Selbst als der Enterprise-Shuttle Brahe durch die ruhigeren Bereiche der Atmosphäre von Chiaros IV flog, die schlimmsten Stürme und Gewitter hinter sich zurückließ, fanden sie weder Wrackteile von der Archimedes noch Signale von Insignienkommunikatoren. Picard und seine Gruppe setzten den Flug zur Hauptstadt fort und unterwegs registrierten die Sensoren schwache Energiesignaturen, die vielleicht von Starfleet-Waffen stammten. Doch in der stark ionisierten Luft hatten sich die Partikel so sehr zerstreut, dass genaue Ortungen unmöglich waren. Trotzdem blieb Picard wachsam und argwöhnisch, erinnerte sich an Marta Batanides' Hinweis, dass die Rebellen Starfleet-Waffen verwendeten.
Der Shuttle bekam eine chiarosanische Eskorte, als es sich der Hauptstadt Hagraté näherte, einer glitzernden Ansammlung niedriger, monolithisch wirkender Türme und Minarette. Die Brahe und ihre Begleiter flogen dicht über den höchsten Gebäuden und selbst in dieser geringen Höhe wurde der Shuttle vom Wind gerüttelt. Daraufhin verstand Picard, warum es in der Stadt keine höheren Bauten gab.
Die größten Gebäude schienen Tempel oder Kirchen zu sein. Der Captain sprach den Botschafter darauf an und Tabor bestätigte, dass die Chiarosaner mehrere Götter verehrten; von den reicheren Bürgern hieß es, dass sie göttlichen Segen genossen. Religiöse Klassifizierung, dachte Picard, froh darüber, dass die Gesellschaft auf der Erde solche Dinge schon vor langer Zeit überwunden hatte.
Ein komplexes Netzwerk aus Rohrleitungen und Aquädukten durchzog die Stadt. Picard vermutete, dass es dazu diente, Wasser von Reservoirs zu Verarbeitungszentren zu befördern. Angesichts der knappen landwirtschaftlichen Ressourcen dieses Planeten nahm er an, dass es sich bei den schwer bewachten Gebäuden am Rand der Stadt um Pumpstationen und Anlagen handelte, die dazu dienten, Wasserdampf aus der Luft zu filtern und den Boden mit Nährstoffen anzureichern.
Nach der Landung wurden Picard und seine Begleiter – Commander Riker, Data, Counselor Troi und Botschafter Tabor – von mehreren Chiarosanern begrüßt, die Klingen in ihren verzierten Schärpen trugen. Picard zupfte an seiner Paradeuniform und strich sie glatt, als eine Chiarosanerin vortrat. »Ich bin Senatorin Curince. Willkommen auf Chiaros IV.«
Picard lächelte, deutete auf sich selbst und seine Begleiter. »Ich bin Captain Jean-Luc Picard von der U.S.S. Enterprise. Das sind mein Erster Offizier, Commander Will Riker, und zwei weitere Führungsoffiziere meiner Crew, Lieutenant Commander Data und Counselor Deanna Troi. Und dies ist der Föderationsbotschafter Aubin Tabor.«
Tabor trat vor und vollführte eine komplexe Geste mit den Händen, bevor er sich kaum merklich verneigte. Sein Zeremoniengewand erschimmerte, als die Muster aus metallenen Fäden das Licht reflektierten. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie nicht mit der Anmut Ihres Volkes begrüßen kann«, sagte er. »Aber meine Glieder sind nicht so beweglich wie die Ihren, Senatorin.«
Curince lächelte beeindruckt und zeigte dabei spitze Zähne. »Dennoch weiß ich Ihren Gruß zu schätzen, Botschafter.« Sie musterte ihn kurz, bevor sie den Kopf ein wenig drehte, sich an Picard wandte und den anderen Offizieren überhaupt keine Beachtung schenkte. »Konnten die Instrumente Ihres Schiffes Spuren des vermissten diplomatischen Shuttles finden?«
»Nein, Senatorin«, antwortete Picard. »Ich fürchte, die atmosphärischen Turbulenzen Ihrer Welt schränken die Ortungsreichweite unserer Sensoren ein.«
Curince wölbte eine Braue. »Unser Planet ist hart und unversöhnlich. Sie gehören zu den ersten Repräsentanten von … schwächeren Spezies, die seine Oberfläche besuchen.«
Picard verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln und wusste nicht recht, ob diese Worte auf eine Beleidigung hinausliefen. Er sah zu Tabor, der ruhig lächelte.
