Kapitel 14

 

Nach der Rückkehr zur Brücke blieb Picard zunächst im rückwärtigen Bereich des Kontrollraums stehen und beobachtete die Männer und Frauen bei der Arbeit. Offiziere saßen an den Konsolen und unterbrachen ihre Tätigkeit kaum, um die Präsenz des Captains zur Kenntnis zu nehmen. Riker saß so zuversichtlich im Kommandosessel, als wäre er dort geboren. Picard lächelte still vor sich hin und ließ sich von der Tüchtigkeit seiner Crew beruhigen. Dies war ihm weitaus lieber als die laute Ankündigung: »Captain auf der Brücke!«

»Bericht, Nummer Eins«, sagte er und näherte sich Riker.

»Geordi und Data sind fast damit fertig, den Computerkern des romulanischen Schiffes mit ihrem Angriffsplan zu programmieren«, erwiderte der Erste Offizier und stand auf. »Lieutenant Hawk trifft Startvorbereitungen.«

Picard nickte. »Gut. Wann kann die Mission beginnen?«

»In spätestens dreißig Minuten, vielleicht schon eher.«

Der Captain bemerkte, wie müde und erschöpft die Counselor wirkte. Wer gewährt ihr Zuspruch, wenn sie welchen braucht?, dachte er.

»Haben die Überlebenden der Slayton Sie beschäftigt gehalten, Counselor?«

Troi lächelte sanft. »Sie verlangen tatsächlich viel Aufmerksamkeit, Captain. Aber nach dem, was sie hinter sich haben, war das auch nicht anders zu erwarten. Abgesehen vom Argwohn Commander Zweller gegenüber ist ihre Moral ganz gut. Besorgt bin ich in erster Linie in Hinsicht auf unseren anderen Gast.«

Picard verstand sofort. »Grelun. Dr. Crusher wies mich darauf hin, dass er sich erholt hat. Verursacht er irgendwelche Probleme?«

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Troi und klang überrascht.

Riker lächelte schief. »Ich schätze, man kann viel leichter höflich sein, wenn niemand auf einen schießt.«

»Bestimmt handelt es sich nur um einen vorübergehenden Waffenstillstand, Will«, sagte Troi. »Protektor Ruardh findet sich wohl kaum damit ab, dass wir ihm politisches Asyl und somit Schutz gewähren. Vermutlich bekäme sie einen Schlaganfall, wenn sie das VIP-Quartier sähe, in dem wir ihn untergebracht haben.«

Riker zuckte mit den Schultern. »Große Leute brauchen eine große Unterkunft.«

»Halten Sie Ruardh für töricht genug, einen Angriff auf die Enterprise zu wagen?«, wandte sich Picard an Troi.

»Bestimmt ist sie zornig genug, Captain. Aber vermutlich ergreift sie direkte Maßnahmen erst, wenn das Ergebnis des Referendums offiziell bekannt gegeben worden ist.«

»Großartig.« Picard schüttelte den Kopf und hielt an seiner Entschlossenheit fest, Grelun vor den Leuten zu schützen, die ihn hinrichten wollten. »Wir müssen die Singularität neutralisieren und uns in eine sichere Position zurückziehen, beides innerhalb von etwa zweihundert Minuten.«

»Nach Ablauf dieser Zeit sind die Romulaner befugt, uns mit Gewalt aus dem Chiaros-System zu vertreiben«, sagte Riker.

Picard hörte, wie sich hinter ihm die Tür des Turbolifts öffnete. Er drehte sich um und sah, wie Batanides die Brücke betrat, gefolgt von Zweller. Der Captain versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, als er einen blauen Fleck am Unterkiefer des Commanders bemerkte. Beide waren sehr ernst und Zweller wirkte wie ein Kadett, den man gerade wegen einer Rauferei gemeldet hatte.

Picard wandte sich wieder an Riker. »Sie haben das Kommando, Nummer Eins. Ich übernehme die Leitung der Singularitätsmission.«

Riker runzelte die Stirn und Picard ahnte, was ihm durch den Kopf ging.

»Bitte keine Diskussion darüber, Will. Mr. Data und Mr. Hawk begleiten mich. Eine kleine Crew kann diese Sache am besten erledigen und sie ist mir zu wichtig, als dass ich sie jemand anders überlassen möchte.«

»Bei allem Respekt …«, sagte Riker. »Eine aus nur drei Personen bestehende Gruppe erscheint mir zu klein.«

Plötzlich neigte sich die Enterprise nach Steuerbord und zwang alle Personen auf der Brücke, sich am Geländer, an Sesseln und Konsolen festzuhalten. Alarmsirenen heulten, als Zweller ziemlich unsanft gegen ein Schaltpult stieß und Batanides auf die Knie sank. Heftige Erschütterungen warfen Troi aus ihrem Sessel und sie landete auf dem Hosenboden. Riker taumelte und stützte sich an einer Konsole ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Picard stand neben dem Kommandosessel und hielt sich an einer Armlehne fest. Kurzer Schwindel erfasste ihn. Er schüttelte den Kopf, um sich davon zu befreien, überlegte dann, ob Ruardh diesen Moment für einen Überraschungsangriff gewählt hatte.

Kurz darauf stabilisierte sich die Lage des Schiffes wieder und die Vibrationen hörten auf. Mit einem raschen Blick durch den Kontrollraum stellte Picard fest, dass niemand ernsthaft verletzt war.

»Nummer Eins, was ist gerade geschehen?«

Riker hielt sich noch immer an der Konsole fest. »Wir haben es mit einer weiteren Subraum-Verzerrungswelle zu tun bekommen, Captain. Diese war stärker als die vorherigen.«

»Was zum Teufel haben die Romulaner vor?«, fragte Picard, ohne eine Antwort zu erwarten. »Alarmstufe Gelb. Statusbericht, Lieutenant Daniels.«

Daniels sah auf die Anzeigen seiner Konsole. »Es gibt einige kleine Risse in der Außenhülle im Bereich der Decks elf und zwölf, Captain. Kraftfelder sind aktiviert und Reparaturgruppen bei der Arbeit. Es hätte weitaus schlimmer kommen können.«

»Was ist mit den Chiarosanern?«, fragte Picard. »Hat sich die Verzerrungswelle auf den Planeten ausgewirkt?«

»Offenbar nicht, Sir«, erwiderte Daniels. »Ich sondiere gerade das orbitale Kom-Netz. Es scheint zu funktionieren und überträgt keine planetaren Notrufe. Offenbar hat die Atmosphäre den größten Teil der Schockwelle absorbiert, und wenn es auf der Oberfläche zu irgendwelchen Auswirkungen kam, so betreffen sie allein die Nachtseite.«

»Ich rate davon ab, die Enterprise näher an die Singularität heranzubringen«, sagte Riker. »Wir wissen nicht, wann es zu neuen Verzerrungswellen kommt, und bei einer solchen Intensität stellen sie eine erhebliche Gefahr für das Schiff dar.«

»Bieten uns die Schilde keinen Schutz?«, fragte Troi.

