Kapitel 65

»Sprechen Sie, ich bin dran«, sagte Emine ins Telefon.

»Hallo, Frau Laub. Tut mir leid, ich weiß, der Moment ist ungünstig. Meine Bereichsleitung hört mit, ich habe auf Lautsprecher gestellt. Hauptkommissar Zeiler hatte mir gesagt, ich soll mich direkt an ihn oder an Sie wenden, sobald wir die gelöschten Daten wieder hinbekommen hätten. Ich habe einen Namen.«

»Einen Namen? Wovon sprechen Sie?«, fragte Emine.

»Wir haben eine konkrete Vermutung, wer sich über meinen Computer in unser System geschlichen haben könnte. Jemand, der die Daten über sich selbst gelöscht hat. Was die Person nicht berücksichtigt hat, ist, dass in den Siebzigern und Achtzigern ausgesetzte Neugeborene noch nicht digital erfasst wurden. Die Papierunterlagen wurden später in den Zweitausendern gescannt und eingelesen. Diese Papierunterlagen hätten eigentlich nach dreißig Jahren datenschutzkonform vernichtet werden sollen. Wir gehen davon aus, dass der Einbrecher in meiner Wohnung davon ausgegangen war, dass das auch passiert ist – also die Vernichtung der Papierunterlagen. Aber mein ehemaliger Chef war sehr pedantisch, was Bürokratie und Ablagesysteme anging. Er hatte Kopien von den damaligen Unterlagen angelegt und sie in seinem Privathaus archiviert. Verrückt, ich weiß, doch durch ihn konnten wir feststellen, dass es eine Abweichung zwischen den digitalen und den damaligen Papierunterlagen gibt. Wir haben ein weiteres Kind gefunden, das Anfang der Achtziger in Meppen ausgesetzt wurde. Und zwar ein Kind mit dem Namen Jakob Reckling.«

Emine riss ihre Augen weit auf. Tarek hatte mitgehört und wirkte sprachlos.

»Danke, Frau Kunst, Sie haben uns wirklich sehr geholfen.«

»Gern, wenn ich noch irgendw…«

Emine hatte bereits aufgelegt und rief den Gruppenführer des SEK zu sich. Wenige Minuten später saßen sie wieder im Wagen und fuhren mit Blaulicht und Sirenen zu Alberts Adresse.

»Jakob Reckling? Der Nachbar von Albert? Der Nachbar, der gerade noch eine Aussage zu Protokoll gegeben hat?«, fragte Tarek.

Emine sagte nichts und raste angespannt den Fahrweg entlang. Zum zweiten Mal kamen Streifen- und Einsatzwagen der Polizei auf einer Straße schlitternd zum Stehen. Zum zweiten Mal wurden Türen aufgerammt, Blendgranaten geworfen und Kommandos gebrüllt.

»POLIZEI! AUF DEN BODEN!«

Doch Jakob Reckling war verschwunden. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet. Man hätte hier durchaus Fotos für einen Katalog anfertigen können. Dezente Dekorationen, keinerlei Staub oder unaufgeräumte Bereiche. Decken und Kissen lagen akkurat auf einem Sofa, in den Schränken befanden sich wenig Haushaltssachen. Nur ein paar Teller, ein paar Gläser und zwei Tassen. Das Bett war hergerichtet, das Bad geputzt. Sie fanden keinen Computer, keinen Albert, keine Spur. Nur einen Störsender, der im Umkreis von fünfzig Metern jeglichen Empfang von Handys verhinderte, sobald man ihn einschaltete. Dennoch würde die Spurensicherung jeden Fussel analysieren, um eine Verbindung zwischen Reckling und den Morden herzustellen.

»Wo ist er?«, fragte Emine.

»Die Eine-Million-Dollar-Frage«, sagte Tarek.

Sie rief Alex im Präsidium an. »Wie ist der Stand?«

»23.256,22 Euro. Eine halbe Million Zuschauer, Tendenz steigend.«

»Rastersuche in Lingen?« Emine wusste, dass bisher nichts Entscheidendes gefunden worden war, sonst hätte man sie informiert. Sie musste einfach fragen.

»Nichts. Wir haben ja auch gerade erst angefangen zu suchen. Wir können nur beten, dass wir Albert finden.«

»Beten reicht mir nicht.«

Sie legte auf und gab einen Fahndungsaufruf für Jakob Reckling raus. Jeder Streifenwagen, jeder Polizeibeamter und die Bundespolizei im gesamten Bundesgebiet hatte nach wenigen Minuten das Ausweisfoto des Gesuchten vor sich.

»Er kann uns nicht entkommen«, meinte Tarek, während die beiden wieder in dem Treppenhaus des Gebäudes standen.

