5 · Hans Kurz ·
Knecht Ruprecht

Conny war verzweifelt. Er hatte den Nikolaus überfahren. Der Mann im roten Mantel mit dem langen weißen Bart lag vor ihm im Schnee. Und das Weiß um ihn herum war genauso rot wie sein Mantel. Wie hatte das nur passieren können? Er überlegte kurz, ob er einfach weiterfahren sollte. Doch dann regte sich sein Gewissen. Hinzu kam die Gewissheit, dass er als Unfallflüchtiger nur zu verlieren hatte. Konrad Wich-Müller-Knoten – so sein voller Name, der hier im nördlichen Frankenwald so wenig außergewöhnlich war wie Minustemperaturen und dichtes Schneetreiben Anfang Dezember – griff zu seinem Handy. Den weibischen Rufnamen Conny hatte er in seiner Schulzeit in den späten Sechzigern verpasst bekommen, und er war ihn seither nicht mehr losgeworden. So ein traditioneller Kunner war seinen Schulkameraden damals einfach nicht cool genug erschienen.

Noch während sein Mobiltelefon den Polizeinotruf wählte, machte der Akku schlapp. Kein Wunder bei der Kälte. Obwohl die Scheibenwischer und das Gebläse auf Hochtouren gelaufen waren, hatte er auf der Strecke von Nordhalben nach Tschirn kaum noch was gesehen. Den Berg hinter der Zweiwassermühle hoch war der Schnee schon auf der Straße liegen geblieben. Conny hatte zwar bereits vor zwei Wochen die Winterreifen aufziehen lassen. Aber nach der Spitzkehre, als es in Serpentinen wieder steil durch den Wald hinunterging, hatten auch die nicht mehr geholfen. In einer Kurve, in der sein Fernlicht direkt in eine Schneewehe traf und die Reflexion ihn blendete, war er voll in die Eisen gestiegen. Der Mitsubishi war ins Schleudern gekommen und hatte sich nach einer Umdrehung um sich selbst frontal in die Schneewehe gebohrt.

Nach einer Schrecksekunde war Conny ausgestiegen, um den Schaden an seiner Kühlerhaube zu besehen. Der Stoßfänger war nur ein klein bisschen verbeult. Aber der Bart vom Nikolaus klebte dran. Und an dem dessen zertrümmerter, blutroter Schädel. Das war also der dumpfe Doppelschlag gewesen.

Was sollte er tun? Warten, bis jemand vorbeikam? Doch in dieser Nacht würde sicher nicht mehr viel los sein hoch oben im Nordwald. Er musste wohl mit dem Auto runter nach Tschirn, um Hilfe zu holen. Das heißt, hier kam Hilfe zu spät. Und den Geschädigten informieren, das war ja auch nicht mehr möglich. Er sah noch mal hin. Der Mann war ganz eindeutig tot. Conny fröstelte. Aber schließlich war es ein Unfall gewesen. Was konnte er dafür, dass sich der Nikolaus bei diesem Wetter ausgerechnet hier herumtrieb? Eine gute Frage, dachte Conny. Kilometerweit gab es hier keine Ansiedlung. Er kletterte wieder hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang nicht mehr an. Endlich kam er auf die Idee, das Licht auszuschalten, das sowieso nur den toten Nikolaus erhellte. Doch auch danach ging nichts.

Conny überlegte. Zu Fuß runter nach Tschirn und irgendjemand aus dem Bett klingeln, damit der die Polizei informierte? Es war dunkel. Es waren einige Kilometer. Er müsste entlang der Straße gehen. Und dann kam womöglich doch noch ein Auto – und es würde ihm genau wie dem Nikolaus ergehen. Conny beschloss dazubleiben. Bestimmt würde im Laufe der Nacht noch ein Auto hier auftauchen und vielleicht sogar anhalten. Er wollte allerdings nicht im Freien warten. Also blieb er im Auto sitzen und schaltete – Batterie hin oder her, hier aus dem Graben würde er sowieso nicht mehr allein rauskommen – das Radio an. Der Verkehrsfunk meldete Behinderungen durch Schneeglätte auf der A9 bei Hof und weiter oben in Thüringen, ansonsten störungsfreien Verkehr auf Bayerns Straßen. Von der Staatsstraße zwischen Nordhalben und Tschirn war nicht die Rede. Aber es wäre jetzt auch zu spät gewesen, und er hätte sowieso nicht darauf geachtet.

