Kapitel 67

Die Metalltür hinter der Kamera wurde von Jakob geöffnet. Seine Hoffnung, seine Kollegen hätten ihn gefunden, war zunichte. Die Zeit in diesem tödlichen Gefängnis war kaum zu messen. Einzig und allein die wärmer werdende Herdplatte an seinem linken Bein war wie eine tickende Uhr, die ihn sekündlich näher an ein grausames Ende brachte. Wie viel Geld wohl bereits zusammengekommen war? War er schon nahe an den hunderttausend Euro? Wie viele Menschen sahen ihm beim Sterben zu? Hunderttausende? Eine Million?

Jakob setzte sich neben die Kamera und hielt eine kleine weiße Kunststofftafel hoch, die er mit einem abwaschbaren Marker beschrieben hatte.

Wie geht’s dir, Albert? Ich kann nicht sprechen, du weißt ja, die Kamera.

 

Albert starrte ihn nur an und hielt seinen Kopf auf die gefesselten Hände gestützt. Jakob wischte mit einem Tuch über die Tafel und fing erneut an, etwas darauf zu notieren.

Ich habe auch mit den anderen so kommuniziert, als sie vor meinen Augen starben. Ich habe das Gefühl, es hilft euch. Durch die Betäubung der Zunge kannst du, genau wie die anderen, nicht antworten, ich weiß. Das musst du auch gar nicht.

 

Albert kratzte sich am Kinn und blickte ernst in die Kamera. Wieder hielt Jakob die Tafel hoch.

516.232 Zuschauer. Biete ihnen eine Show, Albert. Du bist berühmt. Berühmt! Ist das nicht der Wahnsinn? 😊

 

Albert rief: »Hngmmnnhhnnn!«, was eigentlich »Küss meinen Arsch!« heißen sollte.

Jakob wischte über die Tafel und kritzelte mit dem Stift neue Worte.

Ich habe Neuigkeiten. Gretchen hat überlebt! Ich konnte es auch nicht glauben. Ich war mir sicher, dass sie tot war, als ich die Cops gerufen habe. Hätte noch mal schießen sollen. Spielt keine Rolle. Nächste Woche habe ich ein neues Gesicht und eine neue Identität. Meine Flucht ist vorbereitet.

 

Jakob wischte danach wieder über die Tafel und kritzelte neue Worte.

Ist jetzt alles etwas hektisch geworden. Aber ich bekomme das schon hin, Albert. Wir sind bei 61.240,80 Euro! Berühmt! Ich sag es ja!

 

 

»Der Ton ist wieder absichtlich verzerrt. Albert hat doch gerade was geschrien«, sagte Tarek.

Alex hatte ihnen soeben mitgeteilt, dass sie keine Möglichkeit hätten, den Ton des Livestreams aufzuklaren. Jetzt saßen Tarek und Emine in ihrem Auto und fuhren kreuz und quer durch die Stadt, als würden sie dadurch Albert finden können. Emine saß auf dem Beifahrersitz und starrte auf ihr Handy. Sie beobachtete Albert dabei, wie dieser zurückgelehnt in der Wanne saß und den Kopf auf seine Hände gestützt hatte. Er blickte in die Kamera, dann ab und an – vom Zuseher aus links – daran vorbei.

»Ich wette, Reckling sitzt daneben und teilt sich ihm irgendwie mit. Mit einem Schreibblock oder so. Alberts Gesicht und Sprachzentrum wurde anscheinend wie bei den anderen betäubt. Er kann sich nicht äußern. Die künstliche Verzerrung tut sein Übriges«, meinte Emine.

»Was meinst du, was hat er gesagt?«

»Ich schätze, er hat Jakob ein Schimpfwort an den Kopf werfen wollen. Würde zu ihm passen.«

»Er muss uns irgendwas mitteilen. Irgendwas! Nur so haben wir eine Chance, ihm zu helfen.«

»Ich weiß. Doch er macht nichts.«

»Vielleicht morst er ja. Zwinkert er mit den Augen?«

»Nein, tut er nicht. Und ich weiß nicht mal, ob Albert morsen kann. Ich kann es sicher nicht.«

Tarek sagte: »Vielleicht hat Jakob eine Waffe auf ihn gerichtet und er traut sich nicht.«

»Kann sein. Aber er weiß, dass er sowieso stirbt, wenn er nichts unternimmt.«

 

Albert streckte seinen Zeigefinger aus und kratzte sich an seinen tauben Lippen und unter den Augen. Es fühlte sich in seinem Gesicht so an, als wäre es dreimal größer angeschwollen als normal. Jakob deutete seine Zeichen falsch.

Die Dämpfe sind nicht schön, hm? Ich kann dir leider kein Wasser mehr geben, um deinen Mund auszuspülen. Bald ist es vorbei. Ich habe gelesen, dass, wenn man komplett in Flammen steht, die Schmerzen sofort weg sind. Die Nerven sind umgehend verbrannt und leiten nichts mehr ans Gehirn. Es wird schnell gehen, Albert.

 

Jakob wischte erneut über die Tafel und kritzelte mit dem Stift wieder neue Worte.

