Kapitel 7

 

»Die Sonde wird gestartet, Captain«, meldete Data und seine Finger huschten über Schaltflächen.

Hawk beobachtete, wie sich Picard im Kommandosessel vorbeugte und zum großen Wandschirm sah, als die kleine Sonde durchs All sauste. Der Captain kniff die Augen zusammen, als könnte er dadurch mehr sehen.

Data drehte den Kopf. »Soll ich die visuelle Telemetrie aktivieren, Sir? Das wäre effektiver.«

Hawk sah zu Data. Die Direktheit des Androiden erstaunte ihn immer wieder. Wenn jemand anders eine solche Frage gestellt hätte, wäre sie fast eine Beleidigung gewesen, aber Hawk – und alle anderen auf der Brücke – wussten, dass die Sache bei Data anders aussah.

»Ja, Data«, erwiderte Picard und lehnte sich wieder zurück.

Das Bild auf dem Schirm änderte sich ein wenig. Am Rand des Projektionsfelds wiesen digitale Anzeigen und Koordinatengrafiken auf die Daten hin, die von der Sonde während ihres Flugs ermittelt, aufgezeichnet und gesendet wurden.

Während der Vorbereitungen der Sonde hatten Data, Hawk und LaForge die Sektorkarten analysiert und versucht, den Ort festzustellen, an dem die Slayton zerstört worden war. Grundlage ihrer Berechnungen waren nicht nur die Strahlungsreste an den gefundenen Trümmern, sondern auch Geschwindigkeit und Kurs des Schiffes. Es überraschte niemanden, dass sich der Ort in unmittelbarer Nähe des Raumbereichs befand, der nach den vorliegenden Sensordaten nicht nur als wahrscheinlicher Ursprung für die Subraum-Realitätsverschiebung infrage kam, sondern auch als Epizentrum einiger starker Verzerrungswellen.

Bei einem kurzen Besuch in der Stellaren Kartographie hatten sich Hawk und Data genauer über die Geminus-Kluft informiert. Es überraschte Hawk, wie wenig man über diese Sektoren wusste. Die Daten, die Keru hatte auftreiben können, stammten größtenteils aus irgendwelchen obskuren Fachzeitschriften oder aus seiner Korrespondenz mit Kollegen an Bord anderer Föderationsschiffe. Allem Anschein nach waren die Subraum-Fluktuationen in diesem Raumgebiet während der vergangenen beiden Jahre stärker geworden. Vorher hatten selbst die geduldigsten Forscher kaum einen Anlass gesehen, die Kluft zu sondieren. Vom Kommandanten eines wissenschaftlichen Kreuzers war sie als eine Art »interstellare Tabula rasa« bezeichnet worden.

Hawk saß wieder an seinem Posten und ging in Gedanken Zeitpunkt, Ort und Intensität aller bekannten Subraum-Fluktuationen in der Geminus-Kluft durch, als sich der Turbolift öffnete. Batanides betrat die Brücke, in eine makellose Admiralsuniform gekleidet. Sie wirkte ruhig und gefasst. Hawk ahnte, dass sie nach dem Tod ihres Geliebten erheblichen emotionalen Belastungen ausgesetzt war. Er fragte sich, ob sie von der Arbeit des Botschafters für Sektion 31 gewusst hatte. Oder hat Tabor das die ganze Zeit über geheim gehalten?

Sein Blick folgte der Admiralin, als sie zum Kommandobereich der Brücke ging und rechts von Picard Platz nahm, dort, wo normalerweise Will Riker saß. Sie sah kurz zu Hawk und in ihrem Gesicht deutete nichts darauf hin, dass sie von seiner Verbindung zu Tabor wusste. Selbst wenn sie von Tabors Verbindung zu Sektion 31 wusste: Hawk war ziemlich sicher, dass der Botschafter sie nicht auf den Rekrutierungsversuch hingewiesen hatte.

Seine Gedanken rasten, als er sich wieder den Navigationskontrollen zuwandte. Hinter ihm sprachen Picard und Batanides mit gedämpften Stimmen.