»Mag sein. Bisher hat er alles detailliert umgesetzt. Ich wette, er hat auch einen Fluchtplan. Und selbst wenn wir ihn finden, heißt das nicht, dass wir auch Albert damit retten. Er war die ganze Zeit hier! So ein Mist!«

Ein Trupp der Spurensicherung hatte das Haus mit dem Gruselkeller verlassen, um sich die Wohnung von Jakob vorzunehmen, als Dirk anrief. Emine stellte ihr Handy laut, damit Tarek mithören konnte.

»Was gibt es?«, meldete sie sich.

»Ich habe das öffentliche Register überprüft und das Grundbuch gefunden. Bei dem Toten auf dem Stuhl handelt es sich um Erik Ronneberg. Doktor Schnittker schätzt den Todeszeitpunkt auf vor mehr als sechs Jahren. Schusswunde am Kopf. Die zwei Skelette sind weiblich. Eine der Frauen hat einen versteiften Wirbel, weil sie operiert wurde. Ich habe unser Datensystem damit gefüttert und herausgefunden, dass es sich dabei um eine Frau mit dem Namen Nasrin Moradi handelt. Sie verschwand 1974. War vom Einkaufen nicht heimgekehrt. In diesem Zuge haben wir einen ähnlichen Fall aus den Siebzigern. Amira Warning könnte das andere Skelett sein. Sie verschwand 1978 beim Joggen. Doktor Schnittker meint, beide Toten hätten definitiv mehrmals Kinder geboren. Das kann er am Beckenknochen erkennen. Es ist denkbar, dass die beiden Frauen dort im Keller entbunden haben. Dass sie dort von diesem Erik Ronneberg festgehalten wurden.«

»Die Toten sind alle Geschwister, Aaron Lischke, leicht südländisches Aussehen, ist der Halbbruder von Simon Fietz und Bettina Kemper. Wir können also annehmen, dass Erik Ronneberg und die zwei toten Frauen die Eltern von allen sind. Was hat Albert damit zu tun? Er ist viel zu alt, um ein Kind von Ronneberg und den Frauen zu sein«, sagte Tarek.

Dirk sagte: »Zu dem Schluss bin ich auch gekommen. Doktor Schnittker sagt, dass eine Verwandtschaft nahezu ausgeschlossen ist. Das zeigt schon die Blutgruppenanalyse der Opfer.«

»Es bleibt nur eine Verbindung zu Ronneberg, der jetzt erschossen auf diesem Stuhl sitzt. Das würde passen, Albert und er dürften ein ähnliches Alter haben«, entgegnete Emine.

»Erik Ronneberg wäre jetzt sieben Jahre älter als Albert«, sagte Dirk.

»Danke, Dirk. Bleib kurz dran.« Emine ließ sich Tareks Handy aushändigen. Damit wählte sie wieder die Nummer von Laura Kunst vom Jugendamt und legte beide Handys nebeneinander auf eine Treppenstufe.

»Hallo?«, meldete sich Laura Kunst.

»Oberkommissarin Laub noch mal. Haben Sie die Möglichkeit, einen Namen in Ihrem System zu prüfen? Es geht um Pflegekinder aus den Fünfzigern und Sechzigern.«

»Wir haben alle Unterlagen eingescannt, die nicht vernichtet wurden. Aufbewahrungsfrist ist eigentlich dreißig Jahre. Aber – wie gesagt – viele Papierakten aus der Zeit waren noch vorhanden. Heißt, ich kann es versuchen.«

»Suchen Sie nach Albert Zeiler.«

»Haben Sie ein Geburtsdatum?«

Emine gab es ihr.

Tarek, Dirk und sie hörten, wie Laura Kunst auf einer Tastatur tippte.

»Ja, sie haben Glück. Albert Zeiler. Geboren in Osnabrück, Eltern bei einem Wanderausflug ums Leben gekommen. Da war Herr Zeiler zwei Jahre alt. Kam in eine Pflegefamilie, die schon öfter Kinder aufgenommen hat. Diese haben Albert adoptiert, als er acht Jahre alt war.«

»Jetzt den Namen Erik Ronneberg. Dirk, wir brauchen das Geburtsdatum.«

Dirk teilte es mit, und Laura Kunst fing wieder an zu tippen.

»Erik Ronneberg. Geboren in Lingen. Mutter starb bei der Geburt, Vater beging Suizid, als der Junge drei Monate alt war. Er kam bis zu seinem dritten Lebensjahr ins Heim, anschließend zu einer Pflegefamilie, ein paar Wochen später wieder ins Heim, dann in eine zweite Pflegefamilie. Dort wurde Erik misshandelt. O nein. Offensichtlich auch sexuell missbraucht. Die Pflegeeltern wurden verhaftet und Erik kam in die dritte Pflegefamilie. Hier blieb er bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr und verschwand, weil er ausgerissen war. Weitere Einträge haben wir nicht.«

»Wer waren die Pflegeeltern der ersten Familie?«, fragte Emine und kannte die Antwort bereits.

»Ach du meine Güte«, sagte Laura Kunst. »Dieselben Pflegeeltern wie bei Herrn Zeiler.«