Riker schüttelte den Kopf. »Subraum-Verzerrungen verändern die Struktur des Raums und die Enterprise beansprucht einen ziemlich großen Teil dieses Raums. Sie kann solchen Belastungen nicht so gut standhalten wie der Planet Chiaros IV.«

Batanides schritt zum Turbolift, wo Zweller mit verdrießlicher Miene auf sie wartete. In der Tür blieb die Admiralin stehen, wandte sich der Brücke zu und sah Picard an. »Commander Zweller und ich begeben uns zum Shuttlehangar.«

Picard nickte. »Es ist alles für euch bereit«, sagte er schlicht und sah, wie seine beiden ältesten Freunde im Turbolift verschwanden. Sie wollten zum Asteroidengürtel fliegen, um sich dort mit Koval zu treffen, dem Vorsitzenden des Tal Shiar. Bevor sich die Tür schloss, bemerkte Picard noch das zornige Blitzen in Batanides' Augen.

Er war froh, nicht in Zwellers Haut zu stecken.

 

Data und LaForge schafften es, die Startvorbereitungen des romulanischen Scoutschiffs zehn Minuten früher als geplant abzuschließen. Inzwischen war es zu drei weiteren Subraum-Verzerrungswellen gekommen, bei denen sich kein Muster erkennen ließ – die Romulaner im Innern des großen Tarnfelds schienen ihre Bemühungen zu verstärken. Vielleicht standen sie kurz davor, die gewaltige Energie der Subraum-Singularität für ihre Zwecke zu nutzen.

Oder sie verlieren die Kontrolle über das Phänomen, dachte Picard. Kein Wunder, dass sie uns gestern nahe legten, dieses Sonnensystem zu verlassen.

Der Shuttle Herschel mit Zweller und Batanides an Bord war bereits gestartet, als Picard den Hangar erreichte. Chiaros IV schien für die Föderation verloren zu sein und unter diesen Umständen konnte der Captain nur hoffen, dass es seinen alten Freunden gelang, einige nützliche Informationen von den Romulanern zu bekommen – und zu überleben.

An Bord des romulanischen Schiffes saß Data vor dem Cockpit auf dem Boden und bot einen sehr sonderbaren Anblick. Der hintere Teil seines Kopfes mitsamt dem Haar lag in einem nahen Sessel. Ganz deutlich waren das glänzende Kortenid und Duranium des Schädels zu sehen, auch die polychromatischen Lichter der positronischen Matrix, die das Bewusstsein des Androiden enthielt. Ein flaches, dünnes Kabel ging vom oberen Kopfsegment aus und reichte zu einem Dateninterface an der Wand.

Als Data lächelnd zu ihm aufsah, begriff Picard, dass er ihn angestarrt hatte. »Bitte entschuldigen Sie mein Erscheinungsbild, Captain. Das direkte Interface erlaubt es mir, weitaus schneller auf die Sicherheitssysteme der romulanischen Phalanx zuzugreifen, als es über die Kontrollen einer Konsole möglich wäre.«

Picard hatte Data nur selten teilweise demontiert gesehen. Der Anblick erinnerte ihn an die enorme Kluft, die seinen unorganischen Freund noch immer von der menschlichen Natur trennte, nach der er strebte. Organische Wesen hielten ihre körperliche Integrität normalerweise für eine Selbstverständlichkeit.

»Machen Sie weiter, Mr. Data«, sagte Picard, betrat das Cockpit und nahm dort in einem der beiden schmalen Sitze Platz. Im anderen saß Lieutenant Hawk und überprüfte die Bordsysteme.

Während des Flugs vom Rebellenstützpunkt zur Enterprise hatte Picard Gelegenheit gefunden, die Instrumente des Scoutschiffs besser kennen zu lernen und sich an die sonderbaren Symbole der graphischen Bedienungsoberfläche zu gewöhnen. Trotzdem war er froh, bei dieser Mission Hawk an seiner Seite zu wissen – der junge Mann verfügte nicht nur über großes Geschick als Pilot, sondern lernte auch schnell. Er erinnerte sich an die Aufmerksamkeit, mit der Hawk während des Flugs die Kontrollen beobachtet hatte.

Sie könnten es weit bringen, Mr. Hawk – wenn wir diese Sache lebend überstehen, dachte Picard.

Der Lieutenant wandte sich von seiner Konsole ab. »Darf ich Sie etwas fragen, Captain?«

Etwas schien den Lieutenant zu belasten. Picard nickte. »Natürlich. Ich bin ganz Ohr.«

»Wenn wir erfolgreich sind … Wie stehen die Chancen, die Subraum-Singularität jemals wiederzufinden?«

»Commander LaForge glaubt, dass sie über Jahrhunderte hinweg verschwunden bleibt, vielleicht sogar für immer.«

»Ich …« Hawk zögerte und fand dann den Mut, um fortzufahren. »Commander Zweller hat sich mit mir unterhalten, kurz nach der Einsatzbesprechung für die bevorstehende Mission.«

Picard ahnte, was den jungen Mann bewegte. »Er glaubt, dass wir die Singularität für eine zu große Gefahr halten, nicht wahr?«

»Meiner Ansicht nach hat sein Standpunkt durchaus etwas für sich«, sagte Hawk. »Darf ich ganz offen sein, Sir?«

»Natürlich.«

»Wir schicken uns an, das Phänomen zu zerstören – darauf läuft es hinaus. Steht das nicht im Widerspruch zu unserer allgemeinen Mission, Neues zu erforschen? Vielleicht gibt es in diesem Zusammenhang sogar einen Konflikt mit dem interstellaren Recht.«

»Das Schicksal des Universums steht auf dem Spiel – unter solchen Umständen bin ich gern bereit, meine Entscheidungen vor einem Kriegsgericht zu verantworten«, sagte Picard und fügte hinzu: »Ich nehme an, Commander Zweller hat Sie auch darauf hingewiesen, oder?«

»Ja, Sir.«

»Stimmen Sie ihm vorbehaltlos zu?«

Unbehagen zeigte sich in Hawks Miene. »Ich dachte nur … Nun, ich habe es für richtig gehalten, diese Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Wenn wir unseren Plan durchgeführt haben, gibt es kein Zurück mehr.«

»Das stimmt. Es gibt kein Zurück mehr.« Picard seufzte und blickte durchs Bugfenster des Scoutschiffes. »Lieutenant, ich verstehe Ihre Besorgnis und habe mir die gleichen Fragen gestellt wie Sie. Diese Mission widerspricht allen meinen Instinkten als Forscher. Wenn es die Möglichkeit gäbe, das Phänomen für wissenschaftliche Untersuchungen zu bewahren, so würde ich nicht zögern, sie zu nutzen. Aber das geht nicht. Die Gefahr ist einfach zu groß.«

»Wenn es gelänge, die Singularität zu stabilisieren und ihre Energie für friedliche Zwecke zu nutzen …«, sagte Hawk wie zu sich selbst.