Es schneite unaufhörlich. Durch die Windschutzscheibe und das Fenster auf der Beifahrerseite war schon nichts mehr zu erkennen. War eh schon lange dunkel draußen. In den Nachrichten war die Rede davon, dass in Brüssel eine neue EU-Lebkuchenverordnung geplant wurde, was die fränkischen Bäcker auf die Barrikaden trieb. Der bayerische Einzelhandel war mit dem Auftakt zum Weihnachtsgeschäft zufrieden. Ganz am Schluss dann die Meldung, dass am Nachmittag die Sparkasse in Tschirn überfallen worden war – von einem bewaffneten Bankräuber in einem Nikolauskostüm. Der Mann habe mit scharfer Munition um sich geschossen. Es wurde vor ihm gewarnt.

Während im BR gleich darauf der Wetterbericht »zunehmenden Schneefall im Laufe der Nacht, vor allem im nördlichen Franken« ankündigte, fingerte Conny aufgeregt am Radio herum. Er suchte den Lokalsender. Vielleicht brachten die mehr. Als er ihn schließlich eingestellt hatte, verkündete ein gut gelaunter Moderator, wo zwischen Coburg, Kronach und Hof gerade die Glühweinsause abging. Danach gab’s Musik. Conny schaltete entnervt aus. Die Sache hier war klar: Der Nikolaus in der Schneewehe hatte die Sparkasse in Tschirn ausgeraubt und war dann hoch in den menschenleeren Wald geflüchtet. Bis der Mitsubishi kam. Ob er wohl das Geld noch bei sich hatte? Im Radio war nicht die Rede davon gewesen, wie viel er erbeutet hatte. Nicht mal, dass er überhaupt etwas erbeutet hatte.

Konrad Wich-Müller-Knoten verspürte eine gewisse Neugier. Sie war aber immer noch von seinem Schuldgefühl überlagert, dass er einen Menschen totgefahren hatte. Nun ja, einen Bankräuber. Aber machte das die Sache weniger schlimm? Das war schließlich keine Entschuldigung.

Er wollte aussteigen und noch mal nachschauen. Als er die Fahrertür einen Spalt öffnete, sah er gelbe Lichtblitze zucken. Endlich kamen sie. Doch der Fahrer nahm ihn offensichtlich gar nicht wahr. Das Räumfahrzeug raste vorbei und schleuderte den Matsch von der Straße gegen das Auto. Dann war es wieder dunkel. Conny hatte Mühe, überhaupt noch aus dem Wagen zu kommen. Er musste sich schon ziemlich anstrengen, um die Türe aufzudrücken.

Bei seinem Schleuderausflug war er ein ganzes Stück von der Straße abgekommen und zwischen die Bäume gerutscht. Kein Wunder, dass der Fahrer des Räumfahrzeugs seinen Wagen nicht gesehen hatte. Und jetzt, mit der Ladung Schnee drauf, würde ihn schon gleich gar kein Vorbeikommender mehr entdecken.

Das änderte die Situation. Conny musste sich bemerkbar machen. Oder doch noch auf den Weg hinab ins Dorf. Oder … Er griff nach der Taschenlampe in seinem Handschuhfach.

Vorsichtig näherte er sich dem Nikolaus. Neben dem linken Vorderrad stieß er mit seinem Stiefel im Schnee gegen etwas, das nachgab und wegrutschte. Als er dorthin leuchtete, sah er zunächst ein Bündel Geldscheine und dann die prallvolle Einkaufstüte. Er griff nach den Scheinen. Das waren mindestens zwanzig Fünfziger. Wenn er das auf die volle Tüte umrechnete … Ohne genauer nachzuschauen, stopfte er das Geldbündel in die Plastiktasche und legte diese auf den Fahrersitz. Dann näherte er sich wieder dem Nikolaus.

Obwohl der, beziehungsweise der Teil von ihm, der zwischen Auto und Schneewehe hervorragte, jetzt fast ganz mit Neuschnee bedeckt war, bot er immer noch keinen schönen Anblick. Aber Conny war nicht geschockt. Als Feuerwehrmann war er früher oft zu schweren Unfällen gerufen worden. Bei näherem Hinsehen stellte er nun auch fest, dass der Schädel wahrscheinlich gar nicht von seinem Auto zertrümmert worden war. Der Mitsubishi hatte den Nikolaus eher im Brustbereich erwischt und zerquetscht. Mit seinem Jackenärmel streifte Conny den mittlerweile mehrere Zentimeter hohen Schnee vom Kopf des Toten. Und im Licht der Taschenlampe sah er es genau: Auf der einen Seite war ein kleines dunkles Loch, auf der anderen ein sehr großes. So etwas kannte er zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber aus unzähligen Krimis. Der Nikolaus war erschossen worden.