Ein chiarosanischer Assistent näherte sich und reichte Curince eine elektronische Tafel mit einem Display und mehreren blinkenden Schaltelementen. Die Senatorin warf einen kurzen Blick darauf und reichte sie dann Picard. »Dieses Gerät enthält alle Daten, die wir über Ihren vermissten Shuttle sowie die offensichtliche Verwendung von Starfleet-Waffen gegen unsere Verteidigungstruppen haben. Die Dateien sind Ihnen bereits übermittelt worden, aber angesichts der Auswirkungen der jüngsten Stürme auf unser Kom-System haben wir entschieden, Ihnen diese Kopie der Daten zur Verfügung zu stellen.« Als Picard das Gerät entgegennehmen wollte, fügte Curince hinzu: »Wir schicken Ihnen gern einen Techniker, wenn Sie Hilfe beim Umgang mit diesem Recorder brauchen.«
Picard lächelte höflich. Diese Frau stellt meine Geduld auf eine harte Probe. »Danke, Senatorin. Wir haben ausgezeichnete Techniker an Bord unseres Schiffes. Ihr Angebot ist sehr großzügig, aber ich bin sicher, dass wir allein imstande sind, die gespeicherten Daten abzurufen.« Er drehte sich um und reichte den Apparat Data, rollte dabei andeutungsweise mit den Augen. Nur die Offiziere der Enterprise sahen es.
»Bitte entschuldigen Sie, dass wir uns nicht im Regierungsgebäude treffen«, sagte Curince. »Die Rebellen lehnen Verhandlungen an einem Ort ab, der ganz unter Kontrolle der rechtmäßigen Regierung steht. Über den Treffpunkt wird entschieden, während wir hier miteinander sprechen.«
»Sind Erster Protektor Ruardh und Großgeneral Falhain wie geplant bei den Verhandlungen zugegen?«, fragte Tabor.
»Ja. Ebenso wie die romulanischen Diplomaten. Ihr Schiff traf vor wenigen Stunden ein.«
»Ah«, sagte Tabor und nickte. »Ich nehme an, die Romulaner haben ihre besten Diplomaten geschickt?«
»Eine gewisse T'Alik leitet die Gruppe. Die Namen ihrer Untergebenen habe ich mir nicht gemerkt.«
»T'Alik kann sehr überzeugend sein«, sagte Tabor ernst.
»Ich bezweifle, dass sie unseren Ersten Protektor überzeugt«, erwiderte Curince. »Wir tolerieren die Präsenz der Romulaner nur deshalb, weil sie nicht gegen uns aktiv geworden sind. Sie geben Neutralität vor, aber Falhains Schergen – die so genannte ›Armee des Lichts‹ – haben sich politisch mit den Romulanern verbündet. Das belastet unserer Meinung nach das Romulanische Reich und stellt es als Gegner der rechtmäßigen Regierung unserer Welt dar.«
Einer der chiarosanischen Wächter hob eine kleinere Version des Geräts, das Curince Picard gegeben hatte. Die Senatorin sah aufs Display und wandte sich dann wieder an die Besucher. »Der Treffpunkt steht fest. Die Sicherheitsvorkehrungen sind minimal und deshalb hoffe ich, dass sich Falhains Leute bei dieser Sache ehrenhaft verhalten.« Sie zögerte kurz, richtete dann einen bedeutungsvollen Blick auf Tabor und Picard. »Ich hoffe auch, dass die Präsenz eines unparteiischen Vermittlers – und der Föderation – bei den bevorstehenden Gesprächen unsere Sicherheit gewährleistet und hilft, die Spaltung unseres Volkes zu überwinden.«
Tabor lächelte herzlich. »Senatorin, ich glaube, ich kann Ihnen Folgendes versprechen: Die Détente, die wir heute einleiten, wird die Zukunft von Chiaros IV für immer verändern, und zwar zum Besseren.«
Picard musterte Tabor einige Sekunden lang. Er mochte den Botschafter nicht besonders, musste aber zugeben, dass er sehr charmant und überzeugend sein konnte. Vielleicht war er tatsächlich imstande, den Chiarosanern Frieden zu bringen.