Einige Minuten später unterbrach Data das Gespräch des Captains und der Admiralin. Der Androide sah zum Wandschirm, während seine Finger über Schaltflächen glitten. »Captain, ich glaube, die Sonde hat etwas gefunden.«

»Was genau hat sie entdeckt, Mr. Data?« Picard beugte sich vor und sah zum Schirm, der nach wie vor leeres All zeigte.

»Das lässt sich nicht genau feststellen, Sir. Offenbar existiert ein Energiefeld bei den Koordinaten 294 – 025 – minus 121. Es scheint eine Art Tarnfeld zu sein, ist jedoch weitaus größer als alle Tarnfelder, die jemals geortet wurden.«

»Natürlichen Ursprungs?«

»Unbekannt. Es könnte ein natürliches Phänomen sein, aber die bisher ermittelten Daten lassen keinen eindeutigen Schluss zu. Es wäre auch möglich, dass das Energiefeld mit technischen Mitteln erzeugt wird.«

»Was uns nicht viel sagt«, meinte Picard. »Data, auf welche Größe schätzen Sie das Feld?«

Der Androide neigte den Kopf ein wenig zur Seite und Hawk wusste dieses Zeichen zu deuten: Es wies darauf hin, dass Datas Neugier geweckt war. »Die Sonde fliegt jetzt an der Peripherie des Tarnfelds entlang. Allem Anschein nach umgibt es einen Raumbereich, der ungefähr so groß ist wie ein Gasriese vom Jupiter-Typ.«

»Was?« Batanides beugte sich verblüfft vor. »Soll das heißen, es gibt einen getarnten Planeten in diesem Sonnensystem?«

»Nicht unbedingt, Sir. Wir wissen nicht, was getarnt ist – falls wir es wirklich mit einem Tarnfeld zu tun haben.«

Picard deutete zum Wandschirm. »Data, was geschieht mit den Signalen, die die Sonde in das Feld schickt?«

»Sie verschwinden, Sir. Sie werden nicht reflektiert, verlieren sich im Nichts.«

Hawk rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her, was der Captain eher bemerkte als er selbst. »Möchten Sie einen Diskussionsbeitrag leisten, Mr. Hawk?«

»Captain, darf ich vorschlagen, die Sonde ins Feld zu schicken?«, fragte Hawk erleichtert. »Im schlimmsten Fall geht sie verloren.«

»Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Picard freundlich. »Vielleicht bekommen wir wichtige Daten, selbst wenn das Energiefeld die Sonde zerstört. Die Enterprise dürfte weit genug von der … Anomalie entfernt sein, um nicht das Schicksal der Slayton zu teilen. Andererseits: Wir können nicht vorsichtig genug sein.« Picard hob die Stimme, obgleich alle Personen auf der Brücke ihn hörten. »Alarmstufe Gelb. Schilde auf maximale Kapazität.«

Dann nickte der Captain dem jungen Navigator zu. »Also los, Mr. Hawk.«

Der Lieutenant betätigte Schaltelemente, während der links von ihm sitzende Data aufmerksam die Anzeigen der Displays seiner Station im Auge behielt.

Gespannte Stille herrschte auf der Brücke und alle blickten zum Wandschirm. Plötzlich waberte die Schwärze des Alls, so als wären die Sterne an einem Vorhang befestigt, der zur Seite gezogen wurde. Für einen Sekundenbruchteil zeigte der große Bildschirm die Leere hinter dem Vorhang, und dann verschwand alles in einem kurzen Flackern.

»Es werden keine Daten mehr von der Sonde empfangen, Captain«, sagte Data. Er berührte eine Schaltfläche und drehte den Kopf. »Ich kann den Kontakt nicht wiederherstellen.«

»Was haben wir gerade gesehen?«, fragte Picard und stand auf.

