6 · Killen McNeill ·
Von drauß’ vom Walde

»Also, ich wiederhole zur Kontrolle jetzt Ihre Aussage.«

»Bitte.«

»Sie heißen Manfred Muschlein. 46 Jahre alt, Student, mit nicht abgeschlossenen Studiengängen in Literaturwissenschaft, Mittelhochdeutsch, Althochdeutsch, Latein, Hebräisch, Theologie, Physik und Astronomie. Habe ich etwas vergessen?«

»Aramäisch. Nach Hebräisch und vor Theologie. Übrigens klingt in Ihrem Ton da etwas mit, das mir missfällt.«

»Na ja, ich meine, neun Studiengänge, das ist schon …«

»Es will mir halt nicht in den Kopf, wie einer seine fünf Jahre Germanistik herunterstudieren kann und dann denkt, er verstünde sein Fach. Es geht immer noch eine andere Tür auf.«

»Alles klar. Auf jeden Fall ist Ihr Auto ungefähr um 18 Uhr am heutigen Tag, dem 6. Dezember, in der Maternstraße in Bamberg Richtung Dom im Schnee steckengeblieben.«

»Jawohl.«

»Und dann haben Sie gemerkt, dass Sie angeschoben werden.«

»Nicht angeschoben. Ich habe gemerkt, dass jemand auf die hintere Stoßstange gestiegen ist. Wie man es halt bei alten Käfern macht, damit die hinteren Reifen im Schnee besser greifen.«

»Haben Sie gleich bemerkt, dass es ein Nikolaus war?«

»Nicht gleich, aber dann habe ich den Krummstab im Seitenspiegel gesehen. Den hat er so in der Hand gehalten, dass er hinter dem Auto hervorgeschaut hat. 6. Dezember, habe ich mir gedacht, Nikolaus, logisch, kann nicht anders sein.«

»Und somit sind Sie die Maternstraße hochgekommen.«

»Genau. Regelrecht hinaufgesegelt. Ich meine, der hat schon was auf die Waage gebracht, mein lieber Schwan, bestimmt an die 150 Kilo.«

»Niemand kann Ihre Aussage bezeugen. Das muss doch auffallen, wenn ein alter Käfer mit so einem Riesennikolaus hinten drauf die ganze Maternstraße hinauffährt.«

»Es war schon komisch. Kein Mensch war draußen. Die ganze Straße entlang nicht. Auch oben nicht.«

»Und dann war er weg. Der Nikolaus.«

»Der war schon noch da. Bloß nicht mehr auf dem Auto. Der ist hinten runtergefallen. Als wir oben waren. Lag da im Schnee. Zuerst habe ich gedacht, er hat sich was getan. Aber der war nur betrunken. Sturzbesoffen. Lag da im Schnee und schnarchte. Roch nach Glühwein und Jägermeister und was weiß ich alles.«

»Nicht nach Rentieren?«

»Sie verwechseln da etwas. Nikolaus war der Bischof von Myra. Das lag in Lykien, in der jetzigen Türkei, ungefähr zwischen Marmaris und Antalya. Dort gab und gibt es keine Rentiere. Rentiere bringt man eher in Verbindung mit Santa Claus, der sich aus dem niederländischen Sinterklaas entwickelt hat und eine eher dem Kommerz dienende amerikanische Erfindung aus dem 19. Jahrhundert ist.«

»War nur ein Spaß.«

»Ach so.«

»Warum haben Sie nicht die Polizei angerufen?«

»Wie denn?«

»Es gibt Handys.«

»Es gibt auch den New Beetle, aber ich fahre keinen.«

»Der Punkt, den ich nicht verstehe, ist, warum Sie den Nikolaus zu sich ins Auto gehievt haben. Warum haben Sie keine Hilfe aus den umliegenden Häusern geholt?«

»Oben gibt es keine Wohnhäuser. Da war alles dunkel. Außerdem lag er mitten auf der Straße, und ich musste ihn schnell wegbringen. Sonst hätte ihn noch das nächste Auto überfahren. Oder zumindest angefahren. Also habe ich ihn in mein Auto hineinverfrachtet. Das war Schwerstarbeit, kann ich Ihnen sagen. Andere Leute werden für so was mit der Bayerischen Rettungsmedaille von Herrn Seehofer persönlich ausgezeichnet und nicht verhört wie ein Massenmörder.«