Conny verfiel nicht in Panik. Dass er am ganzen Leib zitterte, lag daran, dass er nur eine leichte Windjacke übergezogen hatte, als er noch schnell bei der Sparkasse in Tschirn Geld holen wollte. Davon hatte er nun mehr bekommen als erwartet. Er stieg wieder in den Mitsubishi, setzte sich zunächst auf die eiskalte Plastiktüte, zog sie aber gleich unter seinem Hintern hervor, legte sie auf den Beifahrersitz, schloss die Türe und begann zu überlegen.

In der Tüte war sicher eine Summe im hohen fünfstelligen Bereich. Das würde seine bald anstehende Rente enorm erhöhen. Und sein Job bei der Loewe in Kronach war ja auch nicht mehr so sicher. Aber hatte er überhaupt eine Chance, damit zu türmen? Er drehte nochmals den Zündschlüssel rum. Beim zweiten Versuch sprang der Motor tatsächlich an. Conny legte den Rückwärtsgang ein. Der Mitsubishi schaffte es einen halben Meter nach hinten, dann drehten die Reifen durch, und er rutschte wieder nach vorne. So ging es ein paarmal. Conny stellte sich vor, wie der Mitsubishi bei jedem Zurückrutschen den toten Nikolaus tiefer in die Schneewehe drückte und dessen Körper zerquetschte. Vor Schreck würgte er den Motor ab. Er versuchte noch ein-, zwei-, dreimal zu starten, dann hatte er die Batterie endgültig leergeorgelt. Er gab es auf. Conny wurde kalt. Weniger, weil sich der Frost inzwischen auch im Auto festgesetzt hatte, sondern eher, weil sich sein Gehirn langsam wieder einschaltete.

Irgendwo da draußen musste einer sein, der den Nikolaus erschossen hatte. Vermutlich ein Komplize. Der wollte das Geld. Warum hatte er es nicht genommen? Weil Conny mit seinem Mitsubishi gekommen war, bevor er zugreifen konnte. Der Mörder war also nicht nur irgendwo da draußen, sondern ganz in der Nähe. Die Zentralverriegelung schnappte zu, als Conny den Knopf drückte. Wenigstens das schaffte die Batterie noch. Doch das war höchstens eine trügerische Sicherheit.

Es schneite immer noch, immer stärker. Die Scheiben waren rundum zu. In der Dunkelheit hätte Conny ohnehin nichts mehr erkennen können. Ob der da draußen ihn hier drin sehen konnte? Wohl nicht. Aber er konnte vermuten, wo Conny saß, die Scheibe einschlagen und ihn zur Herausgabe des Geldes zwingen. Oder einfach schießen. Conny wechselte auf den Beifahrersitz. Die Tüte hatte er nun auf seinem Schoß. Schließlich schob er sie unter den Sitz. Dann klappte er die Lehne zurück und kletterte langsam nach hinten auf die Rückbank. Sein Rücken schmerzte. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber als er es geschafft hatte, war er sich sicher, dass ihn nun keiner mehr erwischen würde, der blindlings durch die Scheibe schoss. Zumindest nicht sofort.

Nichts geschah. Minutenlang. Die Nacht würde noch Stunden dauern. Conny wurde verdammt kalt. Er krabbelte wieder ein Stück nach vorne, holte die Tüte unter dem Sitz hervor. Das Geld konnte ihn natürlich auch nicht wärmen. Er machte das Handschuhfach auf und griff nach dem Nothammer, der darin lag. Das einzige waffenähnliche Gerät im Auto, mit dem er sich vielleicht verteidigen konnte. Aber nur, wenn es ihm gelingen würde, den Mörder zu überraschen. Conny verkroch sich wieder auf der Rückbank. Er lauschte. Alles war still, ganz still. So vergingen weitere Minuten.