»Was auch immer es gewesen sein mag: Es war genau null Komma sieben sechs drei Sekunden lang sichtbar.«

»Interessant. Ein Blinzeln zum falschen Zeitpunkt, und ich hätte nichts bemerkt. Wiederholen Sie die Darstellung und frieren Sie das Bild ein.«

»Ja, Sir.« Erneut erschien die vage Szene auf dem Wandschirm, aber diesmal verschwand sie nicht wieder. Hawk verglich den Anblick mit dem Bild, das ein Zerrspiegel zeigte: Der Raum selbst schien geborsten und gesplittert zu sein und jedes Fragment zeigte ein Spiegelbild der Sonde. Das einzige konkrete Objekt im Vordergrund schien eine Art künstlicher Satellit zu sein. Die von Data eingeblendeten Telemetriedaten wiesen darauf hin, dass der Apparat nicht größer war als eine Starfleet-Shuttlekapsel.

»Vergrößern Sie das Objekt.«

Data kam der Aufforderung nach und daraufhin war der Satellit etwas deutlicher zu erkennen. Er wirkte eher unscheinbar: eiförmig und glatt, ohne irgendwelche Markierungen. Ein Triebwerk ließ sich nicht erkennen.

»Seltsam«, sagte Picard und runzelte die Stirn. »Vergrößern Sie das Bild noch etwas und suchen Sie in den einzelnen Abschnitten nach weiteren Verzerrungen, sowohl im sichtbaren Spektrum als auch im Subraum.«

Data sah zum Wandschirm, der vergrößerte Teile des Gesamtbilds zeigte, und zwar so schnell hintereinander, dass das menschliche Auge kaum mehr Einzelheiten wahrnahm. Nach fast einer Minute erklang erneut die Stimme des Androiden. »Ich habe zahlreiche ähnliche Materie-Konzentrationen gefunden, außerdem einen zentralen Punkt, von dem die Subraum-Verzerrungen ausgehen. Ich schalte die Anzeige um.«

Das Bild wechselte zur Großansicht, mit vier rot markierten quadratischen Segmenten. Data betätigte Schaltelemente, isolierte und vergrößerte Darstellungen von vier verschiedenen Objekten. »Hier sehen wir den Apparat, den wir zuerst beobachtet haben, neben vergrößerten Bildern von zwei weiteren Objekten, die weiter entfernt und ebenso beschaffen sind wie das erste. Interessanterweise sind die Distanzen zwischen ihnen gleich. Sensorschatten deuten darauf hin, dass sich im Innern des Felds weitere Apparate dieser Art befinden.«

Picard deutete zur oberen rechten Ecke des Wandschirms. »Was hat es mit dem vierten Objekt auf sich?«

Wieder berührte Data eine Schaltfläche und das vierte Segment schob sich nach vorn, zeigte sich in maximaler Vergrößerung. Das Bild war stark verzerrt, aber man konnte deutlich sehen, dass sich dieses Objekt durch eine andere Struktur auszeichnete als die Satelliten.

Hawk wartete keine Anweisung ab und wies den Computer an, die Verzerrungen so weit wie möglich auszugleichen und das All aus der Darstellung herauszufiltern.

Ein grünliches, mit einer Doppelschwinge ausgestattetes Raumschiff schwebte in der Mitte des Projektionsfelds.

Picard war kaum überrascht. »Ein romulanischer Warbird.«

Hawk überlegte fieberhaft und dachte an frühere Missionen der Enterprise. Er sortierte seine Erinnerungen, fand nach zwei oder drei Sekunden die richtige. »Captain, ich habe eine Theorie, die einen Teil dieses Phänomens erklären könnte.«

Batanides sah zu Hawk, wölbte eine Braue und schien sich über seine Impertinenz zu wundern.

»Fahren Sie fort, Mr. Hawk«, sagte Picard.