Als sie vortraten, beugte sich Tabor zu Picard und flüsterte: »Senatorin Curince hat die Wahrheit gesagt in Hinsicht auf die Archimedes. Zumindest sie selbst weiß nicht mehr darüber.« Picard fragte nicht, woher der Botschafter seine Informationen darüber zog, was Curince wusste. Er erinnerte sich daran, dass die ullianische Telepathie tiefer ging als Trois empathische Sondierungen.
Wenn Tabor überhaupt nichts dabei findet, die Privatsphäre die Senatorin zu verletzen und in ihr Bewusstsein vorzudringen …, dachte Picard. Wozu mag er dann noch fähig sein, ohne dass ihn Gewissensbisse plagen?
Curince erklärte nicht, welchem Zweck der Ort des Treffpunkts einst gedient hatte und weder Picard noch Tabor fragten danach. Die runde Arena wies viele Säulen und Bänke auf, verfügte auf allen Seiten über schattige Nischen und stadionartige Sitzreihen. Auf den ersten Blick gewann man den Eindruck, dass hier sportliche Ereignisse oder Gladiatorenkämpfe stattgefunden hatten, aber Picard glaubte, dass man diesen Ort vor allem für Vorlesungen oder Debatten verwendet hatte. Der Staub deutete darauf hin, dass seit der letzten Benutzung viel Zeit verstrichen war.
In der hell erleuchteten Mitte der Arena standen Ruardh und ihre Leibwächter, während am Rand etwa fünfzehn Soldaten Aufstellung bezogen hatten. Ruardh erwies sich als stattliche Matrone und trug ein kastanienbraunes Gewand, das gut zu den braun-blonden Zöpfen passte, die ihr über die Schultern reichten. In der Mitte des Gewands zeigte sich ein langer Schlitz; dort war der Stoff um ein Bein gewickelt, was die Fortbewegung erleichterte.
Curince stellte Tabor dem Ersten Protektor vor und erneut vollführte der Botschafter die komplizierte Geste mit den Händen. Picard trat vor, als die Senatorin seinen Namen nannte, und deutete eine Verbeugung vor dem Oberhaupt der chiarosanischen Regierung an. »Es tut mir Leid, dass ich Sie nicht in der Art Ihres Volkes begrüßen kann, Erster Protektor«, sagte er und erinnerte sich dabei an Tabors Worte. Diesmal verzichtete er darauf, seine Begleiter vorzustellen.
»Ich nehme es Ihnen nicht übel, Captain. Nun, allein Ihre Präsenz an diesem Ort deutet darauf hin, dass Sie viel … erfolgreicher sein werden als die erste Delegation, die die Föderation zu uns schickte.«
»Captain Picard ist oft erfolgreich, Erster Protektor«, ertönte eine feste Stimme. Eine Romulanerin trat durch einen Seiteneingang und näherte sich der Gruppe, begleitet von drei romulanischen Funktionären. »Er hat den Befehl über das beste Kriegsschiff der Föderation, die viel gepriesene U.S.S. Enterprise. Er bringt Ihnen einen Diplomaten mit süßer Zunge, kommt mit einem Schiff, das Ihre Hauptstadt auf seinen Befehl hin ausradieren könnte. Kein Wunder, dass Sie ein Bündnis mit der Föderation vorziehen. Aber können Sie Leuten trauen, die so schwach sind, dass sie an einem Tag Schiffe und Waffen verlieren, und am nächsten mit einem Kriegsschiff kommen?«
»Ich weiß, dass ich den Romulanern nicht trauen kann, Botschafterin T'Alik«, erwiderte Ruardh und drehte dabei den Kopf. »Sie haben beschlossen, sich mit meinen Gegnern zu verbünden.«
»Wir haben uns für keine Seite entschieden, Protektor«, sagte T'Alik. Ihr hochmütiger Blick glitt zu Picard und seinen Offizieren. »Es sind nicht unsere Waffen, die Ihre Opposition gegen Sie verwendet. Wir haben den Oberhäuptern von Chiaros IV den Schutz des Romulanischen Reiches angeboten. Sie sind es, die sich für eine Seite entschieden haben, und zwar für die Föderation. Aber wenn Sie genauer darüber nachdenken, ändern Sie vielleicht Ihre Ansicht und wählen uns als Bündnispartner. Darin besteht unsere Hoffnung.«
Picard sah zu Tabor, um festzustellen, ob der Botschafter antworten wollte, aber sein Blick teilte ihm mit, dass es besser war, diese Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. T'Aliks Worte schienen den Anstoß gegeben zu haben: Chiarosanische Rebellen kamen aus den Schatten der Arena – die Männer und Frauen bewegten sich geschmeidig und fast lautlos. Ruardh und ihre Leute schienen nicht überrascht zu sein und die Ruhe der Romulaner deutete darauf hin, dass sie mit dem Erscheinen der Dissidenten gerechnet hatten. Die Starfleet-Offiziere hingegen konnten ihre Nervosität nicht ganz verbergen. Die Rebellen am Rand der Arena gaben Picard das Gefühl, in der Falle zu sitzen, zumal sowohl Ruardhs Gegner als auch ihre Leibwächter schwer bewaffnet waren.