»Ist schon recht.«

»Meinen Sie, ich hätte es geschafft, ihm seine Mitra abzunehmen? Nicht ums Verrecken.«

»Was wollten Sie ihm abnehmen?«

»Seine Mitra. Bischofsmütze. Ich musste seinen Kopf so seitlich hineinschieben und dann das Fenster herunterkurbeln, sodass die Mützenspitze hinausragte.«

»Und warum sind Sie mit ihm gerade in die Sankt-Getreu-Straße 147 gefahren?«

»Weil das die nächste Adresse in seinem Goldenen Buch war. Sie wissen schon, das Goldene Buch, das Nikoläuse bei sich haben, mit den Namen der Kinder und ob sie brav waren und so. Tss, tss. Auch wieder so ein blödsinniger neuzeitlicher Brauch. Ich konnte ihm das Buch kaum entreißen, so fest hielt er es umklammert. Da stand die Adresse drin. Da bin ich halt dann hingefahren. Ich habe zwar natürlich nicht angenommen, dass er dort wohnt, aber gedacht, dass die mir vielleicht weiterhelfen können, also den Namen der Agentur sagen oder so was.«

»Waren da noch andere Adressen drin?«

»Nur noch eine. Die war schon durchgestrichen und kaum lesbar, also bin ich davon ausgegangen, dass der Nikolaus schon dort war.«

»Können Sie sich an die erste Adresse erinnern?«

»Nee. Moment, doch, irgendwas mit Gott. Himmelreichstraße.«

»Die Himmelreichstraße ist ganz im Osten Bambergs, draußen beim Berliner Ring. Da kann er kaum so weit gelaufen sein. Also gut, dann sind Sie mit dem betrunkenen Nikolaus in die Sankt-Getreu-Straße 147 gefahren. Und auf dem Weg ist er zu keinem Zeitpunkt zu Bewusstsein gekommen.«

»Nee, geschnarcht hat er wie ein Bär in seiner Höhle. Schade eigentlich. Ich hätte ihn gerne ausgefragt, wenn schon mal ein Nikolaus mitfährt.«

»Worüber?«

»Na, wissen Sie, ich bin evangelisch. Bei uns kommt nicht der Nikolaus, sondern der Pelzmärtel. Pelzemärtel, Pelzermärtel, Pelzamärdl oder Pelzmartin.«

»Ja und?«

»Ob es so ist wie mit dem Club und Bayern München, hätte ich fragen wollen.«

»Ich kann nicht ganz folgen.«

»Ich hätte ihn gerne gefragt, ob er auch den Pelzmärtel spielt, wenn die Leute sich das wünschen, oder ob es da so was wie ein Ethos gibt, ob er sagt, nee, mache ich nicht, kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, einmal Nikolaus, immer Nikolaus. Immer Clubberer oder immer Bayernfan, verstehen Sie?«

»Gut, Sie haben bei Nr. 147 geklingelt. Herr Chruschwitz hat aufgemacht. Können wir die Sache ab da noch mal durchgehen?«

»Der Mann …«

»Herr Chruschwitz.«

»Genau. Der war ganz aufgebracht. Drinnen hat ein Kind getobt, und er war offenbar der Vater. Geschrien, geweint, geplärrt hat das Kind, durchs ganze Haus. Endlich sind Sie da, hat er gesagt, der Julian ist gar nicht mehr zu bändigen, kommen Sie, kommen Sie, hier ist der Sack mit den Geschenken, hier sind Ihre hundert Euro, wo ist Ihr Kostüm?«

»Dieser Punkt interessiert mich jetzt sehr. Was haben Sie da genau gesagt?«

»Was glauben denn Sie, ich bin ein armer Student, ich habe natürlich gesagt, ich hole das Kostüm und bin gleich wieder da.«

»Und die hundert Euro?«

»Sofort eingesteckt. Moment. Sind die noch da? Ja. Gott sei Dank. Wenigstens was.«