»Vor etwa vier Jahren entdeckten Sie eine Dyson-Sphäre. Vielleicht sind wir hier auf etwas Ähnliches gestoßen. Möglicherweise gehören die drei Satelliten, die wir gesehen haben – und die anderen Subraum-Verzerrungen – zu einem Netzwerk aus Tausenden von Apparaten, die alle mit einer romulanischen Tarnvorrichtung ausgestattet sind …«

»Ja, ich verstehe«, unterbrach Picard den jungen Mann. »Mit einem solchen Netzwerk könnten die Romulaner einen großen Raumbereich in ein Tarnfeld hüllen. Ohne ihn mit einer gewaltigen Konstruktion umgeben zu müssen.«

»So etwas ist theoretisch möglich«, sagte Data. Seine Finger huschten über die Kontrollen. »Ich verbinde die identifizierbaren Objekte.« Ein neues Bild erschien auf dem Wandschirm: ein kugelförmiges Gittermuster aus Linien mit Hunderten von Schnittpunkten dort, wo sich eiförmige Objekte befanden. Es gab Lücken – Hawk führte sie auf unvollständige Telemetriedaten zurück –, aber es sah nach den Längen- und Breitengraden einer planetaren Karte aus, oder nach einem komplexen Spinnennetz, zu einer Kugel gewölbt.

»Unglaublich«, sagte Batanides und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Damit könnten die Romulaner tatsächlich einen Planeten von der Größe Jupiters verbergen.«

»Wahrscheinlich verfügt dieses Netzwerk über eine Abschirmung, die dafür sorgt, dass es an Bord von sich nähernden Raumschiffen zu einem Ausfall wichtiger Systeme kommt«, sagte Data. »Das würde erklären, warum die ausgeschickte Sonde keine Daten mehr übermittelt.«

»Aber romulanische Schiffe müssten imstande sein, die Barriere unbeschadet zu passieren«, ließ sich Hawk vernehmen.

Data nickte. »Um ins Innere des getarnten Bereichs zu gelangen, müsste das betreffende Schiff Signale auf einer ans Tarnfeld angepassten Resonanzfrequenz senden.«

»Und wenn das nicht der Fall ist, wenn solche Signale ausbleiben …«, sagte Picard langsam. »Dann kommt es zu massiven Funktionsstörungen bei den Bordsystemen.«

»Wodurch ein solches Schiff Angriffen schutzlos ausgeliefert wäre«, fügte Batanides hinzu. »Jetzt wissen wir vielleicht, was mit der Slayton passiert ist und warum sie weder einen Notruf sendete noch eine Nachrichtenkapsel ausschleuste.«

»Wenn sich im Tarnfeld etwas so Wichtiges befindet, dass die Romulaner bereit sind, ein Raumschiff der Föderation zu vernichten, um das Geheimnis zu wahren, so kommt diesem Etwas größere Bedeutung zu als unserem diplomatischem Problem mit Chiaros IV«, sagte Picard.

»Vielleicht steht das eine mit dem anderen in Zusammenhang, Sir«, meinte Hawk.

»Kein Zweifel, Lieutenant. Die Romulaner haben sich große Mühe gegeben, etwas vor uns zu verbergen, und sie riskieren sogar einen interstellaren Krieg. Aus welchem Grund?«

Hawk stellte sich die gleiche Frage, als er sah, wie Picard das undeutliche Bild des romulanischen Warbird auf dem Wandschirm betrachtete.

 

»Protektor Ruardh, bitte versuchen Sie, meine Situation zu verstehen. Wir sind gekommen, um bei dem Konflikt auf Ihrer Welt zu vermitteln. Uns liegt nichts daran, ihn zu verschlimmern.« Picard war verärgert, aber er versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen, als er im Bereitschaftsraum hinter seinem Schreibtisch stand. Das orbitale Kom-Netz von Chiaros IV funktionierte endlich wieder und gestattete es der Enterprise, eine Verbindung mit der chiarosanischen Hauptstadt herzustellen. Leider war eine hohe Signalstärke erforderlich, was bedeutete: Jedes Schiff in diesem Sonnensystem, ob getarnt oder nicht, konnte Picards Gespräch mit dem Oberhaupt der chiarosanischen Regierung abhören.