Einige Rebellen wichen beiseite und ein großer, blonder Chiarosaner trat vor. Ein kleinerer, dunkelhaariger Mann folgte ihm. »Ruardh!«, knurrte der Blonde. »Ich habe halb damit gerechnet, dass Sie nicht zu dieser Besprechung kommen.«
Die matronenhafte chiarosanische Regierungschefin richtete einen gleichmütigen Blick auf den blonden Rebellen. »Und ich war fast sicher, dass Sie einen Angriff den Verhandlungen vorziehen, Falhain.«
Aubin Tabor trat vor und breitete die Arme aus, mit den Handflächen nach oben. »Offenbar sind beide Seiten in gutem Glauben erschienen, trotz der vorgefassten Meinungen. Können wir jetzt fortfahren? Es bleibt nur noch wenig Zeit bis zur Volksabstimmung – drei Tage.«
Falhain drehte den Kopf und sah ihn aus klaren, stählernen Augen an. »Sie sind vermutlich der Föderationsbotschafter, der uns davon überzeugen soll, dass Ruardhs Sache die richtige ist.«
Tabor neigte kurz den Kopf und wiederholte die komplexe Geste mit den Händen, die Picard schon zweimal gesehen hatte. »Ich bin Aubin Tabor, Großgeneral Falhain. Aber ich bin nicht hier, um Protektor Ruardhs Sache zu unterstützen, sondern um Frieden zwischen ihren beiden Gruppen zu ermöglichen.«
»Soweit wir wissen, verbieten Ihnen die Föderationsgesetze, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Kulturen einzumischen«, sagte der dunkelhaarige Mann an Falhains Seite und seine Stimme klang herausfordernd. »Warum versuchen Sie, Einfluss auf uns zu nehmen?« Er sah kurz zu T'Alik und ihren Leuten.
Tabor lächelte freundlich und sprach ganz ruhig. »Sie meinen die Erste Direktive. Eine kluge, wundervolle Vorschrift. Aber sie ist nicht die einzige, die unser Handeln bestimmt, so wie auch Sie nicht nur von einem Gesetz regiert werden. Da wir eingeladen wurden, von der rechtmäßigen Regierung …«
»Von der rechtmäßigen Regierung?«, entfuhr es Falhain. Er trat einen drohenden Schritt vor und Picard sah rasch zu Riker, der eine kampfbereite Haltung einnahm. Der Erste Offizier entspannte sich, als der Blick des Captains zu Deanna Troi glitt. Ihre Aufmerksamkeit galt Tabor und den beiden Chiarosanern; vermutlich nahm sie gerade eine empathische Sondierung vor. Es erleichterte Picard, dass Troi die Emotionen der Einheimischen offenbar leichter erfassen konnte als die des Botschafters. Deannas Miene blieb gelassen, deutlicher Hinweis darauf, dass kein Anlass zu Sorge bestand.