»Lieutenant, kennen Sie die Schriften von Lord Acton?«

»›Macht korrumpiert‹«, zitierte Hawk und nickte. »›Und absolute Macht korrumpiert absolut.‹« Ein Lächeln entstand auf den Lippen des jungen Mannes.

»Seltsam«, sagte Picard. »Ich habe diesen Spruch nie für sehr komisch gehalten.«

Hawk wirkte ein wenig verlegen und sein Lächeln verschwand. »Bitte entschuldigen Sie, Sir. Es ist nur …« Er sprach nicht weiter.

Picard runzelte die Stirn. »Ja?«

»Commander Zweller meinte, Sie würden wahrscheinlich Lord Acton zitieren, wenn ich Sie auf diese Sache anspreche.«

Picard wollte eine scharfe Antwort geben, verzichtete aber darauf, als sein Insignienkommunikator piepte. »Crusher an Captain Picard.«

»Ich höre, Doktor.«

»Ich habe gerade erfahren, dass du an diesem Einsatz teilnimmst«, sagte die Ärztin in einem fast vorwurfsvollen Tonfall. »Ich halte es nicht unbedingt für eine gute Idee, dass du durchs Tarnfeld fliegst. Wir wissen nicht, welche Auswirkungen es auf dein künstliches Herz haben könnte.«

»Was hat das Tarnfeld mit meinem künstlichen Herzen zu tun?«

»Tarnvorrichtungen emittieren Tetryonen«, sagte Crusher. »Und das Energiefeld dort draußen verdankt seine Existenz Tausenden von Tarnvorrichtungen.«

»Warum haben mir die Tetryonen-Emissionen, die uns zum Scoutschiff führten, nichts ausgemacht?«

»Im Innern des Tarnfelds müssen wir mit einer sehr viel stärkeren Tetryonen-Strahlung rechnen«, entgegnete die Ärztin. »Sie könnte eine echte Gefahr für dich darstellen, Jean-Luc.«

Picard verabscheute solche medizinischen Diskussionen, vor allem dann, wenn sie in der Gegenwart von Mitgliedern seiner Crew stattfanden. »Verdammt, Beverly, ich bin kein Invalide.«

»Muss ich dich daran erinnern, was bei der lenarianischen Konferenz geschah?«, erwiderte Crusher und klang jetzt ungeduldig.

Daran erinnerte sich Picard nur zu gut. Die Lenarianer hatten sein künstliches Herz mit einem konzentrierten Tetryonen-Strahl deaktiviert – damals wäre er fast gestorben. Aber er wusste auch: Die Tetryonen-Emissionen im Innern des Tarnfelds konnten nicht annähernd so intensiv sein wie jener Strahl.

»Wenn du glaubst, dass ich unnötigerweise mein Leben aufs Spiel setze, so kannst du mich des Dienstes entheben«, sagte er scharf.

»Ich wünschte, das wäre möglich. Aber niemand weiß, welche Bedingungen im Innern des Tarnfelds herrschen. Ich wollte dich nur auf das Risiko hinweisen.«

Es gefiel Picard nie, daran erinnert zu werden, dass er sein Leben einem künstlichen Herzen verdankte. Und jetzt, nach dem Wiedersehen mit Batanides und Zweller, fand er noch weniger Gefallen daran. Immerhin steckte das artifizielle Organ nur deshalb in seiner Brust, weil seine beiden Freunde und er vor mehr als vierzig Jahren so dumm gewesen waren, sich auf einen Kampf gegen Nausicaaner einzulassen.

»Zur Kenntnis genommen«, sagte er und sprach ein wenig sanfter. »Und wenn es dich beruhigt, Beverly: Wir beabsichtigen nicht, länger als nur einige wenige Minuten im Innern des Tarnfelds zu bleiben. Picard Ende.«

Hawk räusperte sich. »Alle Bordsysteme funktionieren einwandfrei, Captain.«

»Haben Sie Ihre Bedenken inzwischen überwunden?«

»Ehrlich gesagt, nicht ganz«, erwiderte Hawk. »Ich halte es noch immer für eine furchtbare Verschwendung, die Singularität für immer in den Subraum zu verbannen. Aber offenbar bleibt uns nichts anderes übrig.«

Picard wusste Hawks Offenheit zu schätzen. »Dann lassen Sie uns aufbrechen«, sagte er und wandte sich den Navigationskontrollen zu.

»Die Tarnvorrichtung ist nach wie vor aktiv«, meldete Hawk und sah von den Anzeigen auf. Niemand würde bemerken, dass ein romulanisches Scoutschiff die Enterprise verließ.

Picard steuerte das kleine Raumschiff durch den großen Hangar und hinaus ins All. Wenige Sekunden später erschien die rote und ockergelbe Tagseite von Chiaros IV auf dem Bildschirm.

Der Kurs war bereits eingegeben. Picard wies Hawk an, das Impulstriebwerk zu aktivieren und mit Warp null Komma zwei zu fliegen. Es würde drei Stunden dauern, mit dieser Geschwindigkeit die etwa fünf Astronomischen Einheiten zurückzulegen, die Chiaros IV von der Subraum-Singularität trennten, aber wenn sie das energetische Niveau des Triebwerks erhöhten, riskierten sie eine Entdeckung durch die Romulaner. Selbst mit nur zwanzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit konnten sie das Tarnfeld einige Minuten vor Ablauf der Frist erreichen, die der Enterprise noch blieb. Und mehr Zeit als einige Minuten brauchte Data nicht.