Er löste den festen Griff, mit dem er den Hammer umklammerte, und schob die klammen Finger erst unter seine Achseln, dann zwischen seine Beine. Ob er wohl erfrieren würde, wenn er jetzt einfach einschlief? Vielleicht schon. Denn es war unwahrscheinlich, dass ihn vor morgen früh einer fand. Der Wagen musste inzwischen vollkommen eingeschneit sein, die Spuren seiner Schleudertour längst verwischt. Und vom roten toten Nikolaus war sicher auch nichts mehr zu sehen. Da war es noch wahrscheinlicher, dass der Mörder kam … Der würde sicher auch nicht so lange warten, bis er erfroren war, wenn er sich das Geld greifen wollte. Conny überlegte, ob er die Geldtüte rausstellen sollte. Als gut gefüllten Nikolausstiefel sozusagen, als Opfergabe zur Besänftigung des bösen Geistes. Damit der ihn hier drin nicht erschoss, sondern in Ruhe erfrieren ließ. Conny wollte nur noch schlafen. Doch auf einmal glaubte er Geräusche zu hören. War da nicht irgendwo ein Scharren am Auto? Fast klang es, als wäre es darunter. Vielleicht ein Tier, versuchte er sich zu beruhigen. Ein Marder. Oder ein Wildschwein, das den toten Nikolaus entdeckt hatte. Er erschauderte bei dieser Vorstellung. Da war ganz eindeutig was. Dann plötzlich nicht mehr.

Irgendwann hörte Conny nur noch das Pochen in seinen Schläfen. Auch das wurde immer leiser. Dann fielen ihm die Augen zu. Hinter geschlossenen Lidern sah er den finsteren Wald und allüberall auf den Tannenspitzen goldene Lichtlein sitzen. Draußen fiel weiter Schnee.

Als Nächstes blickte Conny in ein grelles Licht. Wenn das nicht der Himmel war, an den er ohnehin nicht glaubte, dann stand ihm jetzt die Hölle bevor. Der Mörder leuchtete ins Fahrzeuginnere. Und im Schein der Taschenlampe, den die Scheibe reflektierte, sah Conny die Pistole in seiner anderen Hand. Ein Adrenalinstoß, wie er ihn nicht einmal bei den härtesten Feuerwehreinsätzen gehabt hatte, durchfuhr Conny. Er schnappte sich den Hammer, zerschlug die Scheibe und griff nach der Pistole. Aber er erwischte sie nicht. Das Licht erlosch. »Hoppala, ned so stürmisch«, hörte er noch einen sagen. Dann sank er auf dem Rücksitz zusammen.

Als er wieder aufwachte, saß er auf der Rückbank eines anderen Autos, neben ihm der Burkhard Wunder aus Nordhalben, und vorne im Wagen ein anderer Polizist in Uniform. »Jetzt sag mal, Conny, was war denn da los?«, wollte der Wunder-Boogie wissen, der mit ihm in die Schule gegangen war und dort einen noch dämlicheren Spitznamen mit auf den Lebensweg bekommen hatte. Er hielt Conny einen Thermosbecher mit dampfendem Tee hin und deutete gleichzeitig auf die Geldtüte, die der andere Polizist mit Handschuhen anfasste und in die Höhe hielt.

Als er nach der Tasse greifen wollte, merkte Conny, dass sie ihm Handfesseln angelegt hatten. Burkhard flößte ihm ein paar Tropfen Tee ein. Langsam wurde Conny wieder lebendig und erzählte vom Nikolaus und dass alles ein Unfall gewesen war. Die beiden schauten ihn ungläubig an. Dann stieg der jüngere Polizist doch aus. Er kam rasch zurück und forderte über Funk sofort Verstärkung an: Kripo, Spurensicherung, Rettungs- und Leichenwagen. Zunächst erschien der Abschleppwagen, den die beiden Polizisten wohl schon vorher gerufen hatten. Der musste erst mal warten, denn es dauerte und dämmerte schließlich schon, als die anderen eintrafen.

Ein Polizist in Zivil saß nun neben Conny, der seine ganze Geschichte noch einmal ganz von vorne erzählen musste. Währenddessen bekam der Abschleppdienst endlich die Order, den Wagen an den Haken zu nehmen, damit die Spurensicherung besser an den Nikolaus herankam. Der Kommissar aus Kronach schaute Conny plötzlich nicht mehr an, sondern blickte mit großen Augen über dessen Schultern hinweg. Der Abschleppwagen zog gerade den Mitsubishi aus dem Wald. Darunter lag Knecht Ruprecht. Er hielt noch eine Pistole in der Hand.