»Und dann?«

»Dann bin ich zum Käfer, hab meinen Mantel ausgezogen, ihn auf dem Gehsteig ausgebreitet, habe den Nikolaus vom Beifahrersitz auf den Mantel gekippt, ihm das Nikolausgewand aufgeknöpft, ihn ein bisschen hin- und hergerollt, das Gewand ausgezogen und die Mütze abgenommen, komischerweise ging das auf einmal ganz glatt. Bis auf die Stiefel hab ich seine ganzen Sachen dann selbst angezogen, mir das Goldene Buch und den Krummstab geschnappt, der war vielleicht schwer, dann den Sack auf den Rücken gehievt und bin wieder zurück in die Wohnung. Drei, höchstens vier Minuten.«

»Haben Sie den Nikolaus wieder ins Auto gesetzt?«

»Nee, dazu reichten meine Kräfte nicht mehr. Und die Zeit auch nicht.«

»Also lag er im Schnee. Was hatte er an?«

»Also, meinen Mantel hab ich noch über ihn gebreitet.«

»Und was trug er drunter?«

»Kratziges gelbes Zeug. Ein Unterhemd aus Leinen oder so.«

»Wie lang?«

»Lang genug. Gott sei Dank.«

»Gut. Lassen wir den Nikolaus. Kommen wir zum Knecht Ruprecht. Ich habe nicht ganz begriffen, wann und wie er dazugestoßen ist.«

»Ich auch nicht. Er war auf einmal da.«

»Wann haben Sie ihn das erste Mal bemerkt?«

»Im Haus.«

»Herr Chruschwitz meinte, der war die ganze Zeit da-bei. Vom ersten Moment an, als Sie bei ihm klingelten.«

»Ich habe ihn erst im Haus bemerkt. Ich dachte zuerst, er gehört zur Familie, ein anderes verkleidetes Kind oder so. Hätte gut sein können, gestört waren die eh alle. Die Frau dauernd mit ihrem Ach Julianchen, nee, Julianchen, lass das, Julianchen

»Wollen Sie die Personenbeschreibung von Knecht Ruprecht so lassen? Zwergengestalt, Buckel, bauchlanger schwarzer Bart, buschige schwarze Augenbrauen, Fellmantel, Ledergurt, Rute darin steckend. Und gerochen hat er wie ein ganzer Wald. Wie ein ganzer nasser Wald.«

»Genau. Das muss doch die Sache einfach machen. Oder suchen Sie mehr von der Sorte?«

»Nur diesen einen.«

»Und? Immer noch keine Spur?«

»Nichts.«

»Und von dem Kind?«

»Auch nichts. Die Eltern sind ganz verzweifelt.«

»Hätten s’ dem Balg lieber Manieren beigebracht.«

»Haben Sie selber Kinder?«

»Gott bewahre. Ich habe nicht mal einen Hund oder eine Frau. Keine Zeit.«

»Es ist nicht immer so einfach mit den Kindern, will ich bloß sagen.«

»Haben S’ wohl auch einen rechten Fratz?«

»Kann man so sagen. Nicht direkt bei mir daheim. Bin geschieden. Aber das tut nichts zur Sache. Stimmt Ihre Aussage, dass dieser Knecht Ruprecht kein Wort gesagt hat? Hat er wirklich die ganze Zeit nichts gesagt?«

»Einmal hat er was gesagt, ganz am Anfang. Auf Schwyzerdütsch. Grüezi, hat er gesagt. Hätte eventuell die westliche Variante Grüessech sein können. Eine Stimme hatte der, rostig, wie ewig nichts gesprochen, wie wenn ein Laster voller Kieselsteine umkippt. Das hat er gesagt, dann hat der Ding geantwortet …«

»Herr Chruschwitz.«

»… hat Ich grüße Sie auch geantwortet, und dann hat der Ruprecht natürlich gar nichts mehr gesagt.«

»Wieso natürlich?«

»Weil Grüezi nicht ich grüße Sie heißt, sondern Gott grüße euch. Ab da war der Knecht Ruprecht eingeschnappt. Er hat bloß noch geschaut. Und innerlich gezittert, das habe ich gemerkt, der stand ja neben mir. Das Ganze hat ihn ziemlich mitgenommen. Die Augenbrauen haben richtig gebebt. Ach, das können Sie noch dazuschreiben, zur Personenbeschreibung. Die Augenbrauen waren echt, wie beim Waigel. Kennen Sie den noch? Der uns den Euro eingebrockt hat? Und überhaupt waren alle Haare echt, wollte ich noch sagen. Alle Bärte, auch der vom Nikolaus. So was merkt man.«