Hawk bestätigte Picards Anweisung und beschleunigte auf Warp null Komma zwei. Chiaros IV schrumpfte rasch und verschwand in der ewigen Nacht der Geminus-Kluft. Das Scoutschiff glitt unter die Ekliptik und flog in Richtung Subraum-Singularität.

 

»Das Getränk Ihres Captains ist sehr schmackhaft«, wandte sich Grelun an Riker und Troi. »Der Mensch namens Örlgrei, der es erfunden hat, wird sicher wie ein Gott verehrt.«

Der Chiarosaner trank aus einem Becher, der in seiner Hand lächerlich klein wirkte, saß dabei mit bloßem Oberkörper auf dem Rand eines Bettes, das kaum geeignet zu sein schien, ein solches Gewicht auszuhalten. Riker stand in Greluns Nähe und stellte fest, dass er nach frisch gepflügter Erde und Flieder roch. Dieser Geruch und die strenge Miene des Chiarosaners erinnerten ihn aus irgendeinem Grund an Worf.

Am meisten beeindruckte ihn Greluns erstaunliche Regenerationsfähigkeit. Vor weniger als drei Tagen hatte er das Bewusstsein wiedererlangt und weitere Behandlungen mit dem dermalen Regenerator abgelehnt, aber sein Körper wies überhaupt keine Spuren von Disruptor-Verbrennungen mehr auf. An den muskulösen Armen zeigte sich sogar wieder dichte braune Behaarung.

Auch die stille Würde des Chiarosaners und das Feingefühl, das er beim Umgang mit dem Becher bewies, beeindruckten Riker – er hätte das Gefäß mühelos zwischen zwei Fingern zerbrechen können.

»Ich möchte Ihnen für die Gastfreundschaft danken, die Ihr Captain mir gezeigt hat«, sagte Grelun und setzte den Becher ab. »Dieses Quartier ist prächtig, obwohl ich sagen muss, dass sich der Boden besser als Schlafplatz für mich eignet. Das Bett bietet gerade genug Platz für ein chiarosanisches Kind.«

Er zeigte spitze, metallisch glänzende Zähne. Riker zweifelte kaum daran, dass es sich um das Äquivalent eines Lächelns handelte, aber trotzdem war er dankbar für die Präsenz der beiden Sicherheitswächter, die mit Phasergewehren im Korridor standen.

»Wir wollten es Ihnen so bequem wie möglich machen«, sagte Counselor Troi, die neben Riker stand. Sie schien sicher zu sein, dass der Chiarosaner keine Gefahr darstellte. Trotzdem spürte der Erste Offizier vages Unbehagen – Grelun hätte nicht einmal aufstehen müssen, um Deanna das Genick zu brechen.

Der Chiarosaner neigte verwundert den Kopf zur Seite. Riker fragte sich, ob es beim automatischen Translator zu einer Fehlfunktion gekommen war. Oder gab es in der chiarosanischen Sprache kein Wort für »bequem«?

»Wie dem auch sei …«, sagte Grelun. »Wir haben viel größere Probleme, Sie und ich. Ihr Captain riskiert derzeit sein Leben, um den Verrat der Außenwelt-Verbündeten meines Vorgängers zu beweisen.« Seine Stimme klang recht scharf bei diesen Worten.

Rikers Anspannung wuchs, als Grelun Picards geheime Mission erwähnte. Wie hatte er davon erfahren?

Zweller, dachte der Erste Offizier. Wir hätten ihn sofort unter Arrest stellen sollen, als er an Bord kam. Er versucht noch immer, uns gegeneinander auszuspielen.

»Sie waren gegen Falhains Entscheidung, die Hilfe der Romulaner anzunehmen«, sagte Troi. Es klang nach einer Feststellung, nicht nach einer Frage.

Grelun hob und senkte die Schultern, bewegte sie dabei an Stellen, wo menschliche Schultern keine Gelenke aufwiesen. »Ich wollte kein Bündnis mit irgendwelchen Außenweltlern. Aber Falhain kommandierte die Armee des Lichts und nach meiner Meinung fragte niemand. Während der Anführer lebte, bestand meine Pflicht darin, ihm zu folgen und allen seinen Anweisungen zu gehorchen.«

Grelun legte eine kurze Pause ein, griff nach dem Becher und trank einen Schluck. »Falhains vorzeitiger Tod änderte die Situation.«

Riker hatte nicht gesehen, auf welche Weise Falhain beim Kampf in der chiarosanischen Hauptstadt gestorben war – zu jenem Zeitpunkt war er bereits bewusstlos gewesen. Jetzt fragte er sich zum ersten Mal, ob Grelun Falhains Tod beobachtet oder vielleicht sogar arrangiert hatte. Wenn tatsächlich eine solche Schuld auf ihm lastete – gelang es ihm, sie vor Deanna zu verbergen?

»Was auch immer Sie von uns halten …«, sagte Riker langsam. »Wenn die Föderation aufgrund des Referendums gezwungen ist, sich von Ihrem Planeten zurückzuziehen, müssen Sie allein mit den Romulanern fertig werden.«

»Mein Volk kämpft gegen jeden, der unsere Welt zu erobern versucht«, erwiderte Grelun.

»Von einer Starbase der Föderation aus sind Sie wohl kaum in der Lage, einen solchen Kampf zu leiten«, sagte Riker. »Und dorthin müssen wir Sie bringen, wenn Ihr Gesuch um politisches Asyl in der Föderation ernst gemeint ist.«

Grelun straffte die Schultern, wirkte sowohl resigniert als auch trotzig. »Sollten Sie sich nicht um ein dringenderes Problem kümmern? Ruardhs Streitkräfte werden dieses Raumschiff angreifen, wenn Sie mich nicht ausliefern, bevor Sie das System verlassen. Die Protektorin ist unerbittlich und wird nicht kampflos zusehen, wie ich entkomme.«

Trois Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie plötzlich etwas verstand. »Sie möchten, dass wir Sie zu Ihrem Volk zurückbringen. Sie wollen Ruardhs Regime auch weiterhin Widerstand leisten.«

»Natürlich will ich das«, bestätigte Grelun. Drohend kniff er die Augen zusammen und seine Stimme wurde zu einem zornigen Knurren. Die Nackenhaare richteten sich auf und erinnerten Riker an eine kampfbereite Katze. »Halten Sie mich für einen Feigling?«

»Nein, gewiss nicht«, erwiderte Deanna ruhig und wich nicht zurück – es war sehr unklug, einem chiarosanischen Krieger gegenüber Furcht zu zeigen. »Ich sehe in Ihnen einen Anführer im Exil.«

Daraufhin entspannte sich Grelun wieder. Er beugte sich vor und sagte: »Sie könnten mein Exil beenden und mich in einer der abgelegenen Regionen absetzen, in die sich mein Volk zurückgezogen hat. Von dort aus wäre ich in der Lage, den Kampf gegen Ruardh fortzusetzen.«

»Soll das heißen, dass Ihr Asylantrag nur eine Taktik war?«, fragte Riker und wölbte dabei die Brauen.