»Weiß die Föderation, wie sich das ›rechtmäßige‹ Regierungsoberhaupt an der Macht hält?«, fuhr Falhain fort. »Weiß sie, dass Ruardh befohlen hat, Tausende von Chiarosanern umzubringen, Dörfer niederzubrennen und Kinder zu ermorden? In den ausgetrockneten Flüssen von Chiaros fließt jetzt das graue Lebensblut ihrer Opfer.«
Ruardh wirkte entsetzt. »Sie übertreiben, Falhain, wie immer. Sie haben meine Dienste aus eigenem Antrieb verlassen und Ihre Gefolgsleute entschieden sich für die Opposition.« Sie kehrte Falhain den Rücken zu und drehte dabei den Kopf, sodass ihr Blick auf ihn gerichtet blieb, als sie hinter eine der pultartigen Plattformen trat. »Sie beschreiben mich als eine Art Ungeheuer, aber wo sind die Beweise für meine angeblichen Gräueltaten?«
Tabor trat vor. »Protektor, General«, sagte er in einem beschwichtigenden Tonfall, »wir sollten uns auf die wichtigen Dinge konzentrieren …«
»Halten Sie dies etwa für unwichtig?« Falhain richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wirkte dadurch noch beeindruckender. Falten bildeten sich in seiner Stirn und die Zähne glänzten. »Die Regierung, mit der sich die Föderation verbündet hat, ist des Völkermords schuldig. Nicht genug damit, dass ihre Überfallkommandos kostbaren Boden und Wasser stehlen, wodurch den abgelegenen Dörfern nur noch Staub bleibt – sie ermorden alle, die es wagen, sich ihrer Gier zu widersetzen, ob bewaffnet oder nicht. Wir kämpfen um unser Überleben!«
Der dunkelhaarige Mann neben Falhain griff hinter seinen Rücken, wodurch sich seine Arme auf für Menschen völlig unmögliche Weise in den Schultergelenken drehten. Ruardhs Leibwächter zückten misstrauisch ihre Waffen, aber der Mann zog nur ein Gerät aus einem Beutel, den er auf dem Rücken trug. Er stellte den Apparat auf den Boden, und Picard betrachtete ihn neugierig. Das Gerät war einen knappen halben Meter hoch, wies unten drei kurze Beine auf und oben eine runde Linse.
»Sie fragen nach Beweisen, Ruardh?« Falhain drehte den Kopf, sah zu Picard und seinen Offizieren. »Zweifellos sind Ihre Starfleet-Freunde ebenso argwöhnisch in Hinsicht auf meine Motive, denn die Föderation kennt ja nur Ihre Argumente. Hier sind Aufzeichnungen Ihrer Verbrechen. Grelun?«
Der dunkelhaarige Mann reagierte und presste einen Finger in eine Mulde des Geräts. Flackerndes Licht stieg auf und formte das dreidimensionale Bild eines Dorfes. Häuser brannten und umhereilende Chiarosaner versuchten, die Feuer zu löschen. Soldaten griffen die Dorfbewohner an und töteten viele von ihnen. Picard stellte bestürzt fest, dass viele der Opfer Frauen und Kinder waren.
Data beugte sich zu Picard und Riker und sprach so leise, dass ihn die anderen nicht hörten. »Offenbar ist es eine holographische Projektion, Sir.«
»Das habe ich bereits selbst herausgefunden«, flüsterte Picard. »Aber ich möchte wissen, ob diese Bilder echt sind oder nicht.«
»Verstanden, Sir.«
Eine zweite Szene zeigte chiarosanische Soldaten, die Dorfbewohner über eine Straße führten. Die Gefangenen, Personen aller Altersgruppen, waren gefesselt und einen halben Meter lange, um den Hals geschlungene Stricke verbanden sie untereinander. Das Bild wechselte. Picard und die anderen beobachteten einen Soldaten, der am Rand eines Grabens stand und einem Alten das Bajonett in den Rücken stieß. In dem Graben lagen viele Leichen. Graues Blut tropfte aus Wunden in Rücken und an den Seiten, auch aus aufgeschlitzten Kehlen. Dichte Wolken aus Insekten summten über den Toten.
Data beugte sich erneut vor. »Zwar ist es möglich, mit holographischer Technik beliebige Szenen zu fälschen, aber ich glaube, dass wir hier tatsächliche Ereignisse sehen. Fokusprobleme und der Umstand, dass die Bilder immer wieder verdeckt werden, deuten darauf hin, dass die Aufnahmen heimlich angefertigt wurden.«
Ein kluger Fälscher könnte auch das berücksichtigt haben, dachte Picard. Aber die Bilder wirkten echt genug, um Sorge in ihm entstehen zu lassen.