70.972,99 Euro! 1.038.101 Zuschauer!!! 😊

 

Albert spürte, wie die Herdplatte heißer und heißer wurde. Wann würde sich das Benzin entzünden? Bei zweihundert Grad? Dreihundert Grad? Er hatte das Gefühl, sein linkes Bein würde schon Blasen werfen. Immer wieder versuchte er, seine Beine von der Hitzequelle zu entfernen. Die Wanne war leider so klein, dass es ihm immer nur kurz gelang, bis er der Platte wieder zu nahe kam. Er fuhr sich wieder mit den Fingern über Lippen, Augen und Nase.

Komm schon, Emine! , dachte er.

 

»Keine Infos der Durchsuchungen. Es tut mir leid«, sagte Alex über die Freisprechanlage.

»Was passiert gerade?«, wollte Tarek wissen, der sich auf die Straße konzentrierte.

»Er kratzt sich über die Nase, Augen und den Mund«, berichtete Emine.

»Benzindämpfe. Das muss verdammt unangenehm sein.«

Lippen, Nase und Mund. Emine beobachtete ihn dabei, wie er diese Prozedur wiederholte. Mit dem Zeigefinger, mit dem Mittelfinger, mit dem Daumen, zum Schluss mit dem kleinen Finger.

»Scheiße, hoffentlich sieht seine Tochter nicht zu«, meinte Tarek. »Sie weiß es ganz sicher. Jeder, der nicht taub und blind ist, hat davon gehört. Jedes beschissene Medium hat das Video als Aufhänger.«

Benzindämpfe, die Finger, Morsezeichen, Marie, die Wanne. Erneut blitzten bei Emine alle Informationen vor ihrem geistigen Auge hin und her.

»STOPP!«, schrie sie und Tarek bremste so scharf ab, als wäre ihm etwas vors Auto gesprungen. Der Sicherheitsgurt arretierte ihre nach vorn schnellenden Körper und warf die beiden zurück in ihre Sitze.

»Wallah, ich schwör, mein Herz steht«, keuchte Tarek.

»Du musst wieder zurück!«

»Zurück, wohin?«

»Zur Wohnung von Albert. Mach schon! Ich weiß, wie wir ihn finden können!«

Die Autoreifen quietschten, und Tarek raste durch die Innenstadt, um zum dritten Mal an diesem Tag zu Alberts Adresse zu fahren. Auf dem Weg dorthin klärte Emine Tarek auf.

Es bestand Hoffnung!

 

😊 ! 1.400.000 Zuschauer! Ist das zu fassen? Und jede Website berichtet davon!

 

Die Platte fühlte sich so heiß an, dass Alberts Augen jetzt nicht nur noch wegen der Benzindämpfe tränten. Er hatte aufgegeben. Wenn Emine ihn hätte retten können, wäre es vermutlich zu spät. Jakob wippte aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her, blickte alle paar Sekunden auf den Laptop und jubelte geräuschlos vor Freude, indem er die Fäuste triumphierend in die Höhe streckte.

Versprich mir, dass du meine Geschwister und meinen Alten grüßt! Vermutlich in der Hölle! 😊 Glaubst du eigentlich an Gott, Albert?

 

Er stöhnte und schrie, brachte aber keinen ordentlichen Ton hervor. Die Benzindämpfe hatte seinen Hals bereits so verätzt, dass er nicht einmal mehr seine Angst und Schmerzen ausbrüllen konnte. Er dachte darüber nach, wie er gleich in Flammen stehen würde. Ob der Freund von Marie sie hoffentlich abhielt, sein bestialisches Ende mit anzusehen? Ob Emine ihre Laufbahn bei der Polizei fortsetzen konnte, wo sie in Lingen bisher nur Trauer und Schmerz kennengelernt hatte? Würde sie die Stadt wechseln? Würde sie überhaupt noch Polizistin sein können?

196 Grad, 1.502.005 Zuschauer, und an Geld haben wir bereits 92.499,12 Euro! 😊 Ich frage mich, als du …

 

Albert sah weg. Er würde diesem Monster keine weitere Gelegenheit mehr geben, ihn zu quälen. Er konnte spüren, dass Jakob ungehalten wurde, weil er wegsah. Er hörte den Stuhl umkippen, da Jakob aufsprang, um Alberts Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, aber das war ihm egal. Sollte er doch vor die Kamera treten und sich zeigen. Sollte er toben und wütend werden. Das war die letzte Möglichkeit des Trotzes, den er ihm entgegenbringen konnte.

Dann war es so weit. Ein Knall, danach gleich ein zweiter. Er schloss die Augen und spürte, wie Hitze sein Gesicht erreichte. Das Licht durchdrang seine Augenlider, aber er spürte keinen Schmerz. In dieser Hinsicht hatte Jakob nicht gelogen. Das war also das letzte, was er trotz geschlossener Augen sah. Ein grelles, durchdringendes Licht, das seinen Körper verbrannte. Vielleicht wartete dahinter seine Frau auf ihn. Würde er an diesen Scheiß doch nur glauben …