Grelun verschränkte die muskulösen Arme. »Ein Kämpfer, der sich rechtzeitig zurückzieht, kann zu gegebener Zeit den Sieg erringen.«

Es gefiel Riker ganz und gar nicht, manipuliert zu werden. Andererseits wusste er auch, dass Grelun und seinen Leuten kaum eine andere Wahl blieb, als zum Mittel der List zu greifen. Er erinnerte sich an die schrecklichen Bilder des Blutbads, das Ruardhs Soldaten in den Rebellensiedlungen angerichtet hatte. An seiner Stelle hätte ich vielleicht die gleichen Entscheidungen getroffen, dachte er.

Trotzdem: Gewisse Regeln mussten beachtet werden.

»Ziehen Sie Ihren Asylantrag zurück, Grelun?«, fragte Riker.

Grelun musterte ihn wie ein Pokerspieler. »Welche Konsequenzen ergäben sich daraus?«

»Wir wären gesetzlich verpflichtet, Sie den chiarosanischen Behörden auszuliefern«, erwiderte Troi. Riker hörte den Kummer in ihrer Stimme – auch sie hatte die grässlichen Bilder gesehen.

Der Erste Offizier rechnete damit, dass Grelun mit neuerlichem Zorn reagierte, aber stattdessen zeigte sich Trauer im Gesicht des Chiarosaners. »Selbst nachdem ich Ihnen gezeigt habe, wie Ruardhs Mörder tausendfachen Tod brachten? Ihre eigenen Instrumente haben die Geister der niedergemetzelten Kinder aufgezeichnet!«

»Ihre Leute haben uns den Tricorder abgenommen, mit dem wir Daten in dem Dorf gesammelt haben«, sagte Riker. »Solange wir keine Gelegenheit bekommen, neue Aufzeichnungen anzufertigen, gibt es keinen klaren Beweis dafür, dass Ihre Anklagen gegen Ruardh der Wahrheit entsprechen. Was wiederum bedeutet, dass wir dem Auslieferungsgesuch stattgeben müssen.«

Nichts lag Riker ferner, als irgendjemanden dem sicheren Tod preiszugeben. Er hasste die gegenwärtige Situation und ärgerte sich immer mehr über die eigene Unfähigkeit, einen ehrenhaften Ausweg zu finden. Deannas Analyse war zweifellos korrekt: Entweder gewährten sie Grelun Asyl oder sie mussten ihn ausliefern. Sie hatten es mit einem klaren und offenbar unlösbaren Konflikt zwischen Gesetz und Moral zu tun. Trotzdem wollte Riker nicht die Hoffnung aufgeben, eine akzeptable dritte Alternative zu finden.

Data meint, dass ich nur selten auf traditionelle Weise nach der Lösung für ein Problem suche, dachte Riker. Vielleicht wird es Zeit für eine weitere unorthodoxe Lösung.

»Lassen Sie uns inoffiziell miteinander reden, Grelun«, sagte er laut. »Starfleet-Offiziere müssen Gesetze einhalten, die von souveränen, demokratisch gewählten Regierungen bestimmt werden. Ob Sie Ihre Welt verlassen möchten oder nicht: Wenn Sie den Asylantrag zurückziehen, müssen wir Sie sofort an Ruardh ausliefern. Sie ließen uns keine andere Wahl.«

Grelun schwieg eine Zeit lang und überlegte. »Dann ziehe ich den Antrag nicht zurück«, erwiderte er schließlich. »Aber ich werde eine Möglichkeit finden, zur Armee des Lichts zurückzukehren und mein Volk in die Freiheit zu führen.«

Troi wandte sich besorgt an Riker. »Können wir den Asylantrag noch immer in Betracht ziehen, Will? Grelun hat gerade zugegeben, dass er nur ein Mittel zum Zweck für ihn ist.«

»Vielleicht hast du mit deinen empathischen Sinnen einen solchen Eindruck gewonnen«, erwiderte Riker. »Aber ich bezweifle, ob ein Föderationsgericht so etwas für einen zulässigen Beweis hielte. Außerdem haben wir doch inoffiziell miteinander gesprochen, oder?«

Troi lächelte zufrieden.

»Sagen Sie mir, Commander Riker: Was wollen Sie unternehmen, wenn Ruardh angreift?«, fragte Grelun. »Und sie wird angreifen, das versichere ich Ihnen, vermutlich innerhalb der nächsten Stunde. Wenn das geschieht … Wollen Sie dann die Waffen erheben gegen eine ›souveräne Regierung‹, deren Gesetze Sie respektieren?«

Riker wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Einige Sekunden lang suchte er nach geeigneten Worten. »Dem Captain gelingt es bestimmt, auf dem Verhandlungsweg eine Vereinbarung zu erreichen, mit der alle Beteiligten leben können.«

»Falls er seine derzeitige Mission überlebt«, sagte Grelun ernst.

»Jean-Luc Picard ist ein sehr einfallsreicher Mann«, erwiderte Riker. »Und er wird von zwei ausgezeichneten Offizieren begleitet.«

»Ich hoffe, das genügt«, sagte Grelun.

Die Stimme von Lieutenant Daniels ertönte aus dem Lautsprecher von Rikers Insignienkommunikator. »Brücke an Commander Riker.«

»Ich höre, Lieutenant.«

»Sie wollten benachrichtigt werden, wenn das Scoutschiff des Captains den Rand des romulanischen Tarnfelds erreicht, Sir. In knapp zehn Minuten ist es soweit.«

»Ich bin unterwegs«, sagte Riker und entschuldigte sich bei Grelun.

 

Data saß reglos vor dem Cockpit des Scoutschiffs und seine goldenen Augen blickten ins Leere. Er war direkt mit den Bordsystemen verbunden, blickte mithilfe der Sensoren ins All und stellte fest, dass sich das Tarnfeld direkt voraus befand. Es dauerte nicht mehr lange, bis die kritischste Phase der Mission begann.