»Was hat den Knecht Ruprecht denn so mitgenommen?«

»Wie das Kind sich aufgeführt hat.«

»Wollen Sie Ihrer Aussage hier noch etwas hinzufügen? Alle standen vor dem Adventskranz, das heißt, vor dem, was vom Adventskranz übrig war, der Julian war darauf herumgetrampelt, Kugelsplitter knirschten im Perserteppich, daneben Brand- und Wachsflecken von den Kerzen. Dann schlug die Mutter vor: ›Julianchen, spiel uns doch Alle Jahre wieder auf der Blockflöte vor, das hast du doch für den lieben Nikolaus geübt‹. Julian schrie: ›Scheiß auf den Nikolaus, der Scheißnikolaus soll mir endlich meine Geschenke geben und sich verpissen, und der Scheißandere, der Spasti, auch, der schaut aus wie der Scheißmoritz in meiner Klasse, wo die Lehrerin sagt, wir sollen ihn inklu… und inklu… halt auch lieb haben, aber ich hasse ihn, weil er ein Scheißspasti ist und ganz hässlich.‹ Dann nahm er die Blockflöte, versuchte sie zu zerbrechen, und als das nicht ging, drosch er damit auf seine Mutter, seinen Vater, mich und Knecht Ruprecht ein.«

»Kann man lassen. Genauso war es.«

»Können wir noch mal besprechen, was dann passierte?«

»Das habe ich doch schon tausendmal gesagt. Ging alles ganz schnell. Knecht Ruprecht machte seinen Sack auf, packte Julian und steckte ihn hinein. Dann schnürte er den Sack zu und ging. Immer noch wortlos. Halt, so hat er gesagt. Oder mehr scho

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Die Stille genossen. Irgendwann ist mir der Nikolaus dann wieder eingefallen, und ich bin hinaus, um zu schauen, wie es ihm geht. Nicht, dass er noch erfriert oder so.«

»Und er war weg.«

»Genau. Und mein Mantel auch. Dann bin ich wieder rein. Es war ja kalt. Der Dings …«

»Chruschwitz.«

»Genau, der hat dann die Polizei angerufen, als er gemerkt hat, dass es kein Scherz war. Dass der Knecht Ruprecht seinen Balg nimmer bringt.«

»Sie dürfen ruhig an Ihr Handy gehen.«

»Ich habe doch keins. Schon vergessen? Das muss Ihres sein.«

»Ach so. Upps. Den Klingelton habe ich ja schon ewig nicht mehr gehört. Ich weiß gar nicht mehr, zu wem der gehört. Wo ist es denn überhaupt? Ach, da drüben. Moment bitte.«

»Dumm-dumm-di-di-dumm-dumm. Der Walkürenritt, interessant. Wird eine Frau sein. Vermutlich keine einfache.«

»Halten Sie sich gefälligst da raus. Hallo? Ach, Margareta, klar. Wieso bei mir? Ich hol den Moritz doch erst am Wochenende, wie’s ausgemacht war. Nein, hab ich nicht bestellt. Auch nicht. Nein. Keinen von beiden. Moment, langsam. Was, eine ganze Flasche Jägermeister? Aha, aha. Rühr nichts an. Ich komme gleich.«

»Was schauen Sie mich so an? Kommt man inzwischen schon ins Gefängnis, wenn man zu lange studiert?«

»Mein Sohn ist fort. Seit zwei Stunden. Der Knecht Ruprecht hat ihn mitgenommen.«

»Seit zwei Stunden. Also noch vor dem Julian verschwunden. Aha. Passt.«

»Was heißt hier ›Passt‹?«

»Wo genau wohnt Ihre Exfrau?«

»Teufelsgraben 12.«

»Teufelsgraben. Hab ich doch gesagt. Passt.«

»Himmelreichstraße haben Sie gesagt.«

»Teufelsgraben 12. Genau. Das war die andere Adresse in dem Buch. Passt.«

»Jetzt hören Sie mal auf mit Ihrem ›Passt‹.«

»Wenn’s aber doch passt. Als der Knecht Ruprecht sich umgedreht hat, mit dem Sack auf dem Rücken, da war deutlich zu sehen, dass da nicht nur ein Kind drin war. Passt also. Kann ich jetzt gehen?«