Kapitel 66

Etwas früher

 

»Wegen der Narbe an deinem Ohr, zu der sich jetzt eine weitere Narbe gesellen würde, wenn du hier lebend rauskämst«, sagte Jakob.

»Das verstehe ich nicht.«

»Schon klar, ich werde deutlicher. Ich hatte dir ja bereits von Epigenetik erzählt. Ich bin so, wie ich bin, weil Erik Ronneberg, mein Vater, diesen ganzen Scheiß an mich weitergegeben hat. Und an meine – Gott habe sie selig – Geschwister ebenso. Nur warum, Albert, warum ist mein Vater selbst so geworden?«

Albert schwieg. Was sollte er auch dazu sagen?

»Er ist zum Teil wegen dir so geworden.«

»Schwachsinn. Ich kannte deinen Vater ja nicht einmal.«

»Er hat es mir erzählt! Er hat mir gesagt, was passiert ist. Deine Pflegeeltern waren auch seine Pflegeeltern!«, brüllte Jakob und zeigte plötzlich wieder ein ganz anderes Gesicht. Sein Kopf war fast lila angelaufen, und seine Zähne knirschten übereinander. »Deine Narbe am Ohr, wie hast du sie dir zugezogen?«

»Ich habe mich beim Spielen verletzt, als ich klein war.«

»Das haben sie dir erzählt, ja?«

So war es. Albert erinnerte sich, wie seine Mutter ihm erzählt hätte, er sei an einem Stacheldrahtzaun hängen geblieben und dass er mit vier Stichen genäht werden musste.

»Sie haben dich belogen, Albert. Sie haben dich belogen! Es war mein Vater, der mit dir gespielt hat. Er war selbst als Pflegekind zu deinen Eltern gekommen. Ihr habt gespielt, und du hast ihn verpfiffen, nachdem er dir aus Stacheldraht eine Krone gebastelt hat. Du wolltest sie nicht tragen, also hat er sie dir mit Zwang aufgesetzt. Du hast dir dabei so sehr das Ohr aufgerissen, dass deine liebevollen Pflegeeltern davon absahen, weiterhin die Verantwortung für meinen Vater zu übernehmen. Sie gaben ihn weg! Er kam danach an schreckliche Orte, wurde misshandelt, sexuell missbraucht. Vergewaltigt heißt das! Er wurde zu dem Monster, das er war. Und all das nur, weil du existierst. Weil du dafür gesorgt hast, bin auch ich ein Monster geworden.«

Albert lachte wieder laut. So laut, dass Jakob zu ihm rannte und ihn erneut am Hals packte.

»Was habe ich dir gesagt, hm?«

Albert war das jetzt mittlerweile egal. Er war so wütend, sich den Unfug eines Geisteskranken anzuhören, dass es ihm gleich war, ob Jakob ihn jetzt oder später umbringen würde.

»Du hast … deinen … Plan nicht … ganz zu Ende … gedacht«, japste Albert. Jakob ließ ihn los. »Wenn das stimmt, was du sagst, und meine Eltern haben Erik verstoßen, dann sicher nicht wegen dieser Sache. Bestimmt war dein Vater schon vorher auffällig gewesen. Und überleg mal: Wenn sie ihn nicht weggegeben hätten, würdest du doch gar nicht auf dieser Welt wandeln, du Arschloch!«

Jakob überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Mag sein, dass ich auf diese Art und Weise nicht existiert hätte. Aber ich hätte vielleicht ein anderes Leben gelebt. Alles wäre besser gewesen, als das zu fühlen, was ich fühle. Du denkst, dein Leben ist im Arsch? Du hättest dich mit deiner Tochter versöhnen können. Du hättest nach dem Tod deiner Frau immer noch neu anfangen können, anstatt dich mit Wein zu betäuben. Du hast es nicht getan, dein Pech. Und jetzt ist es zu spät für dich. Ich jedoch kann nichts in meinem Leben ändern. Ich habe diese tiefe Boshaftigkeit in mir. Und nichts auf der Welt kann mich davon befreien. Alles, was mir bleibt, ist, dass ich mir meine dunklen Fähigkeiten zunutze mache. Wärst du nicht gewesen, wäre es vielleicht mein Vater, der adoptiert worden wäre. Er hätte niemals so einen zertrümmernden Schaden genommen. Meine Mutter hätte niemals so elendig in diesem Keller sterben müssen. All das Grauen nahm seinen Anfang an einem Punkt. Und dieser Punkt bist du.«

»Und indem du mich verbrennst, findest du Erlösung?«, wollte Albert wissen. Die Benzindämpfe brannten in seinen Augen.

»Ehrliche Antwort? Ja. Wie dir aufgefallen ist, habe ich meine Geschwister so sterben lassen, wie sie ihre Verbrechen begangen haben. Simon wurde erschlagen, wie er es mit den Seelen der Kinder tat, die er missbraucht hatte, Bettina wurde verbrannt, weil sie ein Feuerteufel war, und Aaron musste ertrinken, weil er das Gleiche mit einem Kind vorgehabt hatte.«

»Verbrennen gab es also schon«, sagte Albert. Er ging nicht mehr darauf ein, dass Jakob mit der Einschätzung seiner Geschwister unrecht hatte.

»Aber nicht so. Du hast kein Verbrechen begangen, ich weiß.«

Du weißt nichts! , dachte Albert.

»Du sollst so enden, wie deine Frau geendet ist. Wie der Feuerteufel seine Opfer hingerichtet hat. Schließlich war das deine Passion. Mal ehrlich, Albert, glaubst du wirklich, der Mörder deiner Frau ist noch irgendwo da draußen?«

Albert antwortete ihm nicht.

»Na schön, behalte es für dich. Vielleicht werde ich ihn ja eines Tages erwischen, hm? So hätte ich letztlich Gerechtigkeit für dich und deine Frau gebracht.« Jakob stand auf und klatschte in die Hände. »Also, Albert. Ich fahre zurück zu unserem Zuhause. Ich werde als besorgter Nachbar nun die Leiche von Gretchen finden und die Polizei informieren. Am unsichtbarsten ist man, wenn man sichtbar ist. Und im Anschluss wird die Kamera gestartet.«