Er hörte den Captain sprechen – seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass man uns entdeckt hat, Mr. Hawk?«

»Negativ, Captain. Die Frequenz unseres Tarnfelds ist noch immer den von der Sonde übermittelten Daten angepasst. Die Abweichungen sind nicht der Rede wert.«

»Gut«, sagte Picard und es klang erleichtert. »Mr. Data, offenbar steht uns nichts im Weg. Was hoffentlich bedeutet, dass auch Ihnen nichts im Weg steht.«

Data verringerte den Output seines Gefühlschips. Nervosität war eine eher störende Emotion.

»Kontakt mit dem Tarnfeld in fünfzehn Sekunden«, sagte Hawk. Data hörte, wie der Lieutenant mit dem Countdown begann. Er bemerkte eine leichte Vibration in Hawks Stimme, die auf Anspannung hinwies, und er verstand den Grund dafür. Wenn es den Romulanern doch irgendwie gelungen war, die Frequenz des riesigen Tarnfelds zu verändern, seit die von der Enterprise ausgeschickte Sonde ihre letzten Daten übertragen hatte, so musste das Scoutschiff sofort auffallen. In dem Fall würde innerhalb weniger Sekunden ein Warbird zur Stelle sein, was ein abruptes Ende der Mission bedeutete. Und die Zeit genügte nicht für einen zweiten Versuch.

Data hatte die eigene Wahrnehmung so sehr verstärkt und erweitert, dass er die Billionen von einzelnen Informationszyklen bemerkte, zu denen es pro Sekunde in seinem positronischen Gehirn kam. Jede einzelne dieser Sekunden schien sich auf die Länge von Stunden zu dehnen, was den Androiden in die Lage versetzte, sich mit dem größten Teil der elektronischen Bibliothek des Scoutschiffes zu befassen, die romulanische Literatur, Musik und Dramen enthielt. Mit einem winzigen Bruchteil seiner positronischen Kapazität hörte er, wie Hawk den Countdown fortsetzte, jedes Wort durch eine lange Pause vom nächsten getrennt.

»Vier.«

Zweitausendeinundsiebzigmal ging Data den Missionsplan durch, analysierte gleichzeitig die von Blaise Pascal im siebzehnten Jahrhundert auf der Erde entwickelten Gleichungen der Wahrscheinlichkeitstheorie sowie die gesammelten Sonette des vom Planeten Kanopus stammenden Phineas Tarbolde.

»Drei.«

Data korrigierte eine fast nicht feststellbare energetische Fluktuation im Triebwerk – er führte sie auf die Nähe des Tarnfelds zurück – und befasste sich mit Kurt Gödels Axiom, das den rekursiven Nachweis mathematischer Systeme negierte.

»Zwei.«

Einige Dutzend weitere Male überprüfte er den Missionsplan, während er ein komplexes, kontrapunktisches Interludium für Streichinstrumente komponierte, basierend auf großen Primzahlen und den mathematischen Konstruktionen von Leonardo Fibonacci und Jean Baptiste Fourier. Gleichzeitig entnahm er dem Computerkern des Scoutschiffes die Regeln für ein multidimensionales romulanisches Strategiespiel, das große Ähnlichkeit mit dem meditativen vulkanischen Kal-toh aufwies.

Konzentrier dich, rief sich Data selbst zur Ordnung.

»Eins.«

Beim Kontakt mit dem Tarnfeld sendete Data einer der Bojen in der romulanischen Phalanx einen schlichten Handshake-Code und wartete dann geduldig auf eine Antwort. Nach einer Ewigkeit – sie dauerte einen kleinen Sekundenbruchteil – traf das Bestätigungssignal ein: Die Boje akzeptierte ihn als Teil der eigenen Programmierung. Er hatte den Fuß in der Tür, um Geordis Worte zu benutzen.

Data gestattete es seinem beschleunigten Bewusstsein, visuellen Input in Echtzeit aufzunehmen. Er beobachtete, wie die romulanische Phalanx auf dem Bildschirm erschien, zusammen mit einigen Dutzend der nächsten Bojen. Im immer noch fernen Zentrum der Phalanx wirkte die Akkretionsscheibe der Subraum-Singularität wie ein böse starrendes rotes Auge. Zwar fühlte sich Data versucht, den Anblick noch etwas länger zu bewundern, aber er deaktivierte den visuellen Input und widmete die betreffenden Ressourcen wieder dem Missionsziel. Erneut schien sich die Zeit für ihn zu dehnen.

»Ich sehe einige der näheren Tarnbojen«, sagte Picard. »Es müssen Tausende sein. Wirklich erstaunlich.«

Data spürte einen Anflug von Neid, denn die sensorischen Informationen, die er derzeit empfing, ließen sich nicht mit Sehen vergleichen. Etwa eine Femtosekunde lang wünschte er sich, das zu beobachten, was sich den Blicken der beiden Menschen im Cockpit darbot. Er fragte sich, ob die abstrakten polygonalen Strukturen und festen geometrischen Formen, die sich jetzt seinem Bewusstsein aufdrängten, dem Universum entsprachen, das Geordi LaForge wahrnahm. Er schob diesen Gedanken beiseite, um sich später eingehender damit zu befassen.

Erneut widmete sich Data ganz seiner Aufgabe, schickte einen beträchtlichen Teil seines positronischen Potenzials durchs Kommunikationssystem des Scoutschiffs, ließ es leeres All durchqueren und von der Boje aufnehmen, mit der er verbunden war. Dort erreichte er ein Labyrinth aus hyperschnellen Subraum-Kanälen und positronischen Wegen, die die Boje mit Tausenden von anderen verbanden. Direkt vor ihm flackerten Dutzende von Blöcken aus kantigem romulanischem Text und jeder Einzelne scrollte mit hoher Geschwindigkeit. Data wusste, dass nur er den ideographischen Code wahrnahm. Er las, verarbeitete und analysierte ihn, prägte sich alle Bytes ein, während sie wochenlang durch sein beschleunigtes Selbst unterwegs zu sein schienen. Langsam leitete er einen noch größeren Teil seiner positronischen Ressourcen durch die Subraum-Verbindung mit dem romulanischen Sicherheitsnetzwerk, wodurch sein artifizieller Metabolismus fast ganz zum Stillstand kam.

»Beginnen Sie mit Phase Eins, Mr. Data.« Picard sprach so langsam wie die Kontinentalverschiebung. Der Androide verglich seine Worte mit viele Jahrtausende alten Scherben, die mühsam zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt werden mussten.