Der Captain trat einen Schritt vor und zog am Saum seiner Uniformjacke. »General Falhain, ich glaube, wir haben zunächst genug gesehen. Zwar glauben Sie, dass wir ganz und gar auf der Seite von Protektor Ruardh stehen, aber ich möchte darauf hinweisen, dass jetzt einige Zweifel entstanden sind in Hinsicht auf die Art und Weise, wie sie ihr Volk regiert. Weder diese Bilder noch entsprechende Informationen wurden dem Föderationsrat präsentiert …«
»Dafür gibt es einen guten Grund, Captain«, warf Ruardh ein und sprach das letzte Wort so aus, als hinterließe es einen schlechten Geschmack in ihrem Mund. »Diese Bilder sind teilweise gefälscht und teilweise das Werk von Falhain selbst. Vielleicht wissen Sie, dass er meine Truppen kommandierte, und viele Regimenter sind ihm noch immer treu ergeben. Er gab seinen Männern den Befehl zu jenen Gräueltaten und anschließend legte er sie mir zur Last.«
»Wie können Sie es wagen zu behaupten, dies sei mein Werk?«, donnerte Falhain. »Das Volk nennt Sie ›Aschgraue Herrscherin‹, wegen des Blutes, das an den Schleppen Ihrer Gewänder klebt. Ich schied aus Ihren Diensten aus, als Sie damit begannen, den Bewohnern der abgelegenen Bereiche noch mehr Probleme zu bescheren. Sie bestimmten, wo Waren verkauft werden konnten, wo wir leben durften und wem von uns es erlaubt war, auch weiterhin zu essen und zu trinken. Ihre politischen Entscheidungen füllten die Gefängnisse mit Gebrechlichen und den Ärmsten der Armen. Seit dem Beginn dieser Ungerechtigkeit kämpfe ich gegen Sie, auf den Straßen ebenso wie in den Schatten. Aber ich habe nie, nie einen Unschuldigen getötet!«
Tabor trat vor und sprach lauter, obwohl seine Stimme einen beschwichtigenden Klang behielt. Picard begriff: Er versuchte, eine Situation zu entschärfen, die außer Kontrolle zu geraten drohte. »General Falhain, Protektor Ruardh, bitte. Mit gegenseitigen Vorwürfen kommen wir nicht weiter. In drei Tagen beginnt das Referendum und dann wird das Volk entscheiden, ob diese Welt fortan zur Föderation gehört oder zum Romulanischen Reich.«
»Welchen Sinn hat eine Wahl, wenn das Leben und die Familien der Wähler bedroht sind?«, erwiderte Falhain. »Wenn Rebellen ihre Stimme abgeben, müssen sie damit rechnen, ins Gefängnis geworfen oder hingerichtet zu werden. Und sind Sie wirklich so naiv zu glauben, dass eine Herrscherin, die ihr Volk unterdrückt, freie Wahlen stattfinden lässt?«
Falhain deutete zu T'Alik und ihren Begleitern. »Was die Romulaner betrifft … Sie scheinen nicht sonderlich an dem Kampf zwischen Chiarosaner interessiert zu sein.«
Picard sah zu Troi, die andeutungsweise mit den Schultern zuckte. Sie kann nicht feststellen, ob das der Wahrheit entspricht, dachte er.
»Und warum wollen sie dann dieses Sonnensystem?«, wandte sich Picard an Falhain. »Nach meinen Erfahrungen geht es den Romulanern nie darum, jemandem zu helfen – sie denken immer an die eigenen Vorteile. Sie sind Eroberer. Wenn sich die Chiarosaner gegen die Föderation entscheiden … Wieso glauben Sie, dass die Romulaner dann nicht die ganze chiarosanische Gesellschaft versklaven?«
Falhain sah Picard an und wölbte eine Braue. »Ihre Frage erscheint mir sinnlos, Captain. Wenn uns die Romulaner erobern wollen – warum haben sie es dann nicht schon längst getan?« Er legte eine kurze Pause ein, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Ich bin nicht blind, Picard, und ich lasse mich auch nicht leicht von etwas überzeugen. Die Romulaner haben unseren Kampf weder behindert noch unterstützt. Ob Ruardh an der Macht bleibt oder nicht, spielt für sie nur eine untergeordnete Rolle. Ihnen geht es vor allem darum, die Grenzen ihres Reiches zu erweitern, um die schleichende Expansion und Vorherrschaft der Föderation zu beenden. Wenn das Referendum zu dem von Ruardh gewünschten Ergebnis führt und damit zu einer Mitgliedschaft von Chiaros IV in der Föderation, so erleidet das Reich einen Verlust. Aber wenn sich der Wille des Volkes durchsetzt und wir eine Mitgliedschaft in der Föderation ablehnen, so können wir selbst über unser Schicksal befinden, frei von äußeren Einflüssen zugunsten einer Regierung, die ihre eigenen Bürger umbringt!«
Tabor hob die Hände in einem neuerlichen Versuch, die Gesprächsteilnehmer zu beruhigen, und Picard wandte den Blick von Falhain ab. Er stellte fest, wie sich Deanna Trois Gesichtsausdruck plötzlich veränderte: Aus Sorge wurde Schmerz und Schock. Plötzlich sprang sie vor und riss Picard zu Boden. Ein fauchender Energiestrahl zuckte dort durch die Luft, wo er eben noch gestanden hatte.