Der Bildschirm auf dem Schreibtisch zeigte eine Ruardh, die keinen Hehl aus ihrem Zorn machte, als sie vor dem visuellen Übertragungssensor auf und ab ging. »Sie haben mit eigenen Augen gesehen, wozu die Verräter fähig sind, Picard! Sie wären fast ums Leben gekommen und Ihr Botschafter wurde umgebracht. Brauchen Sie weitere Beweise dafür, dass die Armee des Lichts unserer Gesellschaft Chaos und Zerstörung bringt?«

Crusher saß auf dem niedrigen Sofa gerade außerhalb des Übertragungsbereichs. Batanides stand neben ihr. Picard bemerkte, dass sich die Admiralin versteifte, als Ruardh Tabors Tod erwähnte. »Protektor Ruardh«, sagte Batanides kühl, »die politische Situation auf Ihrem Planeten ist weitaus instabiler, als wir zunächst annahmen. Wir müssen dabei so neutral wie möglich bleiben. Unsere Erste Direktive …«

Die Chiarosanerin schien noch wütender zu werden. »Sprechen Sie nicht so mit mir, als sähen Sie sich einer Spezies gegenüber, mit der Sie gerade einen Erstkontakt hergestellt haben! Wir sind ein Volk, das die Mitgliedschaft in der Föderation beantragt hat, und Sie weigern sich, uns im Kampf gegen unsere Feinde zu helfen! Haben wir uns vielleicht für die falsche Macht entschieden? Hätten wir das Romulanische Reich als unseren Dhaekav wählen sollen?«

Batanides trat einen Schritt vor. »Ihre Regierung hat tatsächlich um die Mitgliedschaft in der Föderation ersucht, aber offenbar genießt sie nicht die volle Unterstützung Ihres Volkes, Protektor. Soweit ich weiß, entscheidet das bevorstehende Referendum darüber, ob die Mehrheit der Chiarosaner Teil des interstellaren Völkerbunds werden möchte oder nicht.« Die nächsten Worte sprach Admiral Batanides ganz ruhig aus. »Wenn die Abstimmung zugunsten der Föderation ausgeht, können wir Ihnen weitaus besser helfen, sich gegen die Angriffe von … Aufständischen zu verteidigen.«

»Und was die Romulaner betrifft«, warf Picard ein, bevor Ruardh antworten konnte. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass für das Reich in dieser stellaren Region mehr auf dem Spiel steht, als wir zunächst glaubten. Dadurch wird die Situation noch brisanter. Wir können keinen Krieg riskieren …«

»Riskieren? Sie riskieren mein Volk, Captain! Und auch Ihre Leute. Oder haben Sie vergessen, dass sich zwei Besatzungsmitglieder Ihres Schiffes in der Gewalt der Rebellen befinden?«

Das Bild auf dem Schirm flackerte. Lautes Knistern und Rauschen übertönte die Worte der Chiarosanerin.

Picard klopfte auf seinen Insignienkommunikator. »Geordi, die Verbindung ist gestört. Können Sie die Signale verstärken?«

»Tut mir Leid, Captain«, ertönte die Stimme des Chefingenieurs aus dem Lautsprecher des kleinen Kom-Geräts. »Das Problem liegt bei den Chiarosanern.«

Picard beugte sich zum Bildschirm vor. »Protektor Ruardh, ich fürchte, unsere Subraum-Verbindung bleibt nicht mehr lange bestehen. Ich verspreche Ihnen, dass wir alles versuchen werden, um Ihrem ganzen Volk Hilfe zu leisten …«

Ruardh verschwand abrupt vom Bildschirm, der daraufhin das silberweiße Starfleet-Emblem vor einem schwarzen Hintergrund zeigte.

Picard seufzte schwer und trommelte mit den Fingern auf die glänzende Schreibtischoberfläche. »Das Gespräch hätte einen besseren Verlauf nehmen können«, sagte er, sah erst die Admiralin an und dann Crusher.