»Bestätigung«, sagte Data und öffnete sich noch weiter dem romulanischen Netzwerk. Er war jetzt gezwungen, mehr kognitive Ressourcen zu verwenden als vorher, unterbrach einige weitere Hintergrundaktivitäten und konzentrierte sich auf das sich ständig verändernde Labyrinth aus visuellen Symbolen vor seinen subjektiven »Augen«. Es war keine sehr große Herausforderung. Data brauchte nur bestimmte romulanische Algorithmen zu wiederholen und spezifischen elektronischen Pfaden zu folgen, die Geordi und er während der gründlichen Untersuchung des Computerkerns im Scoutschiff entdeckt hatten. Allerdings erforderte diese Tätigkeit immer mehr Aufmerksamkeit und in dem Androiden verdichtete sich ein Empfinden, das Kinästhesie ähnelte. Der Informationsstrom, in dem er schwamm, schien einen physischen Aspekt zu gewinnen und zu einer Erweiterung seines eigenen Körpers zu werden.

Data tarnte einige seiner Subroutinen als Wartungsprogramme und glitt in einen Informationskanal, der normalerweise für romulanische Programmierer und Reparaturtechniker reserviert war. Eine quälend langsame Suche – sie dauerte knapp eine halbe Sekunde objektiver Zeit – brachte ihn zu einem andere Subsystem, das es dem technischen Personal der Romulaner erlaubte, die Frequenz des Tarnfelds zu verändern. Sofort begann er mit subtilen Modifikationen des Programmcodes in einigen besonders wichtigen isolinearen Chips der Phalanx. Gleichzeitig passte er das Tarnfeld des romulanischen Scoutschiffs den Veränderungen an.

Der Gefühlschip vermittelte Data die Empfindung einer freudigen Erregung. Wenn alles nach Plan lief, würden die Verteidigungssysteme der Phalanx die eigenen Strukturen bald für externe Invasoren halten. Die betreffenden Schaltkreise wurden fast sofort mit falschen Informationen überladen, was Data die Möglichkeit gab, den zentralen Wartungskanal zu benutzen und dem Abschirmungssystem einen »Abort«-Befehl zu übermitteln. Das führte sofort zur Aktivierung aller für den Notfall bestimmten Programme, mit dem Ergebnis, dass die Singularität für immer im Subraum verschwand.

Phase Eins der Mission war beendet. Data schwamm durch den Informationsstrom und sein kybernetisches Selbst kehrte zu Zeitbegriffen zurück, die mit der Wahrnehmung von Captain Picard und Lieutenant Hawk kompatibel waren.

»Haben Sie irgendwelche romulanischen Sicherheitsprogramme bemerkt, Mr. Data«, fragte Picard.

Data lächelte triumphierend. »Nein, Sir. Und meine Veränderungen des Verteidigungssystems breiten sich im ganzen Netzwerk aus. In vier Komma drei Sekunden sollte es völlig lahm gelegt sein.«

»Ausgezeichnet, Mr. Data. Beginnen Sie mit Phase Zwei.«

Sofort kehrte der Androide in den Informationsstrom zurück und lenkte sein Bewusstsein durch die Wartungskanäle. Von dieser Perspektive aus gesehen schwoll der Fluss der Bytes im angrenzenden Sicherheitsnetz immer mehr an und wurde zu einem reißenden Strom aus sich selbst multiplizierenden und widersprüchlichen Informationen, die jede bewusste Entität mitgerissen und hoffnungslos verwirrt hätten. Zum Glück herrschte in den Wartungskanälen relative Ruhe.

Mit einem kybernetischen Flüstern übergab Data den »Abort«-Befehl der Informationsschlange des zentralen Wartungskanals. Nachdenklich beobachtete er, wie sich das Ergebnis seiner Manipulationen immer mehr ausbreitete. Erst Dutzende von Bojen und dann Hunderte leiteten die Anweisung weiter. Das »Abort«-Protokoll arbeitete sich in Richtung des Abschirmungssystems der Singularität vor, bewegte sich erst in einer langsamen Spirale und wurde dann immer schneller.

Bisher läuft alles nach Plan, dachte Data.

Dann sagte eine der Bojen: Nein. Sofort lehnten zwei andere den »Abort«-Befehl ab. Eine fast trotzige Ablehnung wuchs und setzte sich durch das Netzwerk fort. Die nach innen gerichtete Spirale wurde langsamer, hielt an …

Und kehrte nach außen zurück.

*Du gehörst nicht hierher*, verkündete eine unsichtbare Präsenz hinter/über/unter/zwischen/in ihm.

»Oh, oh«, sagte Data.

 

Der Warbird Thrai Kaleh deaktivierte seine Tarnvorrichtung und näherte sich einem zerklüfteten, leblosen Asteroiden am Rand des Sonnensystems. In dieser Entfernung war aus der hell leuchtenden chiarosanischen Sonne ein matter Fleck geworden.

Koval stand im Kontrollzentrum des Raumschiffs und beobachtete den mit Relativgeschwindigkeit null im All schwebenden Föderationsshuttle. Die von den Sensoren im Innern des Asteroiden aufgezeichneten Daten deuteten darauf hin, dass der Shuttle vor fast drei Stunden am Rand des Sonnensystems den Warptransfer unterbrochen hatte. Koval zweifelte nicht daran, dass sich Commander Cortin Zweller an Bord des kleinen Raumschiffs befand. Der Agent von Sektion 31 erwartete sicher von ihm, dass er sich an seinen Teil der Vereinbarung hielt.

Dagegen hatte Koval nichts einzuwenden. Eine Liste von Tal-Shiar-Agenten, die ohnehin ersetzt werden sollten, war nicht annähernd so viel wert wie der wahre Schatz des Chiaros-Systems. In wenigen Minuten würde die Regierung des Planeten das Resultat des Referendums bekannt geben und sicher fiel es zugunsten des Romulanischen Reiches aus. Unter diesen Umständen war Koval durchaus bereit, den Erwartungen von Commander Zweller zu genügen. Großzügigkeit nach einem entscheidenden Sieg kostete wenig.

Trotz der Einwände seines Zenturio ließ er sich selbst und zwei einfache Soldaten in das kleine Habitatmodul im Innern des Nickel-Eisen-Asteroiden beamen. Wenige Augenblicke später materialisierte Koval in einem kleinen, aber gut ausgestatteten Zufluchtsort des Tal Shiar; die beiden Wächter standen hinter ihm. Auf der anderen Seite erschienen Commander Zweller und eine Frau, die silbergraues Haar hatte und eine Starfleet-Uniform trug. Koval und Zweller begrüßten sich und der Mensch stellte die Frau als seine Assistentin Marta vor.