Von einem Augenblick zum anderen herrschte Chaos. Von den oberen Bereichen der Arena gleißte Disruptorfeuer auf Chiarosaner, Romulaner und die Starfleet-Offiziere herab. Der zweite Strahl traf einen von Falhains Begleitern in der Brust und hinterließ dort ein qualmendes Loch – der Mann kippte nach hinten, fiel tot zu Boden. Die Chiarosaner beider Seiten zogen säbelartige Schwerter oder andere Klingen und fielen übereinander her.
Troi sprang zu einer Sitzbank und ein Energieblitz kochte dicht neben ihr über den marmornen Boden. Picard rollte sich zur Seite. Ein chiarosanischer Rebell sah ihn und hob sein Schwert, um dem Captain einen tödlichen Hieb zu versetzen. Picard trat dem Mann zwischen die Beine und erreichte damit die gewünschte Wirkung – der Angreifer verfehlte sein Ziel. Mit einem deutlich hörbaren Pfeifen sauste eine andere Klinge dicht über den Kopf des Captains hinweg, trennte den Schwertarm seines Gegners ab und bohrte sich ihm dann in die Brust. Der Arm des Chiarosaners fiel auf Picard, das Krummschwert noch in der Hand.
Rasch griff er nach der Waffe und stand auf. In Gedanken verfluchte er die Regeln der Föderationsdiplomatie, die Phaser verboten – bei diesem Kampf waren nur Picard und seine Offiziere unbewaffnet. Er hielt in dem Durcheinander nach seinen Gefährten Ausschau, sah sie aber ebenso wenig wie Tabor.
Der Kampf war laut, brutal und unglaublich schnell. Gnadenlos schlugen die Chiarosaner aufeinander ein; ihre kehligen Schreie und das Klirren der Schwerter schufen einen ohrenbetäubenden Lärm. Picard bemerkte einen chiarosanischen Soldaten, der sich mit Säbeln in den Händen zwei Romulanern näherte. Er reagierte aus einem Reflex heraus und lief los, um den Krieger anzugreifen, erreichte ihn aber erst, nachdem bereits ein Romulaner getötet worden war.
Der Chiarosaner hob einen Säbel und hielt den anderen niedrig. Picard duckte sich, blockierte die untere Klinge mit seiner erbeuteten Waffe. Die beiden Klingen blieben in Kontakt, schwangen zur Seite … Bis Picard sein Schwert herumriss und das Handgelenk des Gegners traf. Die Schneide musste unglaublich scharf sein, trennte die pelzbesetzte Hand vom Arm.
Der Chiarosaner heulte und schlug mit dem anderen Säbel zu. Zwar zielte er nicht besonders gut, aber die Spitze seiner Waffe schnitt durch Picards Uniformjacke und ritzte die Haut an der Brust auf. Plötzlich schrie der Chiarosaner, neigte sich nach vorn und sank mit einer blutenden Säbelwunde im Rücken zu Boden. Hinter ihm stand einer von Ruardhs Leibwächtern, warf Picard einen respektvollen Blick zu und stürzte sich dann auf einen anderen Rebellen.