Die Ärztin saß noch immer auf dem niedrigen Sofa in der einen Ecke des Bereitschaftsraums und beendete nun ihr Schweigen. »Eigentlich hätten wir damit rechnen müssen, Jean-Luc. Wir sehen uns einer sehr schwierigen Situation gegenüber, gelinde gesagt.«

Batanides legte Picard die Hand auf die Schulter. »Wenigstens brauchst du in diesem Fall nicht die Bürde der Verantwortung zu tragen. Was auch immer wir beschließen – ich muss die Entscheidung nachher vor Starfleet Command rechtfertigen.«

Picard musterte sie und sah ihr schiefes Lächeln. Zwar gab sie sich gefasst, aber er spürte ihren Kummer. Er suchte nach passenden Worten für eine Antwort, als sein Insignienkommunikator piepte. Datas Stimme erklang. »Captain, wir haben gerade eine Nachricht von Chiaros IV empfangen.«

»Ruardh?«

»Nein, Sir. Die Mitteilung wurde auf einer Starfleet-Frequenz gesendet und kommt offenbar von Commander Cortin Zweller.«

 

Picard, Batanides und Dr. Crusher kehrten rasch zur Brücke zurück. Hawk bediente die Navigationskontrollen, während Data an einer wissenschaftlichen Station stand und dort zusammen mit dem vulkanischen Techniker K'rs'lasel arbeitete. Der Vulkanier wandte sich als Erster an den Captain. »Sir, wir haben eben ein Subraum-Signal empfangen. Es war sehr kurz und für uns bestimmt, wie ich annehme. Die Mitteilung enthält den Identifikationscode von Commander Zweller.«

»Der Subraum-Impuls war recht schwach und enthielt ein Datenpaket, das wir inzwischen dekomprimiert haben«, sagte Data. »Ganz offensichtlich wurden uns Koordinaten übermittelt, die einen Ort auf der Nachtseite von Chiaros IV betreffen. Hinzu kommt eine unklare Botschaft über die Kraftfelder eines Sicherheitssystems – diesen Teil der Mitteilung muss ich noch genauer überprüfen. Das Wort ›Gefangene‹ findet mehrmals Erwähnung und es steht in Verbindung mit einer Sternzeit. Es trennen uns noch fünf Stunden und siebenundfünfzig Minuten von dem genannten Zeitpunkt.«

Picard lächelte, als sich Hoffnung in ihm ausbreitete. »Zweller teilt uns mit, dass er gefangen ist«, wandte er sich an Batanides. »Und er bittet uns um Hilfe.«

»Die Nachricht könnte ein Trick sein, Captain«, warnte die Admiralin. Sie sprach so leise, dass nur Picard, Data, Crusher und K'rs'lasel sie hörten. »Vielleicht gab Zweller seinen Identifikationscode bei der Folter preis.«

Picard sah erst Batanides an und dann Crusher. Er schüttelte den Kopf. »Aus irgendeinem Grund glaube ich nicht, dass die Rebellen zu einem solchen Mittel greifen würden. Und wenn Troi hier wäre … Bestimmt würde sie meine Einschätzung bestätigen.«

»Es müssen nicht unbedingt die chiarosanischen Rebellen hinter der Folter stecken, Captain«, gab Crusher zu bedenken. Sie brauchte nicht extra zu erwähnen, wen sie meinte.

Picard überlegte. Er hielt es durchaus für möglich, dass Zweller gefangen war und irgendwie die Möglichkeit gefunden hatte, die Nachricht zu senden. Andererseits: Die Mitteilung konnte auch von den chiarosanischen Rebellen oder den Romulanern stammen. Selbst Ruardhs Leute kamen als Absender infrage – vielleicht wollten sie Picard zu einer Intervention veranlassen.

Corey befindet sich auf dem Planeten. Außerdem Riker, Troi und wer weiß wie viele andere Überlebende der Slayton.

Picard traf eine Entscheidung und sie fühlte sich richtig an, schien unvermeidlich zu sein. Entschlossen schob er das Kinn vor und erteilte Anweisungen. »Mr. Data, bitte bestimmen Sie so genau wie möglich den Ort, den die Koordinaten betreffen.« Er sah zu dem blonden Offizier, der im rückwärtigen Bereich der Brücke die Anzeigen eines Sensordisplays kontrollierte. »Mr. Daniels, bereiten Sie den Shuttle Kepler für den Flug durch die Atmosphäre des Planeten vor. Ich brauche maximale Schildkapazität und so viel Feuerkraft wie möglich.« Er hoffte inständig, dass er nicht darauf zurückgreifen musste.