Koval bemerkte die Rangabzeichen eines Lieutenants am Kragen der Frau und nickte ihr höflich zu. Ihr Gesicht erschien ihm vertraut, doch er brauchte einige Sekunden, um sie als eine wichtige Admiralin des Starfleet-Geheimdienstes zu erkennen. Batanide, dachte er. Oder Batanides? Sie gehörte zu den Geheimdienst-Repräsentanten der Föderation, deren Dossiers er kannte. Koval vermutete, dass es ihr nicht gefallen hätte, von ihrem Bekanntheitsgrad zu erfahren. Wahrscheinlich hoffte sie, mit den Rangabzeichen eines Lieutenants über ihre wahre Identität hinwegtäuschen zu können.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Zweller und bemerkte eine leichte Verfärbung am Unterkiefer. »Ihre Flucht von den Rebellen scheint gefährlicher gewesen zu sein als ich dachte, Commander«, sagte Koval. »Es erstaunt mich, dass die Föderationsärzte nicht schon vor Tagen Ihre Verletzungen heilten.«

Zweller tastete nach den Resten des blauen Flecks und lächelte. »Oh, Sie meinen das hier. Es geschah während des Flugs zum Asteroiden. Eigentlich ist es eine amüsante Geschichte.« Er zögerte kurz und warf seiner »Assistentin« einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich bin gefallen. Marta, bitte denken Sie daran, die Gravitationsgeneratoren des Shuttles untersuchen zu lassen, sobald wir zurück sind.«

»Ja, Sir«, sagte die Frau und ihre Stimme klang fast mürrisch.

Menschen, dachte Koval. Sie behaupten, wir seien schwer zu verstehen.

Der Romulaner trat zu einem Tisch in der Mitte des Raums und griff nach einer Karaffe, die eine trübe, aquamarinblaue Flüssigkeit enthielt. Er gab ein wenig davon in drei Gläser und hob seins.

»Auf die Zukunft der Geminus-Kluft und des Chiaros-Systems«, sagte Koval und leerte sein Glas. Mit einem angenehmen Brennen rann ihm die Flüssigkeit durch die Kehle.

Zweller nahm die beiden anderen Gläser und reichte eins der Frau. »Darauf stoße ich gern an«, sagte er und trank, ohne zu zögern. Die Schärfe des Getränks schien der Frau nicht sonderlich zu gefallen, aber sie leerte ihr Glas ebenfalls, wenn auch langsamer.

»Es ist schon eine Weile her, seit ich zum letzten Mal nicht repliziertes Kali-fal getrunken habe«, sagte Zweller. Er lächelte, doch sein Blick blieb hart.

Koval musterte ihn kühl und kam direkt zur Sache. »Ihnen dürfte klar sein, dass die Präsenz der Föderation auf Chiaros IV zu Ende geht, Commander. Die meisten Bezirke haben bereits die Ergebnisse in ihren Wahlkreisen übermittelt. In spätestens zehn Minuten wird Protektor Ruardh die Entscheidung ihres Volkes bekannt geben, sich dem Romulanischen Reich anzuschließen.«

»Da haben Sie vermutlich Recht«, erwiderte Zweller.

»Dann sollten wir unsere Transaktion so schnell wie möglich hinter uns bringen«, warf die Frau ein.

Koval hob die linke Hand, mit der Innenfläche nach oben, und einer der beiden Soldaten trat vor, legte einen Datenchip darauf. Der Vorsitzende des Tal Shiar wollte ihn gerade Zweller reichen, als der Kommunikationschip in seinem Unterkiefer vibrierte. Der winzige Lautsprecher leitete den Ton durch die Schädelknochen und deshalb hörte nur Koval die dringende Mitteilung von Subzenturio V'Hari.

Ich höre, Thrai Kaleh, sagte Koval lautlos. Nur fast unmerkliche Bewegungen der Unterkiefermuskeln wiesen darauf hin, dass er ein heimliches Gespräch führte.

»Es wurde der Versuch unternommen, den Kern zu sabotieren, Vorsitzender Koval«, sagte V'Hari emotionslos. »Die Sicherheitsprogramme sind bereits dabei, den Eindringling zu isolieren und zu neutralisieren.«

Bestätigung, V'Hari. Halten Sie mich auf dem Laufenden.

Koval musterte Zeller und Batanides aus zusammengekniffenen Augen. Er wusste von dem vergeblichen Versuch der Botschafterin T'Alik, Picard zu einem vorzeitigen Verlassen der Geminus-Kluft zu veranlassen. Vermutlich steckte Captain Picard hinter dem Anschlag auf den Kern. Das Scoutschiff, von dem er angeblich nichts wusste – obgleich er es für die Flucht vom Stützpunkt der Armee des Lichts verwendet hatte –, gab dem Kommandanten der Enterprise die Möglichkeit, einen solchen Angriff durchzuführen.

Aber er wusste auch, dass Picard damit nicht in der Lage war, die Rokhelh zu besiegen, die supermoderne künstliche Intelligenz, die alle Systeme des Kerns überwachte. Koval kannte nichts, dass sie überwältigen konnte.

»Vorsitzender Koval?«, fragte Zweller, nachdem es einige Sekunden lang still gewesen war. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Koval hielt noch immer den Datenchip in der Hand und musterte die beiden Menschen. Ihre Mienen verrieten nichts. War Zweller an dem Sabotageversuch beteiligt? Oder ging der Angriff allein auf die Initiative von Captain Picard zurück?

Koval gelangte zu dem Schluss, dass die Rokhelh jene Fragen bald überflüssig machen würde. Er reichte Zweller den Chip und daraufhin lächelte der Mensch mit offensichtlicher Zufriedenheit.

»Wenn Sie zur Enterprise zurückkehren …«, sagte Koval ruhig. »Teilen Sie Captain Picard mit, dass er sich auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen hat. Vorausgesetzt natürlich, er überlebt seine gegenwärtigen Bemühungen.«

Voller Genugtuung bemerkte Koval, wie Zwellers Lächeln ein wenig verblasste. Er weiß also tatsächlich etwas, dachte er und unterdrückte ein triumphierendes Schmunzeln.

Ruckartig setzte der Vorsitzende des Tal Shiar sein Kali-fal-Glas auf den Tisch. »Die Föderation ist in der Geminus-Kluft nicht mehr willkommen«, sagte er und ließ seine Worte drohend klingen. »Wenn Protektor Ruardh das Ergebnis des Referendums bekannt gibt, täten alle Menschen in diesem Sonnensystem gut daran, möglichst schnell ins stellare Territorium der Föderation zurückzukehren.«