Der Captain spürte eine Präsenz hinter sich und wirbelte herum. Unmittelbar darauf entspannte er sich, als er Data erkannte, der ebenfalls ein chiarosanisches Schwert in der Hand hielt. Angesichts seiner schnellen Reflexe war der Androide den Chiarosanern sicher nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen, aber Picard hatte keine Fortsetzung des Kampfes im Sinn, als er nach seiner blutenden Brustwunde tastete.
»Data, weisen Sie den Computer des Shuttles an, uns an Bord zu beamen.«
Mit der freien Hand betätigte Data mehrere Schaltelemente seines Tricorders, während sich Picard nach Riker, Troi und Tabor umsah – sie blieben noch immer in der Menge der Kämpfenden verborgen. Der Captain klopfte auf seinen Insignienkommunikator und rief nach Riker, aber der Lärm war so groß, dass er die Antwort des Ersten Offiziers vermutlich gar nicht gehört hätte.
»Es ist alles vorbereitet, Sir«, sagte Data.
Picard blickte zum Androiden und bemerkte zwei Chiarosaner, die ihnen entgegentaumelten, jeweils vom Säbel des anderen durchbohrt. »Energie!«
Eine Sekunde später befand sich Picard an Bord des Shuttles. Er wankte vom Transferfeld herunter, hatte dabei noch immer die beiden sterbenden Krieger vor Augen. Data materialisierte auf einem anderen Transferfeld.
»Wo sind Will und Deanna? Und Tabor?«
Der Androide eilte zu den Transporterkontrollen, berührte Schaltflächen und gab erneut Energie. »Ich versuche, den Transfer einzuleiten, Captain.«
Ein vertrautes Funkeln und Schimmern zeigte sich über den drei Transferfeldern, aber es materialisierten nicht etwa der Erste Offizier und die Counselor, sondern ihre Insignienkommunikatoren. Auf dem dritten Feld erschien der zusammengekrümmte Botschafter und kehrte ihnen den Rücken zu. Er drehte sich um und stolperte, die rechte Hand an der Kehle, die linke auf der Brust.
Die Beine trugen ihn nicht mehr und er fiel, streckte dabei die linke Hand aus, um sich abzufangen. Picard hörte ein grässliches Geräusch, als Tabor auf den Boden prallte – ein chiarosanischer Dolch bohrte sich ihm tiefer in den Leib. Data und der Captain drehten den Botschafter um und sahen Blut, das zwischen Tabors Fingern hervorquoll.
»Wir müssen ihn zur Enterprise bringen«, sagte Picard. »Data, bringen Sie uns fort von hier.«
Der Androide wandte sich den Navigationskontrollen des Shuttles zu und Picard versuchte, durch Druck auf die Halswunde die Blutung zu unterbinden. Das Messer steckte noch immer in seiner Brust, aber Picard hütete sich davor, es herauszuziehen – vermutlich hätte Tabor dadurch noch mehr Blut verloren. Wenn jemand imstande war, ihn zu retten, so Crusher an Bord der Enterprise. In Gedanken verfluchte der Captain den Umstand, dass Medizinische Holo-Notprogramme nicht zur Ausstattung von Shuttles gehörten, und er nahm sich vor, diesen Punkt in seinem nächsten Bericht an Starfleet Command zu erwähnen.
Das kleine Raumschiff schüttelte sich, als es durch die stürmischen Bereiche der Atmosphäre flog. Picard hielt sich mit einer Hand fest und versuchte zu verhindern, dass sich Tabor zu sehr bewegte. Die linke Hand des Botschafters tastete schwach nach der Uniformjacke des Captains und zog ihn zu sich herab. Er bemühte sich, etwas zu sagen, doch die Geräusche, die er hervorbrachte, ließen Picard innerlich schaudern. Er beugte sich hinab und lauschte.
»Fal… Falhain … ist … tot.«
Was vor zehn Minuten nach einer hitzigen Debatte ausgesehen hatte, war auf schreckliche Weise zu Ende gegangen. Falhain, Oberhaupt der Rebellen, bekam nun den Status eines Märtyrers. Botschafter Tabor lag sterbend in Picards Armen. Riker und Troi wurden vermisst, zählten vielleicht ebenfalls zu den Opfern. Chiaros IV mochte bald ans Romulanische Reich fallen. Und von Überlebenden der Slayton fehlte noch immer jede Spur.
Schlimmer kann's kaum werden, dachte Picard, als der Shuttle schneller wurde und den Weltraum erreichte.