»Aye, Sir«, bestätigte Daniels und schritt zum Turbolift auf der Steuerbordseite.

Picard deutete auf Crusher. »Keine Streitmacht, Admiral. Nur Dr. Crusher und ich. Vielleicht gibt es an dem Ort auf der Nachtseite Verwundete, die unsere Hilfe brauchen.«

»Ich komme mit«, sagte Batanides in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Picard nickte und wusste, dass es Kämpfe gab, die er nicht gewinnen konnte. »Na schön. Aber wir müssen uns beeilen. Die Zeitangabe in der Nachricht bedeutet vermutlich, dass uns weniger als sechs Stunden bleiben.«

»Die genannte Sternzeit bezieht sich vielleicht auf die Möglichkeit, in den erwähnten Sicherheitsbereich einzudringen und die Personen zu transferieren, die an den genannten Koordinaten gefangen gehalten werden.« Data sprach mit einer Stimme, die an seine Sherlock-Holmes-Rolle erinnerte, in die er manchmal auf dem Holodeck schlüpfte.

»Genau das denke ich auch«, erwiderte Picard. »Mr. Data, Sie haben das Kommando bis zu meiner Rückkehr.« Der Androide nickte ernst und Picard folgte Crusher und Batanides zum Turbolift. Die Tür öffnete sich und die beiden Frauen traten ein.

»Captain«, ertönte eine Stimme von der Brücke. Crusher blockierte die Tür des Turbolifts, als sich Picard umdrehte.

»Mr. Hawk …«, sagte er. Der Lieutenant war hinter der Navigationsstation aufgestanden.

»Ich muss Sie sprechen, Sir. Unter vier Augen.«

Picard freute sich nicht gerade über die Störung, aber es gelang ihm, den Ärger aus seiner Stimme fern zu halten, als er erwiderte: »Wir haben nur wenig Zeit, Lieutenant.«

»Ich weiß, Sir«, sagte Hawk schnell. »Genau deshalb möchte ich Sie sprechen.«

Picard wusste, dass ein solches Verhalten für Hawk sehr ungewöhnlich war. Der junge Mann sah ihn an und sein Gesichtsausdruck ließ sich nicht deuten.

Offenbar geht es ihm um eine sehr wichtige Angelegenheit. Picard wandte sich an Crusher und Batanides, bat sie, im Shuttlehangar auf ihn zu warten.

Als sich die Tür des Turbolifts schloss, sah er wieder zu Hawk. »Ich gebe Ihnen zwei Minuten, Lieutenant. In meinem Bereitschaftsraum. Jetzt sofort.«

 

Hawk war tief in Gedanken versunken, als er Picard in den Bereitschaftsraum folgte. Seltsam, dass ich überhaupt keine Unsicherheit spüre. Er erinnerte sich an Tabors Hinweis darauf, dass es lehrreich für ihn gewesen war, Picard zu beobachten. Der Botschafter hatte betont, dass der Captain Vorschriften und Regeln manchmal recht großzügig auslegte, um bestimmte Ziele zu erreichen. Das schien auch diesmal der Fall zu sein.

Was noch wichtiger war: Von Tabor wusste Hawk, dass Zweller eine große Rolle bei den Ereignissen in diesem Sektor spielte. Deshalb vertrat Hawk den Standpunkt, dass der Commander unbedingt gerettet werden musste. Zweller mochte der Schlüssel sein zu allen Geheimnissen von Chiaros IV und der Geminus-Kluft.

Hawk fragte sich, ob er Picard von seinem Gespräch mit Tabor erzählen und auch auf Zwellers Verbindung zur Sektion 31 hinweisen sollte. Aber der Botschafter hatte die Notwendigkeit der Geheimhaltung so sehr betont, dass Hawk nicht einmal bereit gewesen war, mit Keru über diese Sache zu sprechen. Er fühlte sich an sein Wort Tabor gegenüber gebunden, auch und erst recht nach dem Tod des Botschafters.

