erhobenen Maschinengewehren durchstießen die Dunkelheit im Innern des verkommenen Anwesens.

»Kollegen der Kripo! Hierher!«, rief der Gruppenführer des Einsatzkommandos, als das Poltern und Gebrülle endlich vorüber war.

Emine und Tarek betraten das Haus. Es wirkte so, als wäre seit Jahrzehnten niemand mehr hier gewesen. Die Eingangstür lag lang im Flur und sie stiegen darüber hinweg. Dicke Spinnenweben hingen von den Decken, Tapeten rollten sich aufgrund der Feuchtigkeit von den Wänden ab, und es roch modrig und schimmelig. Zurückgelassene Schränke und Möbelstücke wirkten halb zerfallen und instabil. Beamten des SEK kamen aus dem oberen Stockwerk und meldeten, dass dort nichts zu finden sei.

»Hier unten!«, rief jemand.

Eine Treppe führte vom Flur in den Keller. Emine und Tarek gingen sie hintereinander hinunter. Hier roch es noch schlimmer nach alter Feuchtigkeit und Schimmelpilzen. Eingedrungenes Wasser stand ein paar Zentimeter hoch im Keller, sodass ihre Schritte klatschten und von den Wänden zurückgeworfen wurden.

»Wir könnten hier was haben«, sagte der Gruppenführer. Er deutete auf einen alten dunkelroten Vorhang, der von einem schwarzen Pilz bedeckt war. Hinter dem Stoff war eine schwere schwarze Metalltür, die die Sicht auf den nächsten Raum versperrte. Sie war durch ein Vorhängeschloss verriegelt. Zwei Männer holten einen Trennschleifer und flexten das Schloss auf. Es fiel polternd zu Boden.

»Aufmachen!«, sagte Emine, und alle machten sich mit entsicherten Waffen bereit.