Plötzlich hörte Hawk die Stimme des Captains. »Nehmen Sie Platz, Lieutenant«, sagte Picard – er saß bereits in seinem Sessel hinter dem Schreibtisch. Wann hatte er sich gesetzt? Hawk verfluchte sich für seine Unaufmerksamkeit.

»Danke, Sir«, sagte er, schluckte und nahm Platz.

»Was haben Sie auf dem Herzen, Mr. Hawk?«

Der junge Mann sammelte seinen ganzen Mut. »Ich möchte an der Rettungsmission teilnehmen, Sir«, sagte er geradeheraus.

Picard schwieg zunächst und musterte Hawk, während sein Gesicht ausdruckslos blieb. »Ich weiß Ihren Enthusiasmus zu schätzen, Lieutenant«, sagte er schließlich. »Aber ich glaube, Ihre Präsenz bei der Mission ist nicht unbedingt erforderlich.«

Hawk rutschte in seinem Sessel nervös zur Seite und beruhigte sich dann, indem er an den besten Rat dachte, den er in Hinsicht auf Starfleet-Angelegenheiten von seinem Partner bekommen hatte: Vertrau deinem Instinkt.

»Sir, darf ich ganz offen sprechen?«

»Natürlich, Lieutenant.«

»Bei allem Respekt, Sir, ich glaube, meine Präsenz ist nötig. Drei Kommando-Offiziere brechen mit dem Shuttle auf, einer von ihnen ein Arzt. Sie wollen durch eine sehr turbulente Atmosphäre fliegen, sich einer feindlichen Militärbasis nähern, in der eine Falle auf Sie warten könnte, und eine unbekannte Anzahl von Starfleet-Angehörigen retten, die sich in der Gewalt von Chiarosanern oder Romulanern befinden.«

Picard lehnte sich zurück und wölbte eine Braue.

»Selbst wenn Sie ein ausgezeichneter Pilot sind, Sir – Sie müssen sich darauf konzentrieren, alle sicher zum Shuttle zurückzubringen«, fuhr Hawk fort. »Admiral Batanides hilft Ihnen sicher dabei, aber was passiert mit dem Shuttle, während Sie die Gefangenen befreien? Wollen Sie Dr. Crusher für den Fall eines Angriffs zurücklassen? Oder soll die Admiralin an Bord bleiben?«

Er zögerte kurz und gab Picard Gelegenheit, über seine Worte nachzudenken. »Ich verstehe, warum Sie keine Sicherheitsteam mitnehmen – an Bord des Shuttles ist nicht genug Platz, wenn Sie mit den befreiten Starfleet-Angehörigen zur Enterprise zurückkehren wollen. Aber es gibt Platz für einen ausgezeichneten Piloten und Navigator. Sie kennen meine Leistungen, Sir. Sie wissen, dass ich zu den besten Piloten gehöre, die jemals die Enterprise geflogen haben. Deshalb glaube ich, dass meine Teilnahme an der Mission im Interesse aller liegt.«

Picard schwieg eine Zeit lang, während sein Blick auf Hawk ruhte. Das Herz klopfte dem jungen Mann bis zum Hals empor, als er versuchte, dem forschenden Blick des Captains nicht auszuweichen. Er hoffte, dass er es nicht zu weit getrieben hatte.

Schließlich deuteten Picards Lippen ein Lächeln an. »In spätestens zwanzig Minuten sind wir unterwegs, Mr. Hawk. Falls Sie sich vorher noch umziehen möchten, so haben Sie jetzt Gelegenheit dazu. Wegtreten.«

Hawk lächelte und erhob sich. »Danke, Sir.«

Aufregung erfasste ihn, als er den Bereitschaftsraum verließ und die Brücke betrat. So oder so – er befand sich jetzt auf Kollisionskurs mit Zweller, Sektion 31 und vermutlich allen Geheimnissen, die sich in der Geminus-Kluft verbargen.

Sein Puls raste und er wusste nicht, ob es an seiner Sorge oder Begeisterung lag.

Vermutlich an beidem.